Direkt zum Inhalt
Kolumne „Ein bisschen besser“

Wie wir über das Land der Rentner denken

Es hat vor etwa drei Jahren angefangen. Wir saßen in bequemer Runde auf der Terrasse vor unserem verfallenen Palazzo an der oberitalienischen Seenplatte, als einer sagte, den ich schon seit Jahrzehnten kenne, dies sei sein letzter Urlaub. Weil: Er ginge in den Ruhestand und habe dann immer frei. 

Etwas früher als normal, zugegeben, aber was ist schon normal. 30 Jahre habe er als Lehrer geschafft und jetzt reiche es, inhaltlich wie finanziell vermutlich. Für mich war eine Welt zwischen mir und dem Ruhestand, und für Judith, meine Frau, eher zwei Welten, weil sie im Grunde ihres Herzens wenig älter als 24 ist.

Zuletzt ist es dann gestern passiert: Ein alter Bekannter aus Bankenkreisen, den ich lange nicht traf, sagte mit sonorer Stimme, er habe eine Entscheidung getroffen. Er habe gekündigt, ein Wohnmobil erworben, die Kinder seien aus dem Haus, und nun gondele er mit seiner Frau, die er sehr liebe, monatsweise durch Europa. Kroatische Adria stehe ab morgen an, vielleicht ein Abstecher nach Albanien, durchs wilde Land der Skipetaren, noch ganz unverbraucht, davon höre man ja derzeit viel. Sie wollten nirgends länger als zwei Tage bleiben. „Der Weg ist das Ziel.“

Was wir auf unsere Reise mitnehmen würden

Judith und ich beginnen darüber nachzudenken, ob wir nicht auch eine Entscheidung treffen müssten. Ob wir in diesem Land der Rentner weiter eine Ausnahme bleiben wollen. „Wenn, dann nicht ohne meinen Kamerakoffer“, sagt sie. Sie hat in Wahrheit mehrere davon, und ich habe sie alle schon in jeder Lebenslage geschleppt, nachts ins Hotel, frühmorgens aus dem Keller, in winzige Aufzüge, wo ich dann keinen Platz hatte, um Luft zu holen. 

› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge

„Und ich“, sage ich, „würde meinen Laptop mitnehmen.“ Den, wo ich das B immer doller drücken muss, weil es sonst nicht kommt. Den, den ich auf dem Schoß hatte, als wir mit Blaulicht am Ende einer Kolonne von Very Important Persons durch den Feierabendverkehr in Rom gerast sind. Mit dem ich ein Interview aufzeichnete, als ich im „Drive In“ einen Coronatest mit tiefsten Nasenpopeln absolvierte.

Wir verschieben die Ausruhphase

Es wäre auf jeden Fall ein bisschen besser, den mitzunehmen. „Mama“, kräht das Töchterchen und orientiert uns darüber, was sie gerade nicht will und was sie dafür jetzt dringend sofort wolle. Sie müssten wir auch mitnehmen in den Ruhestand, wird mir klar und stelle, wie sie es will, die Musik lauter.

Ich treffe deswegen eine vernünftige Entscheidung und schlage vor, die Ausruhphase auf die Zeit nach dem Ende unseres irdischen Daseins zu verschieben. Damit hätten wir das Thema dann auch vom Tisch. Ich klappe den Laptop zu. „Einverstanden“, sagt Judith und legt die Kamera zu Seite. Wir ziehen uns dann für ein Nickerchen zurück. Nur kurz.

› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?

3
4

2
Kommentare

Kommentare