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Polnischer Kulturkampf um Abtreibung

Ein Sieg der Rechten

Fünf Jahre sind seit dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs zur Abtreibung vergangen – einer Entscheidung, die große gesellschaftliche Proteste ausgelöst hat. Heute herrscht allgemein die Meinung, dass gerade dieses Erwachen des liberal-linken Teils der Gesellschaft entscheidend war, da es den Machtverlust der PiS besiegelt hat.

Sicherlich war das einer der wichtigen Faktoren, obwohl seine Bedeutung eher symbolischer als realer Natur war. Nach diesem Urteil vom 22. Oktober 2020 regierte die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) noch drei Jahre lang und gewann auch die Wahlen – obwohl sie nicht mehr in der Lage war, eine Regierung zu bilden.

Die Schwarzen Märsche an kalten Oktoberabenden erwiesen sich als wesentlich, denn sie ermöglichten den späteren „Marsch der Millionen Herzen“. Sie gaben Donald Tusk einen Vorwand, noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, zum Symbol der Modernität zu werden; zu einem Politiker, dank dem es in Polen endlich so sein sollte wie im Westen.

Die liberale Linke zeigte 2020 ihr bedrohliches Gesicht und marschierte später im Sonnenschein zum Sieg mit einem Lächeln auf den Lippen. Ein sehr symbolisches Bild, das sich zu einem eingängigen Narrativ zusammenfügt – und solches braucht die Politik heute am meisten.

Haben die Freunde rote Blitze oder Pro-Life-Symbole im Profil?

Indessen stellte es sich heraus, dass die Regierungskoalition zwei Jahre nach ihrem Wahlsieg nicht in der Lage ist, die Forderungen der Progressiven auch nur im Geringsten zu erfüllen. Vor fünf Jahren lag eine gewisse Ermüdung gegenüber der PiS-Regierung in der Luft. Die Zeit der sozialen Isolation und die vulgären Proteste für das Recht auf Abtreibung waren für die Konservativen wie ein böser Traum.

Man hatte den Eindruck, dass vor unseren Augen eine Form der kollektiven Koexistenz zu Ende ging. Dass der vom Verfassungsgericht gebrochene und niemanden zufriedenstellende Gesellschaftsvertrag Kräfte freisetzte, die schwer zu bändigen waren.

Urteil des Verfassungsgerichtshofs – Hintergründe

Polens Abtreibungsgesetzgebung ließ seit 1993, ähnlich wie im wiedervereinigten Deutschland, Schwangerschaftsabbrüche unter drei Bedingungen zu: Wenn das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren gefährdet ist (medizinische Indikation), bei einer Schwangerschaft infolge einer Straftat wie Vergewaltigung oder Inzest (kriminologische Indikation) sowie bei schweren und irreversiblen Fehlbildungen oder unheilbaren Krankheiten des Fötus („embryopathische Indikation“).

Eine Anfang Januar 1997 zusätzlich eingeführte soziale Indikation wurde am 28. Mai 1997 vom Verfassungsgerichtshof (Trybunał Konstytucyjny) wegen Verfassungswidrigkeit kassiert.

Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 22. Oktober 2020 markierte einen noch größeren Meilenstein in der gesellschaftlichen Debatte um Wert und Würde des ungeborenen Menschen. In der Folge löste es massive linksgerichtete Demonstrationen und Gewaltausbrüche aus. Es kam zu vulgären Schreiereien wie auch zu Angriffen gegen Kirchengebäude und Gottesdienste. Dem Urteil vorausgegangen war ein Antrag des Sejm auf abstrakte Normenkontrolle von November 2019, weil die beantragenden 118 Abgeordneten aus den Reihen der regierenden sozialkonservativen PiS die embryopathische Indikation als verfassungswidrig ansahen.

