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Grundlagen ungarischer Politik

Was Ungarns christliche Leitkultur auszeichnet

Der Erfolg der polnischen und ungarischen Konservativen ist kein Geheimnis mehr. Konservative, die sich wie im Westen nicht zur zweitausendjährigen Leitkultur Europas bekennen, stehen auf schwankendem Boden aktueller Aufregungen und ähneln oft mehr Wutpredigern als Bildungsbürgern. Das Christentum imprägniert dagegen mit seinem anthropologischen Realismus gegen die Ersatzgötterei einer Regenbogenkultur. Die Fidesz, die Ungarn seit 2010 regiert, steht anders als die Konservativen im westlichen Europa auf den kulturellen Fundamenten des Christentums.

Mit einer Politik der Selbstbehauptung Ungarns in Europa und Europas in der Welt fordert Ungarn den Moralismus und Globalismus des Westens direkt heraus, was dem Land und seiner Regierung eine uneingeschränkte Abneigung einträgt. Sie reicht bis hin zur Einbehaltung der Ungarn zustehenden Gelder von der Europäischen Union.  

Insbesondere Ministerpräsident Viktor Orbán steht im Kreuzfeuer, obwohl er in seiner langen Regierungszeit Ungarn aus desolaten Zuständen zu einem prosperierenden und selbstbewussten Land geformt hat. Westliche Medien überbieten sich in Schmähartikeln über ihn, der als „rechts“, als „autoritärer Populist“ und vielen sogar als „Diktator und Faschist“ gilt. Die völlige Maßlosigkeit der Anwürfe lässt sich nur aus einem offenen Machtkampf gegen einen Politiker erklären, der dem eigenen Treiben eine klare und zudem auch noch erfolgreiche Alternative entgegensetzt.

Globale Idealphantasien stoßen auf Ablehnung

Ungarn ist keine geschlossene, sondern eine von politischen Konflikten durchzogene, sogar in Orbán-Gegner und Orbán-Freunde gespaltene Gesellschaft, ob an den Hochschulen, in den Medien und schließlich im Parlament. Aber es verfügt über einen Grundkonsens. „Woke“ Werte, die heute als „westlich“ gelten, aber in Wirklichkeit Ausdruck der Dekonstruktion von Christentum und Aufklärung zugleich sind, prallen in Ungarn auf den gesunden Menschenverstand selbst von sich als „links“ verstehenden Parteien.

C.K. Chesterton hatte es vorausgesehen: „Wenn Menschen aufhören, an Gott zu glauben, glauben sie nicht an nichts – sie glauben an irgendwas“. Wenn ein religiöses System zertrümmert wird, führe das nicht nur zu einer Entfesselung der Laster. „Aber auch die Tugenden werden entfesselt, und sie streifen noch haltloser umher und richten noch schrecklicheren Schaden an. Die heutige Welt steckt voll von alten christlichen Tugenden, die durchgedreht sind.“ 

Nach Jahrzehnten universalistischer Utopien des Kommunismus stoßen globale Idealphantasien in Ungarn auf Ablehnung. Für die Dekonstruktion der Grenzen Europas findet sich kaum Verständnis. Auch nicht über deren Dekonstruktion nach außen – wie durch das westliche Vordringen in die russische Einflusssphäre.

Gleichgewicht von Freiheit und Ordnung

Orbán machte den Fehler, mit seiner Kennzeichnung Ungarns als „illiberaler Demokratie“ den Liberalen Europas den Fehdehandschuh ins Gesicht zu werfen. Der Liberalismus – so Viktor Orbán – habe Europas eigene Wurzeln verleugnet. Anstelle eines auf christlichen Grundlagen beruhenden Europas sei ein inhaltlich leeres Bild einer undefinierten offenen Gesellschaft getreten. Das liberale Europa habe keine Richtung, es sei nur eine Form ohne Inhalt. Die liberale Demokratie habe sich in eine liberale Nichtdemokratie entwickelt, in der es Liberalismus gebe, aber keine Demokratie.

Orbán und die Fidesz bemühen sich um eine ausformulierte politische Theorie, um nicht wie andere konservative Parteien den Vorgaben von Idealisten hinterherlaufen oder sich ihnen aufgrund des eigenen geistigen Vakuums sogar immer weiter annähern zu müssen. Dem plebiszitären Druck schöner Wünsche kann eine konservative Partei sich nur entziehen, wenn sie auf einem gefestigten Weltbild aufbaut.

