Apologet der abendländischen Stadt

Am 17. Juni 2025 verstarb in Palma de Mallorca im Alter von 79 Jahren der Vater des „Neuen Traditionellen Bauens“: Léon Krier, der visionäre luxemburgische Baumeister, Städteplaner und Architekturtheoretiker. Er hinterlässt nicht nur zahlreiche von ihm entworfene Gebäude und Stadtanlagen, sondern auch ein gewaltiges Erbe urbanistischer und ästhetischer Prinzipien, die er bis zuletzt mit unerschütterlicher Hingabe verteidigt hat. Allen voran den Gedanken an die klassisch geordnete, menschengerechte und lebensnahe Stadt abendländischen Musters als Gegenmodell zur modernistischen, pseudo-funktionalen und mechanisierten Dystopie, zu der unser städtischer Lebensraum weitgehend verkommen ist.
Dass ich Léon Krier kennengelernt, mich regelmäßig mit ihm ausgetauscht und einen seiner Aufsätze veröffentlicht haben durfte, werde ich stets in dankbarer Erinnerung halten. Er war nicht nur einer der ganz Großen seines Zeitalters und eine entscheidende Kraft hinter der ästhetischen Wetterscheide, an deren Rand wir uns befinden, sondern auch ein liebenswürdiger, einfacher und unglaublich energischer Mensch.
Das lange Interview, das er mir einmal gab, und ein höchst anregender architektonischer Spaziergang, den wir gemeinsam durch Warschau unternommen haben, werde ich nie vergessen, ebenso wenig wie seine große Ehrlichkeit, seinen Mut und sein idealistisches Europäertum, das seiner gleichmäßigen Vertrautheit mit dem französischen und dem deutschen Kulturraum entsprang.
Geboren am 7. April 1946 in Luxemburg als jüngerer Bruder des Architekten Rob Krier, wuchs Léon Krier in einer Schneiderfamilie auf und erhielt eine handwerklich geprägte Ausbildung. Nach nur einem Jahr Architekturstudium an der Universität Stuttgart brach er es ab – er hatte verstanden, dass traditionelle Lehren modernistischen Dogmen gewichen waren und es keinen Sinn mehr habe, auf diesem Pfad weiterzuarbeiten.
Ein entschiedener Kritiker der modernistischen räumlichen Trennung
Bis zuletzt musste Krier seine eigenen Entwürfe von diversen Kollegen gegenzeichnen lassen, um die Erlaubnis für ihre Verwirklichung zu erlangen. Doch dieser Verzicht auf eine einengende berufliche Einordnung bot ihm zahlreiche Möglichkeiten zur Verwirklichung eigener Träume und Ziele. So arbeitete Krier zuerst in London und Berlin bei renommierten Architekten wie James Stirling und Josef Paul Kleihues und stieg bald zum gefragten Lehrautor an der Architectural Association und dem Royal College of Art in London auf.

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Seine Lehr- und Publikationskarriere machte ihn rasch zum einflussreichsten Vertreter neoklassizistischer Architektur in Europa – und somit zu einer überaus umstrittenen Figur, war er doch einer der wenigen, der nach der weitgehenden Ächtung traditionalistischer und klassizistischer Architektur seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs weiterhin an den alten Idealen festhielt und sie in die Moderne zu transponieren versuchte.
Krier war ein entschiedener Kritiker der modernistischen räumlichen Trennung von „Funktionen“ wie Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit. Er propagierte stattdessen architektonische und städtebauliche Strukturen, die diese Bereiche ineinander integrieren und die gewachsene europäische Stadt zum Vorbild nehmen sollten. Seine Städtebauvision basierte daher auf klaren und altbewährten Kriterien: überschaubare Quartiere, drei- bis fünfgeschossige Bebauung, traditionelle Baumaterialien, klassische und an menschlichen Proportionen ausgerichtete Ästhetik, verankert im jeweiligen kulturhistorischen Kontext und Fußgängerfreundlichkeit.
Das traditionalistische Gegenmodell zog das Interesse Prinz Charles’ auf sich
Dabei war es nicht zuletzt dank seiner eingängigen Slogans, seiner streitbaren publizistischen Schriften und seiner ebenso witzigen wie provokativen architekturtheoretischen Skizzen, dass er sich einen Namen machte und auch die Aufmerksamkeit des damaligen Prinzen Charles auf sich zog, der sehr an traditionalistischen Gegenmodellen zur Moderne interessiert war und immer noch ist.
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Prinz Charles beauftragte Krier seit 1988 mit der Errichtung der Modellstadt Poundbury in der Grafschaft Dorset, einer Stadt mit heute 4.500 Einwohnern, die alle von Krier entwickelten Konzepte in die Realität umsetzte und zuerst von ihren Feinden als künstliches, anachronistisches und lebensfeindliches Projekt gescholten wurde, dann aber zu einem stetig wachsenden städtebaulichen (und wirtschaftlichen) Erfolg wurde und heute als absolutes Vorbild humanistischen Städtebaus gilt.