Der Verfassungsgerichtshof unter Vorsitz von Julia Przyłębska kam mit der Mehrheit seiner Mitglieder zu dem Urteil, dass die embryopathische Indikation nicht mit der Verfassung der Republik Polen vereinbar ist. Denn die garantiert in Artikel 38: „Die Republik Polen gewährleistet jedem Menschen den rechtlichen Schutz seines Lebens.“

Konkret wurde Art. 4a Abs. 1 Punkt 2 des „Gesetzes über Familienplanung, den Schutz des Fötus und die Bedingungen für einen Schwangerschaftsabbruch“ von 1993 für nichtig erklärt. Dieser Paragraf erlaubte Abtreibungen mit embryopathischer Indikation.

Seit dem Inkrafttreten des Urteils am symbolträchtigen 27. Januar (Befreiung von Auschwitz) 2021 sind Abtreibungen in Polen nur noch bei medizinischer sowie kriminologischer Indikation gestattet. Schwangerschaften mit schweren Fehlbildungen müssen ausgetragen werden.

2019 wurden in Polen 1.100 legale Abtreibungen durchgeführt, darunter 1.074 aufgrund der embryopathischen Indikation (Daten des polnischen Gesundheitsministeriums). Die häufigste Diagnose war Trisomie 21, also das Down-Syndrom, das zum Abbruch der Schwangerschaft führte.

2021 wurden lediglich 32 legale Abtreibungen registriert (den Januar, in dem das Urteil noch nicht galt, nicht eingerechnet). Im Jahr darauf stieg die Zahl auf 161 Abtreibungen, im Jahr 2023 auf 425 Abtreibungen, 423 davon aufgrund der medizinischen Indikation. Im Jahr 2020 gab es dagegen nur 21 Schwangerschaftsabbrüche, die unter Verweis auf Gefahr für Leben oder Gesundheit der Schwangeren vorgenommen wurden. (CR)

Ich begann, meine Freunde zu unterteilen in diejenigen, die rote Blitze auf ihre Profilbilder stellten, und diejenigen, die ihre Avatare mit Pro-Life-Symbolen markierten.

Die defätistischen Stimmungen der Konservativen und Katholiken nach dem 15. Oktober 2023 rührten gerade von den Erinnerungen an die Schwarzen Märsche her, die drei Jahre zuvor durch jede größere Stadt Polens gezogen waren. Wir hatten befürchtet, dass damit der Grundstein für eine Revolution von Sitte und Moral gelegt worden war.

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Ich selbst war überzeugt, dass die linksgerichtete Bürgerplattform (PO) von Ministerpräsident Donald Tusk und die Vereinigte Linke hart vorgehen würden. Und Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz von der Bauernpartei PSL und Sejm-Präsident Szymon Hołownia waren nicht gerade geeignet für die Rolle katholischer Katechonen. Ich befürchtete, dass diese Mannschaft die ersten Monate ihrer Regierungszeit damit verbringen würde, einen Kulturkampf anzuzetteln: zuerst Abtreibung bis zur 12. Woche „auf Wunsch“, dann die Legalisierung von Lebenspartnerschaften als Weg zu „Homo-Ehen“, die Einführung einer linken Agenda in den Schulen, die Abschaffung des Religionsunterrichts, die Verunglimpfung der Kirche.

Der Linken ist es nicht gelungen, Abtreibungen zu legalisieren

Nach zwei Jahren ist nun deutlich zu erkennen, dass der Kulturkampf, der nach dem Urteil des Verfassungsgerichts und den schwarzen Protesten vor fünf Jahren entbrannt war, heute beendet ist. In absehbarer Zukunft ist in Polen keine politische Kraft zu erkennen, die in der Lage wäre, mehr als das zu beschließen, was die derzeitige Regierungskoalition vertritt.

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Bildungsministerin Barbara Nowacka ist es nicht gelungen, den Religionsunterricht aus den Schulen zu verbannen, sondern lediglich ihn einzuschränken. Auch bei der Gesundheitserziehung war sie erfolglos – zunächst wurde diese zu einem Wahlfach umgewandelt und ist nun praktisch tot, da die Hälfte der Schüler ohnehin nicht daran teilnimmt.

