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Interview mit Jan Fleischhauer

„Die Linke sitzt im Mauseloch, deshalb ist diese Bewegung auch so fertig“

Wenn Fernsehredaktionen Jan Fleischhauer einladen, dann tun sie das, weil sie einen Gast in ihrer Gesprächsrunde haben wollen, der gegen die sonst meist linksgebürstete Runde argumentiert. Und das tut der Wahl-Bayer mit Leidenschaft.

Fleischhauer gehört zu einer besonderen Gattung von Journalisten. Seit 2011 ist er Kolumnist, worüber der Humorist, Schriftsteller und Kolumnist Lewis Grizzard einmal sagte, ihr Geheimnis liege darin, sich an viele Dinge zu erinnern, die nie passiert sind. Fleischhauers Kolumne „Der schwarze Kanal“, der Titel ist eine ironische Reminiszenz an die gleichnamige DDR-Hetzsendung sowie die Farbe der Konservativen in der Politik, erschien seit 2011 im Spiegel, seit 2019 im Focus.

In seiner letzten Kolumne des linken Hamburger Magazins konstatierte Fleischhauer, wer als Kolumnist von seinen Kollegen geliebt werden wolle, habe den Beruf verfehlt. „Entscheidend ist nicht, ob man gemocht, sondern ob man gelesen wird.“ Ob die Zahl derer größer ist, die ihn mögen, oder jener, die ihn lesen, ist nicht zu ermitteln.

Es wäre ohnehin egal. Wichtiger ist, was Fleischhauer zu sagen hat. Denn abseits seiner bissig-ironischen Kolumnen hat der fünffache Familienvater mehrere Bücher veröffentlicht, darunter einen Bestseller und einen Scheidungsratgeber, und hat so einiges zu erzählen über Politiker, Familie und Deutschland. Zwischen Handwerkerterminen, Live-Schalten mit WeltTV und dem Fertigstellen seines samstäglichen Newsletters empfängt Fleischhauer in seinem Haus in Pullach, südlich von München, zum Interview.

Herr Fleischhauer, seit zwei Jahren tragen Sie einen Bart. Was hat es damit auf sich?

Ich kam aus dem Urlaub zurück mit Bart und hab ihn stehen lassen. Außerdem hat er den Riesenvorteil, dass er fernsehgeeignet ist. Er macht das Gesicht fürs Fernsehen markanter.

Wie waren die Reaktionen?

Die weiblichen Zuschauer fanden es gut, die männlichen nicht so.

Seit 2019 leben Sie in Pullach. Sind Sie ein „Isar-Preiß“ oder schon ein echter Bayer?

Ein echter Bayer kann man als Zuzügler nicht werden. Ich bin ein klassischer Migrant und neige wie viele Migranten der ersten Generation zur Überidentifikation mit der neuen Heimat.

Folgte der Umzug einer politischen Logik: Weg vom roten Hamburg rein ins schwarze Oberbayern, weg vom Spiegel hin zum Focus?

Nein, überhaupt nicht. Der Wechsel vom Spiegel zu Burda kam deutlich später, als ich schon längst in Bayern war. Der Grund war meine Frau, die Bayerin ist. Als dann das erste Kind kam, wurde verlangt, dass der Vater sich in der Nähe des Kindes aufhält.

„Mit Humor kommt man besser durchs Leben“

Haben Sie sich in den vergangenen Jahren radikalisiert?

Das müssen meine Leser entscheiden. Ich finde nicht. Ich versuche mir trotz des Wahnsinns um uns herum eine gewisse Heiterkeit zu bewahren.

Ist diese Heiterkeit nicht eher Galgenhumor angesichts der Lage in Deutschland?

Manchmal bleibt einem ja nichts mehr anderes übrig, als auf die Umstände mit Humor zu reagieren. Man kommt auch insgesamt mit Humor besser durchs Leben. Und manchmal hilft es, herauszutreten aus dem eigenen Lande. Es gibt viel zu beklagen in Deutschland, aber wenn man sich in der Welt so umguckt …

Woran denken Sie da? 