In seinen Interviews und Reden beteiligt sich Orbán an grundlegenden Überlegungen, indem er eine Synthese von Liberalismus und Kommunitarismus entwirft. Der mittlere Weg zwischen Freiheit und Ordnung oder auch Individuum und Gemeinschaft stellt sich sowohl dem kommunistischen als auch dem neoliberalen Universalismus entgegen. Es gehe um die nie endende Suche nach einem Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen des Lebens.

Gemeinschaftliche Grundrechte vor individuellen Rechten

Eine Gesellschaft solle sich aus den Polen der individuellen Freiheit und der gemeinschaftlichen Interessen zusammensetzen. Zwischen ihnen müsse ein Gleichgewicht angestrebt werden. Der bloß am individualistischen und materiellen Nutzen orientierte Liberalismus müsse durch ein gemeinschaftliches Verständnis der Nation ausgeglichen werden. In der Verfassung Ungarns werden dementsprechend gemeinschaftliche Grundrechte den individuellen Rechten beigeordnet, wodurch eine Verknüpfung von Rechten und Pflichten auf den Weg gebracht wird.

Zur Gemeinschaftlichkeit gehört auch die Förderung  einer ungarischen Beteiligung an ausländischen Wirtschaftsprojekten im Land. Eine solche merkantilistische Steuerung der Wirtschaft ist ein Einfallstor für private Begünstigungen und Anlass zu erheblichen Korruptionsvorwürfen. Diese Defizite sind nicht zu leugnen, aber auch dabei sollte die Relation gewahrt werden. 

Die Vorwürfe sind sicherlich nicht auf Ungarn zu begrenzen, zumal nach der Aufdeckung der clanmäßigen Strukturen im Bundeswirtschaftsministerium. Zumindest wurde im Streit mit der Europäischen Union über ausbleibende Gelder die Transparenz der Vorgänge in Ungarn zu verbessern versucht.  

Kulturchristentum als Grundkonsens

In späteren Reden bekannte sich Orbán positiv zu einer „christlichen Demokratie“, welche die Werte des Christentums, der Freiheit und der Menschenrechte zugleich vertrete. Christen glauben demnach an den freien Willen des Menschen, sie hätten einen moralischen Kompass und wären immun gegen dekonstruktivistische und neomarxistische Ideologien.

Ein großer Vorteil christlich fundierter Politik sei die Selbstprüfung vor Gott. Europas große Erfolge entstammten dem Geist der ständigen Selbstreflexion. Leider sei diese Tradition verkümmert. So dürfe man im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg nur noch Siegesreden halten. Wer nur schon ein paar Fragen auf den Tisch lege, sei ein Ketzer.

In Ungarn bekannten sich bei der letzten Volkszählung 2011 54,4 Prozent zum Christentum, 39 Prozent der Gesamtbevölkerung zur katholischen und 14,2 Prozent zu einer evangelischen bzw. reformierten Konfession. Die Gottesdienste sind im Vergleich zum deutschsprachigen Raum gut besucht. Dennoch machen die Zahlen deutlich, dass Ungarn nicht als „christliche Nation“ bezeichnet werden kann. Wohl aber wird die kulturchristliche Prägung bewusst gefördert und genutzt.

Reiterdenkmal von König Stephan I., in Budapest, dem Nationalheiligen Ungarns

Der erste Satz der Nationalhymne, die im Grunde ein Gebet ist, lautet: „Gott, segne den Ungarn“. Im „Nationalen Bekenntnis“, welches dem ungarischen Grundgesetz als Präambel vorangestellt ist, wird der besondere Rang des Christentums für Ungarn herausgehoben. Der religiöse Glaube gehöre gemeinsam mit Treue und Liebe zu den grundlegenden Werten.

Dieses Kulturchristentum erkennt man auch in der Einwanderungspolitik wieder. Der Aufnahmebereitschaft von Ukrainern steht die klare Abweisung von muslimischen Migranten gegenüber. Ungarn hat in der jahrhundertelangen Besetzung durch die Osmanen einschlägige Erfahrungen mit dem Islam gesammelt.

Die Ungarn sind trotz aller Schwierigkeiten mit Brüssel überzeugte Europäer. Die Zustimmungswerte zur Mitgliedschaft in Europa sind sogar höher als in vielen anderen europäischen Ländern. Der große Unterschied zu den Eurokraten in Brüssel liegt in der Option für ein „Europa der Nationen“ und damit für ein dezentrales Europa.

