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Kolumne „Der Philosoph“

Die überlegene Debattenkultur des Mittelalters

Wenn heutzutage das Mittelalter erwähnt wird, dann in aller Regel nur, um die völlige Abwegigkeit, Rückständigkeit und Überholtheit einer Position zum Ausdruck zu bringen: „Das ist ja wie im Mittelalter!“ heißt es etwa empört, wenn jemand etwas für wissenschafts- oder freiheitsfeindlich hält. Fest zur Floskelkiste der Gegenwart gehört auch, das Mittelalter mit dem schmähenden Beiwort „finster“ oder „dunkel“ zu versehen. In dieser pauschalen Verunglimpfung eines ganzen Zeitalters drückt sich aber nur die historische Ahnungslosigkeit und maßlose Selbstüberschätzung unserer Gegenwart aus.

Die Hexenverfolgung etwa, die heute routinemäßig mit dem Mittelalter assoziiert wird, fand in ihrer prononciertesten Form nicht im Mittelalter, sondern in der Frühen Neuzeit statt. Aus dieser Epoche stammt übrigens auch die abwertende Benennung „Mittelalter“. Die Annahme, das Mittelalter sei von Aberglauben und Wissensfeindlichkeit geprägt und daher eben „dunkel“ gewesen, erweist sich als geradezu aberwitzig, wenn man bedenkt, dass die Institution der Universität ein Kind des ausgehenden zwölften beziehungsweise des beginnenden 13. Jahrhunderts ist. Von diesem 13. Jahrhundert heißt es beim stets lesenswerten Philosophen Josef Pieper treffend, damals sei trotz aller Umbruchstendenzen „für einen kurzen Augenblick so etwas wie Einklang und ‘klassische Fülle’ erreicht worden“.

Der Schlüssel zur Wahrheitsfindung

Eine besondere, unfreiwillige Ironie der diskursiven Abwertung des Mittelalters besteht darin, dass diese Epoche gerade in Sachen der öffentlichen Debattenkultur unserer Gegenwart um Welten überlegen war. In Talkshows, den sozialen Medien und der Presse werden permanent Phrasen gedroschen und roboterhaft „talking points“ abgespult; Einwänden begegnet man mit Entrüstung, zur Schau gestellter Betroffenheit oder der Dämonisierung des Gegners. Die Bereitschaft, die Position des anderen nachzuvollziehen und sich argumentativ mit seinen Gedanken und Einwänden auseinanderzusetzen, sucht man meist vergeblich.

Ganz anders dagegen zeigte sich das mittelalterliche Streitgespräch, die disputatio. Das Aufeinandertreffen gegensätzlicher Sichtweisen wurde nicht als schädlich oder lästig angesehen, sondern als Schlüssel zur Wahrheitsfindung. Hinter der Disputation stand also der Gedanke, dass sich die Wahrheit vorzüglich im gemeinsamen kommunikativen Akt des Gesprächs offenbart. Ein Gespräch zu führen, bedeutet aber gleichermaßen zu sprechen wie zuzuhören, das heißt, sich innerlich einzulassen auf das, was der andere vorbringt.

Die stählerne Rüstung des bestmöglichen Arguments leihen

Thomas von Aquin (1225–1274), der wohl bedeutendste Theologe und Philosoph des Mittelalters, hat die Kunst, die Kontrahenten ernst zu nehmen und gerade dadurch zur Wahrheit zu finden, bis zur Perfektion getrieben. In seiner Summa Theologiae“, einer beeindruckenden Gesamtschau seines philosophischen und theologischen Denkens, werden insgesamt 512 Fragekomplexe, sogenannte Quaestiones, behandelt.

Bei jeder einzelnen Quaestio gibt Thomas zuerst diverse Auffassungen wieder, die er selbst gar nicht teilt. Dies aber geschieht auf eine derart überzeugende Art und Weise, dass man als unbedarfter Leser meinen könnte, Thomas selbst vertrete diese Ansichten! Wo heute mit Vorliebe Strohmänner und Scheinargumente bekämpft werden, lieh Thomas seinen Gegnern stets die stählerne Rüstung des bestmöglichen Arguments, bevor er sich an ihre Widerlegung machte.

Der Unterschied der mittelalterlichen Streitkunst zum heutigen aufeinander Einreden und aneinander Vorbeireden wird vielleicht nirgends deutlicher als an einer „Spielregel der disputatio legitima“, die vom bereits erwähnten Josef Pieper wie folgt beschrieben wird: „Niemandem war gestattet, auf einen Einwurf des Gesprächspartners unmittelbar zu antworten; vielmehr musste er vorher den gegnerischen Einwand mit eigenen Worten wiederholen und sich ausdrücklich vergewissern, dass der andere genau das gleiche meine.“

Kaum auszumalen, was etwa mit Twitter geschähe, wenn diese einfach zu verstehende, in der Praxis aber nur durch enorme Anstrengungen einzuhaltende Regel wieder gesellschaftliche Geltung erlangen würde.

Für eine Rückkehr zu den mittelalterlichen Gesprächsmaximen

Freilich gab es auch für die Denker des Mittelalters Thesen, die so offensichtlich falsch oder klarerweise moralisch verderblich waren, dass sie einer ernsthaften Auseinandersetzung unwürdig schienen. Bereits Aristoteles, der zur Zeit des Thomas von Aquin gerade wiederentdeckt wurde, hatte diesbezüglich in seiner „Topik“ festgestellt: „Die etwa zweifeln, ob man die Götter ehren und die Eltern lieben soll oder nicht, bedürfen der Züchtigung, und die zweifeln, ob der Schnee weiß ist oder nicht, bedürfen der gesunden Sinne.“

In einer Zeit, in der selbst das gemeinsame Fundament des gesunden Menschenverstandes zu bröckeln scheint, lässt sich dies vielleicht nicht mehr so einfach sagen. Das wiederum macht eine Rückkehr zu den mittelalterlichen Gesprächsmaximen des aufmerksamen Zuhörens und Verstehenwollens nur umso dringlicher.

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