Es gibt Regionen, in denen es deutlich schlechter aussieht. Nach wie vor wollen ziemlich viele Menschen in Deutschland leben.

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Es gibt auch welche, die wegwollen.

Ja, es gibt auch diesen Trend – und der verstärkt sich. Darauf müssen wir achten. Mehr und mehr Menschen haben das Gefühl, hier geht nichts mehr, gerade wenn man ein bisschen was erreichen will.

In einem Interview sagten Sie einmal, seit 2005 hätten Sie FDP gewählt. Die FDP ist jetzt doch tot, oder?

Ich glaube, ich war der einzige Spiegel-Redakteur nach Rudolf Augstein, der öffentlich bekannt hat, die FDP gewählt zu haben. Das war für mein Image dort nicht förderlich. Bis dahin galt ich als exzentrisch, ab da an als verrückt. Bei Wahlen lautet die Frage ja immer: Wo sind die Abstoßungskräfte am geringsten. Das war bei mir bei der FDP der Fall.

Seit 35 Jahren beobachten Sie Politiker und Parteien professionell. Wie hält man das aus?

Na ja, ganz gut.

Klingt nicht überzeugend.

Doch, ich habe noch immer große Freude an meinem Beruf. Auch wenn es manchmal Überwindung kostet, denn zum Los und Schicksal des Kolumnisten gehört es, dass es keine Pausen gibt. Seit 2011 fiel noch keine Kolumne aus. Fragen Sie mal meine Frau, wie das war, als bei ihr die Wehen einsetzten, und ich sie fragte, ob sie nicht noch 20 Minuten warten könne, weil ich gerade am letzten Absatz sei. Wir sind dann mit etwas Verspätung ins Krankenhaus gefahren. Eine halbe Stunde später war das Kind da. Das wird mir zuhause heute noch vorgehalten. 

„Das linke Milieu von heute ist ja so wahnsinnig vorhersehbar und langweilig“

Gibt es einen journalistischen Herdentrieb?

Ja, klar. Davon profitiere ich. Wenn alle in die eine Richtung laufen, dann denke ich mir: Schauen wir mal, vielleicht könnte man ja auch in die andere Richtung gehen.

Aber das geht dann nie so weit wie etwa bei Ihrem früheren Kollegen Matthias Matussek oder dem Chefredakteur der Weltwoche, Roger Köppel. Dessen Magazin zeichnet sich dadurch aus, gegen den Strom zu schwimmen.

Da muss man aufpassen. Wenn man aus Prinzip immer die andere Seite vertritt, führt das ins Unglück. Dann ist man nicht mehr Herr seiner Texte, sondern reagiert nur noch auf das, was die anderen einem vorgeben. Aber ein gewisser Sponti-Geist ist in mir immer noch lebendig.

Den gab es mal bei den Linken.

Das linke Milieu von heute ist ja so wahnsinnig vorhersehbar und langweilig. Es gibt nichts Grauenhafteres als Abendgesellschaften, wo sich alle einig darüber sind, wie die Dinge zu bewerten sind und man sich gegenseitig auf die Schulter klopft, wie unkonventionell man doch denke.

„Das Land ist wahnsinnig runtergerockt“

Als Sie angefangen haben mit dem Journalismus, war Helmut Kohl Kanzler. Sie haben einige Kanzler, Minister, Staatssekretäre miterlebt. Ist das Personal schlechter geworden oder sind die Zeiten heute so hart, dass ihnen keiner gewachsen sein kann?

Die Zeiten, in denen Helmut Schmidt Kanzler war, waren doch nicht einfacher als die Zeiten heute. Der hatte auch mit einer Weltwirtschaftskrise zu kämpfen. Er hatte eine SPD gegen sich, die ihn über die Frage der Nachrüstung verraten und verlassen hatte. Die Eliten des Staates waren von der RAF bedroht, ständig wurden Banker und Industrielle umgebracht. Also, das war keine einfache Zeit. Und trotzdem hat Schmidt bis zum bitteren Ende den Kopf oben gehalten.