Ungarn will sich als Nation nicht nur gegenüber dem europäischen Zentralismus, sondern auch Europas christliche Kultur gegenüber anderen Kulturen behaupten. Es ist heute das einzige Land Europas, in dem die Hilfe für verfolgte Christen in den Projekten von „Hungary Helps“ eine Staatsaufgabe ist. Orbán bezeichnet die Diskriminierung und Verfolgung von 340 Millionen Christen als die größte humanitäre Krise auf der Welt, wie dem Budapester Bericht über Christenverfolgung zu entnehmen ist.

Christliche Soziallehre in der Sozial- und Familienpolitik

Auf die christlichen Weisheiten über die Natur des Menschen oder die benediktinischen Regeln und die Christliche Soziallehre kann der einst „Abendland“ genannte Westen nicht verzichten. Im Christentum hat die Trennung von geistigen und weltlichen Kategorien, seine Anlage zur Säkularität, den Keim für die Eigenlogik in weiteren Funktionssystemen wie Wissenschaft und Wirtschaft gelegt.

Die Anlehnung an die Christliche Soziallehre findet sich in der Verbindung von personaler Verantwortung und Solidarität. Sozialhilfe wird in Ungarn nur bei Gegenleistungen gewährt und fördert damit „Hilfe zur Selbsthilfe“. Dieses „Fördern und Fordern“ trägt bei sozial schwachen Gruppen eher zur gesellschaftlichen Integration bei als jene im „Bürgergeld“ wieder voraussetzungslose Solidarität im deutschen Sozialstaat.

Ungarns Familienpolitik umfasst zugleich demographische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Perspektiven. Demographische Krisen sollen nicht durch die Integration fremder Kulturen, sondern durch eine höhere Gebürtigkeit bewältigt werden. Familien werden nicht mit dem Gießkannenprinzip des Kindergeldes, sondern mit Steuernachlässen gefördert, was statt kinderreichen Clans der arbeitenden Mittelklasse zugutekommt. 

Alternative Sexualinteressen gelten als Privatsache, sie werden keineswegs diskriminiert, aber auch nicht beworben, schon gar nicht im Schulunterricht, was in Brüssel bekanntlich als Diskriminierung von sexuellen Minderheiten gilt. Es wird nicht – wie beim Ehegattensplitting in Deutschland – die Ehe an sich, von wem und mit wem auch immer, sondern es werden Familien mit Kindern gefördert. Keine Mutter soll finanziell schlechter gestellt werden. Mütter zahlen bis zum 30. Lebensjahr, ab vier Kinder ein Leben lang keine Einkommenssteuer. Die Geburtenrate Ungarns stieg innerhalb der vergangenen zehn Jahre von 1,23 auf 1,59 je Frau.

Europas Grenzen in der Außenpolitik

Ungarn leistet im Rahmen der größten humanitären Aktion in seiner Geschichte umfassende Hilfeleistungen gegenüber ukrainischen Flüchtlingen. Es hat die ersten zehn Sanktionspakete der EU gegen Russland mitgetragen, obwohl diese auch in Ungarn großen Schaden anrichten.

An Waffenlieferungen und Sanktionen im Energiebereich beteiligt sich Ungarn aber nicht. Letzteres wäre angesichts von 80 Prozent Energieimporten aus Russland ein Akt der Selbstaufgabe gewesen. Da Ungarn nicht die Macht hat, den Krieg zu beenden, möchte es – so Orbán – sich selbst beschützen. Ukrainische Interessen stünden nicht vor ungarischen Interessen.

Zum Realismus gehört auch die Eigenlogik der Geopolitik, die der Westen mit seinem Vordringen in die Ukraine seit zwanzig Jahren verletzt. Ein Waffenstillstand entlang der militärischen Fronten gilt Moralisten und Globalisten nicht als „gerechter Friede“. Dem steht in Ungarns Aufrufen zu Verhandlungen auf der Grundlage des Status quo eine Haltung gegenüber, in der die Worte Ciceros anklingen: „Ein ungerechter Friede ist immer noch besser als ein gerechter Krieg“.