Pro-Life-Plakat mit Embryo und Aufschrift „Ich bin öko“. Der weitere Text ist überklebt von einem Plakat von Abtreibungsfanatikern mit typischem rotem Blitz und der Aufschrift: „Wahl, nicht Verbot“. Posen, Januar 2021

Auch ist es nicht gelungen, Abtreibungen gesetzlich zu legalisieren. Zwar gelang es Gesundheitsministerin Izabela Leszczyna, stillschweigend eine Verordnung durchzusetzen, aufgrund derer die Zahl der Abtreibungen aus sogenannten psychiatrischen Gründen steigt, doch ist dieses Phänomen nicht weit verbreitet und in der öffentlichen Wahrnehmung praktisch nicht präsent.

Ende des Kulturkampfes

Die Gynäkologin Dr. Gizela Jagielska wiederum wurde – nicht nur in der rechten Blase – zum Symbol dafür, was sich hinter dem harmlos klingenden Narrativ von Wahlfreiheit und „Frauenrechten“ verbirgt. Heute gibt sogar Donald Tusk zu, dass er nicht gerne in diesen Kategorien über die „Schwangerschaftsunterbrechung“ spricht. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das Thema Abtreibung in naher Zukunft wieder auf die Tagesordnung kommen wird.

Das symbolische Ende des Kulturkampfes in Polen ist hingegen das Projekt der Linken und der PSL zum Status des nächsten Angehörigen. Erstens stellt es niemanden zufrieden; es wird sowohl von LGBT-Aktivisten als auch von Konservativen kritisiert. Zweitens wird es ohnehin mit einem Veto des Staatspräsidenten Karol Nawrocki belegt werden.

Der Sieg von Nawrocki am 1. Juni, über 50 Prozent der Wähler, die bei der Parlamentswahl vom 15. Oktober 2023 für rechte Parteien gestimmt haben, die konservative Rhetorik von Tusk und das Nachplappern vieler Standpunkte der PiS, die schwache und zerstrittene Linke sowie die mageren Ergebnisse der liberal-linken Regierungskoalition in Weltanschauungsfragen – all dies sind Gründe, die zu folgendem Schluss führen: Der Kulturkampf in Polen ist vorbei und wurde von der Rechten gewonnen.

Der Ausgang der Geschichte erscheint überraschend positiv

Natürlich ist dies weder ein ein für alle Mal feststehender Zustand noch ein vollständiger Sieg. Einige Schlachten wurden verloren, aber im Vergleich zur Stimmung vor fünf Jahren erscheint mir das Ende dieser Geschichte überraschend günstig.

Der Kulturkampf wird noch zu uns zurückkehren, denn die Spaltungen in der Gesellschaft in Fragen der Weltanschauung sind real. Aber er wird in einer anderen politischen Realität zurückkehren. Nach Tusk wird die Abtreibungs- und Regenbogenfahne schließlich an andere weitergegeben werden. Die in dieser Hinsicht kompromittierten Regierungen der aktuellen Koalition werden für Katarzyna Kotula, Agnieszka Dziemianowicz-Bąk und Barbara Nowacka zum Ballast werden.

Adrian Zandberg und seine Partei Razem („Gemeinsam“) werden zwangsläufig die Rolle der einzig glaubwürdigen Sitten-Revolutionäre übernehmen. Dies wird jedoch für diese Partei nicht ohne Kosten zu haben sein.

Obenstehender Artikel ist ursprünglich auf dem christdemokratischen Portal klubjagiellonski.pl erschienen. Corrigenda veröffentlicht ihn hier – mit freundlicher Genehmigung – in eigener deutscher Übersetzung. Der christdemokratische Jagiellonen-Klub mit Hauptsitz in Krakau möchte die Idee einer Neuen Christdemokratie entwickeln, deren Säulen Republikanismus, Konservatismus und katholische Soziallehre sind.

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