Ich frage das deshalb, weil es in meiner Südtiroler Heimat bis in die 2010er Jahre so war, dass man nach Deutschland blickte als vorbildliches Land, während in Rom beständiges Chaos herrschte. Heute blickt man nach Norden und schüttelt den Kopf.

Das Land ist wahnsinnig runtergerockt. Im Nachhinein zeigt sich, dass Angela Merkel der schlechteste Kanzler war, den Deutschland je hatte. Sie hat komplett von der Substanz gelebt. Bei einem so reichen Land wie Deutschland können Sie relativ lange von dem leben, was andere vorher aufgebaut haben, ohne dass sich Verfallserscheinungen zeigen. Für 16 Jahre reicht es. Aber dann fängt es überall an zu bröseln.

Einer, der gern Kanzler geworden wäre, ist Robert Habeck. Und auch Annalena Baerbock wäre sicher gern noch länger auf dem Siegertreppchen der Politik geblieben. Jetzt haben sie beide Deutschland verlassen.

(lacht) Also von mir kein böses Wort über Robert Habeck oder Annalena Baerbock. Ich verdanke ihnen einige meiner schönsten Kolumnen. Die Grünen sind sowieso ein verlässlicher Lieferant erstklassigen Kolumnenmaterials. Was wäre der „Schwarze Kanal“ ohne Claudia Roth, ohne Jürgen Trittin oder Renate Künast gewesen? Jetzt brechen harte Wochen für mich an.

Jetzt haben Sie Paula Piechotta als Lieferantin, eine Bundestagsabgeordnete aus Gera.

Ja, die Vorsehung hat mir – ich betone: Dr. – Paula Piechotta hereingespült. Aber es ist ein Problem, wenn jemand bei seinem ersten großen Stern-Interview nicht nur alle Antworten streicht, die ihm nicht passen, sondern die Fragen gleich mit. Ich habe lieber Leute als Politiker, die Antworten geben, aus denen sich Honig saugen lässt.

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Man könnte meinen, nach so vielen Jahren linker Politiker hätten die Deutschen die Schnauze voll davon. Stattdessen kommt Heidi Reichinnek und treibt die Umfragewerte der Linkspartei ziemlich steil nach oben.

Frau Reichinnek zeigt, wie weit man kommen kann, wenn man seine Themen mit einer gewissen Freude an der Provokation vertritt. Sie ist für eine Politikerin relativ angstfrei. Sie sitzt in der Talkshow und zieht ihre Nummer durch.

Sie sagen das so, als seien die Positionen der Linkspartei ganz normal.

Wenn man Enteignungs- und Erschießungsfantasien für normal hält. Was die Linken allerdings nie begreifen werden: Noch bevor die ein Enteignungs- oder Erschießungsgesetz auf den Weg gebracht haben, sind die wirklich Reichen längst außer Landes.

„Auf der Linken ist kaum jemand zum Debattieren in der Lage“

Am Mittwoch vergangener Woche ist Charlie Kirk auf offener Bühne erschossen worden. Als Hauptverdächtiger gilt ein junger Mann, der die Positionen des konservativen Aktivisten und Volksintellektuellen als „Hass“ bezeichnet hat. Glauben Sie, auch in Deutschland könnte es so weit kommen, dass sich die Lager so sehr verhärten und bekämpfen wie in den USA?

Wir haben doch auch bei uns schon politische Morde gehabt. Denken Sie an Walter Lübcke, der auf seiner Veranda erschossen wurde. Oder an Wolfgang Schäuble, den ein Verrückter mit Messerstichen in den Rollstuhl gebracht hat. Oder an Oskar Lafontaine, der ebenfalls nur knapp einen Anschlag überlebte. Ich halte die ganzen Erklärungen, dass gewalttätige Worte am Ende auch Gewalttaten zur Folge haben, für Quatsch.

