Macht der Eliten und Machtlosigkeit der Massen
Ob es nun um Rom im ersten Jahrhundert v. Chr. oder um den Westen im 21. Jahrhundert n. Chr. geht: In beiden Gesellschaften beobachten wir den paradoxen Zusammenschluss von extremer Macht in den Händen einiger weniger Individuen trotz eines politischen Systems, das sich offiziell dem Gemeinwohl aller Bürger verschreibt und als partizipatorisch versteht.
Damals wie heute dominiert eine global orientierte, wirtschaftlich hochmobile und politisch einflussreiche Oberschicht alle wesentlichen Entscheidungen. Manchmal offen und direkt durch institutionelle Mittel, manchmal durch Druck, Lobbyarbeit, Erpressung und Hinterzimmerintrigen. Doch immer wieder verschmelzen wirtschaftliche und politische Interessen zu einem undurchdringlichen Dickicht.
Die ritterliche und senatorische römische Oberschicht auf der einen Seite und auf der anderen Seite die moderne, westliche „Anywhere“-Elite – eine Elite, die von „irgendwoher“ Entscheidungen ideologisch beeinflusst – trennen zwei Jahrtausende. Und doch verbindet sie eine frappierende strukturelle Ähnlichkeit. Es geht um Elitenbildung, Machtkonzentration, wirtschaftlichen Cäsarismus und die Simulation republikanischer Ideale in oligarchischen Strukturen.
„Denn seit der Staat unter die Botmäßigkeit und Gewalt einer nicht zahlreichen Oligarchie gefallen ist, zahlten Könige und Fürsten immer nur ihnen Steuern, leisteten Völker und Stämme immer nur ihnen Abgaben. Wir anderen, alle brave und wackere Leute, adlige wie nichtadlige, gelten als Pöbel ohne Wert, ohne Einfluss, denjenigen untertan, denen wir, stünde es recht um den Staat, Angst einflößen müssten. So sind denn alle Gunst und Macht, alle Ehren und aller Reichtum in ihren Händen oder in welchen sie wollen. Uns ließen sie nur Feindschaften und Wahlniederlagen, Prozesse und Armut. Wie lange noch wollt ihr euch dies gefallen lassen, ihr tapfersten Männer?“ (Sall., Cat. 20,7–14)
Der römische Senat: Republik im Dienst der Aristokratie
Ursprünglich war der römische Senat ein Gremium erfahrener, ehrwürdiger Männer, die dem Gemeinwesen dienten. Doch in der spätrepublikanischen Zeit entwickelte er sich zunehmend zu einer oligarchischen Festung. Die Macht lag bei wenigen Familien, der Zugang zur politischen Klasse der Nobilität war streng kontrolliert, Ämter wurden in familiärer Folge vererbt, und wirtschaftliche Ressourcen sicherten eine erdrückende Dominanz.
Die senatorische Elite lebte von Landbesitz, Spekulation, Klientelnetzwerken und Sklavenarbeit, präsentierte sich aber weiterhin als Trägerin des Gemeinwohls. Rhetorisch war man dem populus romanus, dem römischen Volk, verpflichtet. Doch faktisch wurden alle Reformen blockiert, Aufsteiger diskriminiert und politische Gegner diffamiert.
Die Gracchen etwa, die Brüder Tiberius und Caius Gracchus, versuchten, soziale Gerechtigkeit durch Landverteilungen und Getreidegesetze zu fördern. Sie wurden ebenso gewaltsam aus dem Weg geräumt, wie man den altrömischen Konservatismus des Staatsmanns Cato des Älteren belächelte und auch ein wenig fürchtete, witterte man in ihm doch einen Aufruf zur Rückkehr allzu gefährlicher Einfachheit. Die Republik war zwar formal intakt, doch die Realität war vor allem ein System der Besitzstandswahrung und -mehrung.