Ähnlichen Kriterien verpflichtet, dabei immer wieder an die jeweilige ästhetische und funktionale Realität angepasst, sind die „Cité judiciaire“ in Luxemburg, gestaltet zusammen mit Léons Bruder Rob und baulich realisiert in den 1990er Jahren, die Städte „Paseo Cayalá“ in Guatemala und „Herencia de Allende“ in Mexiko sowie die Quartiere „El Socorro“ und „Nogales“ in Guatemala City; dazu kommen zahlreiche weitere Einzelprojekte und Anlagen in verschiedensten Ländern Europas und Amerikas.
Krier erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie den „Berliner Architekturpreis“ (1977), die „Jefferson Memorial Gold Medal“ (1985), den „Chicago American Institute of Architects Award“ (1987), den „Europäischen Kulturpreis“ (1995), die Silbermedaille der Académie Française für sein Buch „Choice or Fate“ (1997), den „Driehaus-Architektur-Preis für klassische Architektur“ (2003) und schließlich den Rang eines „Commander“ des „Royal Victorian Order“ (2017), blieb aber bis zuletzt ein Außenseiter im „Milieu“ der modernen Architekten, ein mutiger, aber auch einsamer Gigant, der gegen alle Widrigkeiten seine eigene Schule schaffen musste, damit seine Vision Bestand haben konnte.
Architektur hat einen humanistischen und kulturellen Auftrag
Léon Kriers Tod markiert daher auch nicht etwa das Ende einer Epoche, sondern vielmehr den Anfang eines neuen Zeitalters. Die Ära des kämpferischen und apologetischen Neoklassizismus, der Architektur nicht als ästhetisierendes Luxusgut oder rein funktionalen Mechanismus versteht, sondern als humanistischen und kulturellen Auftrag, ist weitgehend abgeschlossen, da die Werke Kriers und seiner Kollegen dank ihrer zähen Arbeit endlich jenen Erfolg erreicht haben, der den Traditionalismus von der unverdienten Ächtung der Geschichte befreit und erneut als einzig wirklich lebens- und liebenswerte Architekturphilosophie retabliert hat.

Nun wird es in einem zweiten Schritt darum gehen, diese Öffnung für eine breiträumige Umgestaltung des europäischen urbanen Lebensraums zu nutzen, und zwar nicht nur durch selektive Rekonstruktion verschwundener Bauten wie in Berlin, Frankfurt, Dresden oder Warschau, sondern auch durch den Mut zur umfassenden Nutzung des klassischen Idioms für Neubauten. Und dieser Kampf ist kein Randphänomen, sondern wird eine zentrale Bedeutung für die Zukunft unserer Zivilisation besitzen, wie Léon Krier es selbst einmal schrieb:
„In der Tat sind Demokratie und offene Gesellschaft bekanntlich anfällig für Subversion und Korruption. Nach der Marginalisierung und Aufhebung traditioneller architektonischer, künstlerischer und städtebaulicher Kulturen sind nun die verfassungsmäßig garantierten Bürgerrechte an der Reihe, von Parlamenten und nicht gewählten bevollmächtigten Notstandskommissionen außer Kraft gesetzt und aufgehoben zu werden. Der kollektive Marsch in einen hässlichen, totalitären Kontrollstaat scheint vorerst unaufhaltsam. Die Diktatur der ‘Experten’, die Architektur, Urbanismus und das, was von handwerklicher Produktion und gemischter lokaler Ökonomie übriggeblieben ist, zerstören nun unter dem Deckmantel von Kriegen gegen den Terror, Covid-19 und Klimawandel die Restbestände von Demokratie und Gemeinwohl weltweit. Eine globale Kapitalismus- und Sozialismuskritik ohne ein globales politisches, ökonomisches, technisches, kulturelles Gegenprojekt läuft auf eine bloße Ohnmachtserklärung, eine Unterwerfung unter das Schicksal hinaus.
Das Neue Traditionelle Bauen, die Architektur und der Urbanismus, basierend auf einer handwerklichen Ökonomie, gestützt auf eine tausendjährige Erfahrung, sind die einzige kohärente Theorie und Praxis der Umweltaktion heute. Sie sind das einzige ernsthafte Gegenmodell zu Suburbia und Motopia. Sie sind ein wesentlicher Teil eines Wiederaufbauprojekts einer Demokratie, Wirtschaft und gebauten Umwelt in menschlichem Maßstab. Die vielen Architekten und Handwerker, die sie auf der ganzen Welt trotz ihrer modernistischen Architekturausbildung, gegen überwältigenden Gruppendruck, gegen bürokratische und akademische Sabotage praktizieren, werden von breiter öffentlicher Unterstützung und Marktnachfrage getragen. Architekten und Planer stehen vor der existentiellen Wahl, entweder einer totalitären robotisierten industriellen Dystopie zu dienen oder das Gemeinwohl zu planen und zu bauen.“ (Léon Krier, „Schönheit“, in: David Engels (Hg.), „Europa Aeterna. Unsere Wurzeln, unsere Zukunft“)
Kommentare
Selten einen so gelungenen Text gelesen. Vielen Dank!
Annette Ahme, Berlin