Direkt zum Inhalt
Kolumne „Ein bisschen besser“

Was bleibt, wenn man losfährt

Judith und ich suchen – seit sie da in der Ukraine kämpfen – unsere Werte. Wir haben uns darüber sogar schon in die Haare bekommen. Judith sagt: „Niemand darf ein Land überfallen und seine Menschen töten. Das verstößt gegen unsere Werte.“ Ich sage: „Solange ich niemals selbst dort kämpfen will, sind es nicht meine Werte.“ Also sind wir losgefahren, um unsere gemeinsamen Werte zu suchen.

Wir haben unser Auto im Rheinland beladen, wo sich einst der kleine Napoleon, der ein Großer war, ganz zu Hause fühlte, und wo uns gerade die Holländer den Glühwein wegtrinken. Wir besitzen ein großes Auto. Judith stellt die Koffer, Tüten und Taschen immer an die Tür im ersten Stock. Der Rest liegt dann bei mir. Ich stöhne jedes Mal, wenn die Hälfte verpackt und die Holzeisenbahn schon drin ist, das Futter für die Hündin aber noch nicht. Ich sage: „Jetzt geht wirklich nichts mehr rein.“ Judith stellt dann noch den Roller und den Fotokoffer dazu.

Wir sind zu den Großeltern ins Schwabenland gefahren. Die Straße war frei, und es war eine Freude, wie der Motor brummte, das Töchterchen summte, die Hündin jaulte, das Radio brabbelte und bei Oma schon der Herd dampfte. Wir saßen mit Brüdern und Schwägerinnen unterm Baum, aßen Braten und schmetterten Lieder. Ich habe gelernt, dass elektrische Zigaretten im Schwabenland „Verdampferle“ heißen. Ich werde mir vielleicht so ein Ding zulegen, schon alleine weil ich das Wort so mag. Wir hatten weiße Weihnacht auf der Ostalb.

› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge

Ganz kurz bevor jeder von unserer Anwesenheit genug hatte, beschlossen wir, dass es ein bisschen besser sei, aufzubrechen und die Pässe der Alpen Richtung Süden zu durchstreifen. Dorthin, wo die Sonne vom blauen Himmel strahlt, wir uns im Schnee ausstrecken können, die Glocken der alten Kirche ihre Schläge weit über den See tragen und die dicken Wände unseres alten Gemäuers Tage brauchen, um auf Temperatur zu kommen. Auf der anderen Seeseite liegt ein weißer Palast, den ein Statthalter genau dieses kleinen, großen Napoleons für sich errichtet hat.

Es gab Pizza Margherita in der Trattoria neben der Bar in unserem Dorf, nach dem wir in einem Anfall von Übermut unser Töchterchen benannt haben. An der Straße unten am Wasser haben Partisanen einst den italienischen Duce und seine Geliebte Clara Petacci in einem Alfa Romeo Coupé gestoppt und ihnen den Garaus gemacht. Das alte Gemäuer, das wir bewohnen, gehörte den Petazzis, wie uns ein Tagebuch verriet, das wir in einem Tresor hinter dem Kamin gefunden haben. Vielleicht sind diejenigen mit dem doppelten „z“ eine Nebenlinie.

Es sind die Freiheit ohne Grenzen, das Bad in der Sonne, das Zusammenstehen mit denen, die uns nahestehen, die saftige Pizza, die Vielfalt unserer Heimaten und der schnelle Alfa, das Erlebnis unserer Herkunft und der beschwingte Glockenton, die wir verteidigen werden, wenn sie in Gefahr sind. Als ich das Radio anschalte, höre ich, dass Brigitte Bardot gestorben ist. „Und ewig lockt das Weib“, denke ich und gebe Judith einen Kuss. Auch das finden wir wertvoll.

› Folgen Sie uns schon auf Instagram oder LinkedIn?

4
2

Kommentare