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Dazu zählte auch die enge Beziehung zwischen der senatorischen Klasse und den „Rittern“, jener wohlhabendsten Schicht des römischen Censussystems. Dieses System erfasste das Vermögen eines jeden Bürgers zur Besteuerung. Man hatte die Ritter von den Senatoren aus Sorge vor eben jenem Machtmonopol zwar abgespalten. Dies unter anderem durch das Verbot ihrer Beteiligung am Seehandel und ihre Beschränkung auf Landbesitz. Doch die Ritter verbanden mit den Senatoren weiterhin gemeinsame Interessen.
Oft genug nutzten die Senatoren die Ritter, um sich an den lukrativen Finanzspekulationen der Steuereinnehmer und Getreidehändler zu beteiligen, während die Ritter ihre senatorischen Freunde bewogen, entsprechend günstige Gesetze zur Abstimmung zu bringen. Und beide strebten natürlich eine ständige Ausdehnung des Reiches an, um die stetig wachsenden Schuldenlöcher zu stopfen, neue Einkommensquellen zu erschließen und im Wettbewerb um prächtige Selbstrepräsentation mit den Konkurrenten Schritt halten zu können.
Entscheidungen ohne demokratische Einmischung
Leider sieht die Situation im modernen Westen nicht anders aus. Blickt man dahin, wo die echte Macht liegt, also nicht in die Parlamente unbedeutender europäischer Klein- und Mittelstaaten, sondern nach Brüssel, Washington oder Davos, fällt die untrennbare Verquickung zwischen Politik und Wirtschaft auf.
Kaum ein hochrangiger Politiker, der nicht bei der einen oder anderen Großbank gearbeitet hat, kaum ein Staatsmann, der nach seiner Amtsperiode nicht in diverse Vorstände aufgenommen oder internationale Institutionen gewählt wird. Demokratische Bestätigungen durch Wahlen zwischendurch sind eher optional als verpflichtend. Wer nicht beliebt ist, der wird durch Parteienklüngel mitgenommen und weiterverwiesen, wie etwa die Europäische Kommission (EK) zur Genüge illustriert. Somit haben sich mittlerweile nicht nur ganze Politikerdynastien herausgebildet; auch der private Reichtum ist bei allen, die tatsächlich zählen und nicht nur die Marionetten anderer sein wollen, eine wichtige Voraussetzung.
Das jährliche Treffen des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos ist eine beeindruckende Verdeutlichung, wo Entscheidungen tatsächlich getroffen werden. Ein Treffen, das zwar keinerlei demokratische Legitimation besitzt, aber die höchste Form der Zusammenkunft der wirtschaftlichen, politischen und medialen Elite des Westens darstellt. Ein Ort der Netzwerkbildung, der Einflussnahme, der Konsensschaffung und der ideologischen Weichenstellung. Die Teilnehmer – Konzernchefs, Staatsmänner, Experten und Prominente – diskutieren dort über die Zukunft der Welt, insbesondere des Westens, ungestört von demokratischen Einmischungen.
Die Illusion der politischen Teilhabe
Und natürlich pflegt man hier eine Rhetorik des Gemeinwohls: Man spricht über Klimaschutz, soziale Inklusion, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Doch in der Praxis vertreten die Anwesenden überwiegend jene Strukturen, von denen sie profitieren: globale Lieferketten, deregulierte Finanzmärkte, automatisierte Produktionsprozesse, digitalisierte Kommunikationssysteme, Klimaindustrie, Schuldenspekulation.
Die Übergänge zwischen Lobby-Interessen und linksgrünem Polit-Sprech sind dabei so fließend, dass sie kaum noch auffallen. Zumal ein sklavisches mediales Establishment, das von den Krumen lebt, die vom Tisch der Großen fallen, alles daran tut, Skandale oder Interessenskonflikte zu verschweigen oder kleinzuhalten.