Was ist Ihre Erklärung?

Charlie Kirk hat gezeigt, warum die MAGA-Bewegung so groß geworden ist. Der hat ja nicht nur zu den ohnehin Konvertierten gepredigt, sondern er ging an diese ganzen knalllinken Universitäten, saß da teils stundenlang am Mikrofon, wo jeder hinkommen konnte, um mit ihm zu debattieren.

Was ist daran anders oder besser als bei den Linken?

Auf der Linken ist ja kaum jemand noch dazu in der Lage. Dort haben wir Vertreter wie Carolin Emcke, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, die bei einem vielbeklatschten Auftritt auf der „Republica“ ihr Publikum dazu ermahnt hat, ja nicht mit der anderen Seite zu reden. Man dürfe den Rechten keine Bühne bieten, wie das so schön heißt. Wenn man allerdings nur noch mit Menschen spricht, die der gleichen Meinung sind wie man selbst, ist man total von den Socken, wenn man dann auf Argumente trifft, auf die man nicht gefasst war. Das ist die Stärke der politischen Rechten. Die AfD-Leute verstecken sich nicht, die gehen keinem Streit aus dem Weg. Die Linke hingegen sitzt im Mauseloch, deshalb ist diese Bewegung auch so fertig.

„Den Sponti-Flügel gibt es nich mehr. Das macht die Linke heute so schrecklich eintönig und steril“

Herr Fleischhauer, Sie stammen aus einem sozialdemokratischen Elternhaus. Sie sagen, dort ging es dogmatisch zu, was bei Ihnen zu einer Abwehrhaltung geführt hätte.

Nee, nee, nee, das steht bei Wikipedia. Und das ist der einzige Satz dort, der nicht stimmt.

Wie war es wirklich?

Meine Mutter war nicht dogmatisch, meine Mutter war gläubig.

Sie war eine gottgläubige Sozialdemokratin?

Nein, sie glaubte an die Sozialdemokratie als die Kraft des Guten. Das war die Kraft, die Deutschland zu einem helleren, friedlicheren, besseren Platz machen würde. Der Heiland war der Willy. Der Teufel, das waren die Schwarzen, wie die Christdemokraten bei uns hießen. Das war eine sehr manichäische Weltsicht. Deswegen hatten wir auch diese ganzen Speiseverbote, die man so ähnlich aus der Religion kennt: also in meinem Fall keine Cola, kein McDonald’s, keine Orangen aus den falschen Anbaugebieten. Ich habe meinen Eltern nichts vorzuwerfen. Ich habe eine vernünftige Schulbildung genossen, wuchs mit Büchern und klassischer Musik auf. Wenn im Radio Smetanas „Moldau“ erklang, sagte meine Mutter: „Jan, das ist Sonntagsnachmittagsmusik, so was hören wir nicht.“ Bei uns gab es nur Mozart, Beethoven und Brahms. Also klassisch bildungsbürgerlich, aber eben links.

Wurden Sie trotz oder wegen dieser Bildung liberal-konservativ?

Das war anders. Das linke Elternhaus hat sich dann ja fortgesetzt. In der Schule waren alle links. An der Uni waren alle links. Beim Spiegel waren alle links. Irgendwann wurde mir das zu langweilig. Außerdem hat sich die Linke ja auch verändert. Es gab immer die K-Gruppen, diese Supermarxisten, die furchtbar dogmatisch, aber eben auch nie besonders erfolgreich waren. 

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Daneben gab es aber auch immer den Sponti-Flügel. In dieser eher anarchischen Tradition sehe ich mich. Das verbindet mich übrigens mit einem wie Ulf Poschardt. Diesen Flügel gibt es nicht mehr, das ist aus meiner Sicht das große Problem der linken Lebenswelt. Das macht sie heute so schrecklich eintönig und steril.