Die Herausbildung einer solchen Oligarchie aus einem ursprünglich partizipatorischen republikanischen System war und ist nur dadurch möglich, dass die breiten Massen der Bürger diese Entwicklung zumindest mit Desinteresse tolerieren – wenn sie sich ihre Zustimmung oder doch ihr Schweigen nicht gar durch kurzfristige Wahlversprechen erkaufen lassen, da langfristige Perspektiven der Machtverschiebung weniger dringlich oder bedrohlich scheinen als die alltäglichen Sorgen um das Überleben.
Erst so wurde die Fiktion einer Oligarchie im republikanischen Festgewand erst möglich: Im alten Rom durften die Volksversammlungen weiter tagen, die Magistrate wurden gewählt, die Tribunen hatten theoretisch ein Vetorecht, doch faktisch kontrollierten einige wenige Familien das Spiel. Sie leiteten Netzwerke, die sich über das gesamte Reich bis in die fernsten Provinzen erstreckten, und brachten zunehmend auch eine bedrückende Militärklientel auf ihre Seite.
Kostspielige Wahlkämpfe
Wahlkämpfe wurden mit einem enormen finanziellen Aufwand geführt, Stimmen gekauft, Gegner juristisch verfolgt, der Populismus oft genug zur gesteuerten Opposition degradiert. Wer sich wirklich auflehnte, riskierte manchmal sein Leben. Kein Wunder, dass der Geschichtsschreiber und Politiker Sallust in einem Brief an Caesar schrieb:
„Aber seit der Zeit, als das Volk, allmählich vom Land in die Stadt getrieben, durch Arbeitslosigkeit und Armut gezwungen wurde, ein unstetes Leben zu führen, begann es, anderswo nach Einkünften zu suchen und seine Freiheit zusammen mit der Republik selbst dem Meistbietenden zu versprechen. Auf diese Weise verlor das Volk, das den Erdkreis regierte und ihm befahl, seine Einheit, und anstelle des Reichs, das ihnen allen zusammen gehörte, schuf ein jeder sich nur seine eigene Knechtschaft.“ (Sall., epist. 1,5,4–5)
Auch heute existieren zwar weiterhin alle denkbaren demokratischen Verfahren – es gibt Wahlen, Parlamente, Gerichtshöfe, Referenden, Petitionen und verschiedenste bürgerliche NGOs –, doch gleichzeitig haben sich politische Entscheidungen längst von der Bühne der demokratischen Teilhabe entfernt. Internationale Verträge, gekaufte Expertengremien, supranationale Organisationen und eine staatsfinanzierte „Zivilgesellschaft“ bestimmen immer mehr Lebensbereiche. Die Nationalstaaten hingegen, ursprünglich Träger demokratischer Selbstbestimmung, werden zu Ausführungsorganen global definierter Leitlinien.
Moralische Selbstinszenierung als Stimmenkauf
Ein auffallendes Element in beiden Systemen ist dabei auch die moralische Selbstinszenierung der jeweiligen Eliten: Die römischen Senatoren und Ritter betonten ihre pietas, ihre Frömmigkeit, ebenso wie ihre Liebe zu Republik und Volk, stifteten Tempel, finanzierten Spiele, versorgten Veteranen, organisierten öffentliche Festmähler und ließen immer umfangreichere Getreideverteilungen zur Abstimmung bringen. Sie stabilisierten dadurch nicht nur ihre Beliebtheit und ihre Macht, sondern verstärkten auch die Abhängigkeit der Masse, die Infantilisierung der Bürger und die Herausbildung ungesunder Klientelsysteme.
Es ist schwierig, hier nicht an das systematische Erkaufen von Beliebtheit und Wählerstimmen in modernen Demokratien durch die Versorgung einzelner Druck ausübender Gruppen, das Engagement für die angebliche überparteiliche Rettung von Demokratie, Klima, Flüchtlingen und Rechtsstaatlichkeit oder sogar ganz offene Mittel des Stimmenkaufs wie kürzlich bei Elon Musk zu denken. Oder Peter Thiel: Der demokratieskeptische Tech-Unternehmer und einflussreiche Investor hat über die Jahre mehrere Politiker aufgebaut. Der bekannteste und bislang erfolgreichste ist US-Vizepräsident J. D. Vance.