„Die Liebe der Eltern gibt den Kindern das nötige Selbstbewusstsein“

Sie sind Vater von fünf Kindern. Was raten Sie jungen Eltern heute? Wie bereitet man sie angesichts der rasanten Umbrüche auf die Welt vor?

Das Erste und Wichtigste ist, dass man sich an seinen Kindern erfreut und ihnen mit Liebe begegnet. Das Entscheidende für die Kinder in den ersten Lebensjahren ist, wenn sie merken, dass sie geliebt werden. Und zwar bedingungslos. Das gibt ihnen das nötige Selbstbewusstsein und die nötige Stärke, um in dieser Welt durchzukommen. Dann gehört es zum Elternsein dazu, Grenzen zu setzen. Man darf sich nicht von den Kindern kujonieren lassen. Es gibt bestimmte Regeln und Rituale, und die müssen eingehalten werden.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich bin ja bei uns derjenige, der einkauft und kocht. Und da erwarte ich von den Kindern, dass sie am Tisch sitzen, wenn das Essen aufgetragen wird, und nicht herumtrödeln. Überhaupt ist es wichtig, dass es eine gemeinsame Mahlzeit am Tag gibt.

Was ist mit Smartphones?

Die haben am Esstisch nichts verloren. Wir haben den Kindern jetzt auch die iPads abgenommen.

„Das ist der Fluch des Feminismus“

Nur ein Prozent der Familien in Deutschland hat fünf oder mehr Kinder. Sie befinden sich damit ziemlich an der Spitze. Warum ist das so eine Ausnahme?

Ich konnte nie Nein sagen. Fairerweise muss ich zugeben, dass ich ein bisschen gemogelt habe und die fünf Kinder auf zwei Frauen verteilt habe. Meine neue Frau hätte aber gern noch ein viertes Kind.

Das ist löblich und ungewöhnlich. Heute sind es ja oft die Frauen, die Nein sagen. Und sie entscheiden letztlich, ob wir Kinder kriegen oder nicht.

Einer der wichtigsten Gründe ist, dass wir zu spät anfangen. Das ist, wenn Sie so wollen, der Fluch des Feminismus, dass wir Kerle uns immer später binden. Im Gegensatz zu den Frauen können wir das Kinderkriegen hinauszögern. Wenn ein Paar aber erst damit anfängt, wenn die Frau deutlich über 30 ist, dann kommen eben maximal zwei Kinder dabei heraus.

Dazu nimmt die Bindungskraft der Kirche ab. Es fehlt also eine gewisse Selbstverständlichkeit des Lebensmodells, wonach Kinder dazugehören. Wenn Sie in einer Welt aufwachsen, in der es viele Kinder gibt, dann gibt es ein Urvertrauen nach dem Motto: Das kriegen wir hin. Das wird nicht groß hinterfragt. Wenn Kinderkriegen zur Ausnahme wird, dann macht man sich plötzlich Gedanken: „Wie soll ich das bloß schaffen?“

Zur Person Jan Fleischhauer

Jan Fleischhauer, 1962 in Osnabrück geboren, zählt zu den bekanntesten Journalisten des Landes. Von 1989 an war er 20 Jahre lang für den Spiegel tätig, ehe er 2019 zum Focus wechselte. Seine Kolumne „Der schwarze Kanal“ erscheint seit 2011. Fleischhauer stammt aus einem sozialdemokratischen Elternhaus. 2009 erschien sein Buch „Unter Linken“, in dem er schildert, wie er zum Liberal-Konservativen wurde. Das Werk war das meistverkaufte Sachbuch des Jahres. 2011 scheiterte seine erste Ehe, aus der zwei Kinder hervorgingen; über die Zeit danach schrieb er das Buch „Alles ist besser als noch ein Tag mit dir“. Inzwischen lebt Fleischhauer gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau und drei gemeinsamen Kindern in Pullach im Isartal südlich von München. Er ist regelmäßiger TV-Gast und wirkt in mehreren Podcasts mit.

An Sorgen und Ängsten liegt der Kindermangel nicht?

Die Leute hängen zu viel im Internet rum und haben dann das Gefühl, sie packten das Elternsein nicht, weil es ja angeblich so wahnsinnig schwierig ist, Kinder zu erziehen. Aber das ist keine ausreichende Erklärung, das betrifft nur eine gewisse Bildungsschicht. Die Lidl-Verkäuferin wird nicht ständig Erziehungstipps im Internet nachschlagen und darüber sinnieren, ob sie eher nach dem dänischen oder dem norwegischen Erziehungsmodell vorgehen soll, dazu hat sie gar nicht die Zeit.

Sie glauben also, die Angst vor dem Klimawandel, Kriegen und Rezension spielt keine Rolle?

Das ist nachträgliche Rationalisierung. Jeder hat ständig vor irgendetwas Angst. Während der Corona-Zeit gab es interessanterweise sogar einen kleinen Anstieg der Geburtenraten, und das, obwohl draußen angeblich Millionen Menschen dem Tode geweiht waren. Auch in Kriegszeiten hören die Leute nicht auf, Kinder in die Welt zu setzen. Wenn heute jemand gefragt wird, warum er so spät Kinder bekommen hat, dann wird er kaum sagen: Weil ich immer auf Tinder war und mich zu spät ernsthaft gebunden habe. Also kommt man mit den schwierigen Zeiten, dem Klimawandel oder der Angst vor der Bombe.

„Der größte Fehler, den man machen kann, ist den Partner als Projekt zu betrachten“

Könnte der Grund nicht auch darin liegen, dass es heute weniger stabile Beziehungen gibt?

Nein. Das ist eine der guten Nachrichten: Es gibt nach wie vor ein großes Bedürfnis nach einer stabilen Beziehung. Wenn Sie 18- oder 19-Jährige fragen, was ihr Ziel im Leben sei, dann sagen die nicht „Patchwork“, sondern sie wollen jemanden finden, mit dem sie eine Familie gründen und glücklich sein können. Und das wird auch auf lange Sicht so bleiben.

Es gibt heute unter jungen Erwachsenen mehr Singles.

Der gesellschaftliche Druck nach einer Legalisierung einer Beziehung ist erkennbar gesunken. Hinzu kommt das Gefühl, ich könnte ja doch noch mal an diesem und jenem Blütenkelch nippen. Als Mann können Sie problemlos bis 45 rummachen, bevor sie sich dann auf eine dauerhafte Partnerschaft einlassen. Für Frauen gilt das nicht, jedenfalls dann nicht, wenn sie Kinder bekommen wollen, da ist mit 45 der Schalter dicht.

Sie haben einen Ratgeber über Scheidungen geschrieben. Welche Tipps haben Sie aber für eine gelingende Beziehung?

Ich weiß nicht, ob ich da jetzt wirklich der Richtige bin. Wobei, mit meiner zweiten Frau bin ich nun auch schon wieder 14 Jahre zusammen. Der größte Fehler, den man machen kann, ist, den Partner als Projekt zu betrachten. Dazu neigen vor allem Frauen. Die sind dann ganz enttäuscht, wenn ihre Besserungsbemühungen ins Leere laufen, weil der andere nicht einsehen will, warum er sich jetzt grundsätzlich ändern soll. Deswegen gehen die meisten Trennungen auch von Frauen aus.

Paragraf 218 StGB abschaffen? „Da bin ich klar dagegen“

Sie sind lange schon in der Medienbranche aktiv. War es dort jemals ein Thema, dass aufgrund von Abtreibungen ab Mitte der 1970er Jahre bis heute etwa zehn Millionen Menschen in Deutschland fehlen? Haben Sie davon jemals gehört?