Es sind allesamt nur scheinbar idealistische oder philanthropische Zielsetzungen, hinter denen nichts anderes steht, als der gnadenlose Kampf um mehr Macht und Einfluss. Umso mehr, als ein Großteil der Aufforderung zu humanistischer Opferbereitschaft nur die Kassen obskurer Investmentfirmen füllt.
Von der Oligarchie zum Cäsarismus
Damit ist aber auch schon der Weg geschaffen zur inneren Auflösung dieses Systems durch den Übergang von der Oligarchie zum Cäsarismus. Denn sobald sich aus der Menge der Oligarchen einige als ganz besonders reich und mächtig herauskristallisieren und aus dem politischen Konsens ausbrechen, um sich zum vermeintlichen Sachwalter der Opposition zu machen und Teile der Ordnungskräfte auf ihre Seite zu bringen, beginnt eine zunehmend gefährliche Phase des Konflikts zwischen den neuen „großen Einzelnen“ auf der einen Seite und den Beharrungskräften des Systems auf der anderen.
Ob es sich nun um die römischen Politiker Pompeius, Caesar, Marc Anton oder schließlich Octavian handelte – schrittweise schälte sich aus dem Modell des populistischen Demagogen der Alleinherrscher heraus, teils in Form kurzlebiger Absprachen und Triumvirate, teils im rücksichtslosen Kampf um die alleinige Macht. Grundvoraussetzung dieser neuen Macht war die Kontrolle über Finanzen, Meinung und Repressionsmittel. Oder, um mit den Worten Crassus‘, des reichsten Mannes des römischen Imperiums, zu sprechen: Nur der zähle als wirklich „reich“, der fähig sei, aus seinem Jahreseinkommen eine eigene Legion aufzustellen und zu bewaffnen – oder der sich das nötige Geld von Spekulanten und Financiers zu leihen und später wieder einzutreiben wusste, wie zum Beispiel Caesar ...
Blicken wir gegenwärtig in die Vereinigten Staaten und die einzigartige Zusammenballung militärischer, finanzieller und medialer Macht in den Händen eines winzigen polit-familiären Clans, der nicht mehr den anonymen und rechtstaatlich verbrämten Konsens der kollektiven Ausbeutung der Bevölkerung verfolgt, sondern vielmehr die langfristige Zementierung der eigenen charismatischen Macht, und bedenkt man, dass sich den Bürgern und Wählern kaum eine realistische Alternative zwischen beiden Optionen bietet, und sie wie im spätrepublikanischen Rom eine solche Alternative möglicherweise gar nicht mehr als wünschenswert erkennen würden, wird deutlich, dass wir auch im Westen nicht mehr weit von diesem Stadium unserer Entwicklung entfernt sind.
Kommentare
Die Bürger der westlichen Demokratien sind über den einflusslosen Status des Pöbels früherer Jahrhunderte kaum hinausgekommen. Insbesondere in der deutschen „Parteiendemokratie“ (ein Unwort) ist tatsächliche Mitbestimmung des Bürgers nicht vorgesehen. Es gibt kein Volk als Souverän, sondern ein kontrolliertes Volk. Zudem war das deutsche Bürgertum schon immer recht unpolitisch und ausgesprochen feige. Und nicht zuletzt die untertänige und staatsgläubige Mentalität der meisten Deutschen macht es der machthungrigen Elite leicht, aus ihren Bürgern braves „Nutzvieh“ zu machen.
So traurig es ist, auch die Menschen des Westens leben nach den Bedingungen einer kleinen Machtelite, so wie die Chinesen und Russen. Ob die Mächtigen im Gewand einer Pseudodemokratie, Oligarchie oder als Familienclan daherkommen, macht letztlich keinen großen Unterschied. Denn am Nutzvieh-Status des normalen Bürgers ändert es nichts.