Was heißt, es fehlen zehn Millionen Menschen?

Seit 1975 wurden nach offizieller Statistik rund 6,5 Millionen Kinder abgetrieben. Zählt man die Kinder hinzu, die diese Menschen einmal bekommen hätten, wären sie nicht abgetrieben worden, so kommt man auf rund zehn Millionen.

Also, wenn Sie meine Position zur Abtreibung hören wollen, lautet die wie folgt: Es gibt ja wieder die Bemühung, den Paragraf 218 abzuschaffen, da bin ich klar dagegen. Ich finde, es braucht schon eine Erinnerung daran, dass die Beendigung von menschlichem Leben nicht in Ordnung ist – das wissen ja auch die meisten. Diese Gewissensnot sollten wir ihnen nicht ersparen.

Andererseits hat es auf die Gesellschaft als Ganzes einen durchaus stabilisierenden Effekt, wenn Frauen die Möglichkeit zur Abtreibung haben. Wenn man Frauen dazu zwingen würde, ein Kind auszutragen, das sie nicht wollen, ist das mit hohen gesellschaftlichen Folgekosten verbunden. Insofern ist der Paragraf 218 in seinem Pragmatismus vielleicht etwas verlogen und juristisch auch durchaus angreifbar, wie die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf gezeigt hat, aber er hat sich als friedensstiftend bewährt. 

Als Mann in hervorgehobener Position klar pro Paragraf 218 StGB zu sein, das könnte Ihnen Ärger bringen.

Ich habe nicht den Eindruck, dass einen ein Petitum für die Beibehaltung des 218 zum gesellschaftlichen Außenseiter macht. Die Abschaffung ist in bestimmten linken Zirkeln ein großes Thema, aber nicht darüber hinaus.

„Nicht die Religiosität hat abgenommen, sie verteilt sich nur anders“

Was gibt Ihnen Halt im Leben?

Die Familie. Wenn ich an die Zeit denke zwischen dem Rauswurf durch meine erste Frau und die Begegnung mit meiner zweiten, dann war das erst mal aufregend. Die Haltlosigkeit hat ja auch ihre verführerischen Seiten. Aber ich bin sicher, irgendwann hätte ich mich total verloren. Ich brauche den Stabilitätsanker der Familie. Sie bewahrt mich davor, zu sehr über die Stränge zu schlagen.

Im Tagespost-Podcast mit Sigmund Gottlieb erzählten Sie von einem Besuch der überlieferten alten Messe in Berlin. Da hätten Sie die Kraft gespürt, die eine schöne Liturgie geben kann. Sind die Menschen in Deutschland heute auch deshalb oftmals so aufgeregt und wenig gefasst, weil die Religiosität abgenommen hat?

Ja, klar. Religion gibt Halt. Die meisten Menschen haben ein spirituelles Bedürfnis. Es ist der große Fehler der Kirchen in Deutschland, das nicht mehr zu befriedigen und stattdessen politische Weisungen zum Tempolimit, dem Klimawandel oder der Flüchtlingsfrage zu geben. Da hat Bundestagspräsidentin Julia Klöckner absolut Recht. Diese Selbstsäkularisierung galt lange vor allem für die Protestanten, aber die Katholiken schließen leider zunehmend auf.

Daher würde ich Ihnen auch widersprechen: Nicht die Religiosität hat abgenommen, sie verteilt sich nur anders. Weil die Kirchen das spirituelle Bedürfnis weniger adressieren, werden alternative Sinngebungsangebote attraktiver, angefangen vom Yoga-Retreat über asiatische Versenkungstechniken bis hin zu ich weiß nicht was. Es gibt nicht weniger Religion in Deutschland, sondern das Monopol der beiden großen Kirchen ist gebrochen.

Die gute Nachricht ist: Das lässt sich auch wieder umdrehen. Man muss sich halt nur darauf besinnen, was einen mal groß gemacht hat.

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