Beim westlichen Moralismus und Globalismus handelt es sich um ersatzreligiöse Heilsvorstellungen, denen es im Gegensatz zu christlichen Visionen vom Heil der gesamten Menschheit am Sinn für Subsidiarität und damit für notwendige Abstufungen und fortdauernde Partikularinteressen fehlt. Nicht zuletzt zwischen den Ebenen des Diesseits und des Jenseits bräuchten die Europäer eine neue Arbeitsteilung.

Christliche Kultur als unverzichtbare Grundlage

Mit der neuerlich „wertegeleiteten Außenpolitik“ droht der Moralismus sogar den zuvor verfochtenen Globalismus abzulösen. Die erklärte Feindschaft zu autoritären Regimen leitet ein decoupling der Wirtschaft ein. Demgegenüber akzeptiert der Realist die Diversität der Kulturen und begügt sich mit einem in der Tat notwendigen derisking. Ungarn verknüpft die Koexistenz der Kulturen und mit der Konnektivität in den wirtschaftlichen Beziehungen. Die Regierung plädiert seit langem für eine defensive „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“, die Europas Grenzen sichert und sich aber aus den Einflusssphären anderer Großmächte heraushält.

Nicht nur alle universellen Visionen, sondern auch alle Versuche zur Vereinheitlichung Europas sind gescheitert. Umgekehrt gilt es, die Vielfalt Europas als Stärke zu begreifen. So könnte das weitgehend entchristianisierte Westeuropa von mitteleuropäischen Staaten lernen, wie sehr die christliche Kultur eine unverzichtbare Grundlage für eine christliche Demokratie bedeutet.

Auch in diesem Sinne wird die Europäische Union nur als ein Europa der Nationen“ gedeihen können, in „Vielfalt nach innen und Einheit gegenüber Gefahren von außen. Ihr künftiger Umgang mit Ungarn könnte dafür zum Testfall werden.

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Kommentar
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Walter Sendlmeier
Vor 1 Jahr 4 Monate

Ein sehr fairer und ausgewogener Artikel. Gut recherchiert und faktenbasiert. Christentum und Konservativismus sind eben nicht politisch Rechts einzuordnen, sondern sind in der Geschichte Europas als bürgerliche Werte im Zentrum der Gesellschaft anzusiedeln. Orban ist nicht egal, was seine Wähler denken. Und anders als immer wieder kolportiert wird, ist er durchaus für Europa, nur etwas weniger zentralistisch. Einen solchen Artikel würde man sich sehr in der FAZ oder ZEIT wünschen. Aber dort ist inzwischen die Erwähnung nationaler Interessen des Teufels, außer wenn es um die Ukraine geht.

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Kurt Schneiter
Vor 1 Jahr 3 Monate

Sehr guter Artikel über Herrn Orban. Hier könnte sich noch mancher Staat eine grosse Scheibe abschneiden. Auch Ihr Kommentar Herr Sendlmeier finde ich gut und würde genau so gut zu uns in der Schweiz passen. Auch hier tobt der Teufel in allen Ecken und Enden. Machen die Politiker etwas? Im Gegenteil sie tanzen mit. Traurige Entwicklung.

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Veritas
Vor 1 Jahr 3 Monate

Herr Orbán sollte die Kritik an ihm ausgehend von den linksliberalen Eliten durchaus als Ansporn nehmen. Um ehrlich zu sein, beneide ich die Ungarn auch ein wenig, dass sie Politiker eines solchen Formats wählen können. Auch wenn die Sache mit der Korruption natürlich einen schalen Beigeschmack hat. Aber wie Herr Dr. Theisen richtig sagt: In welchem Land gibt es keine Korruption?

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Walter Sendlmeier
Vor 1 Jahr 4 Monate

Ein sehr fairer und ausgewogener Artikel. Gut recherchiert und faktenbasiert. Christentum und Konservativismus sind eben nicht politisch Rechts einzuordnen, sondern sind in der Geschichte Europas als bürgerliche Werte im Zentrum der Gesellschaft anzusiedeln. Orban ist nicht egal, was seine Wähler denken. Und anders als immer wieder kolportiert wird, ist er durchaus für Europa, nur etwas weniger zentralistisch. Einen solchen Artikel würde man sich sehr in der FAZ oder ZEIT wünschen. Aber dort ist inzwischen die Erwähnung nationaler Interessen des Teufels, außer wenn es um die Ukraine geht.

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Kurt Schneiter
Vor 1 Jahr 3 Monate

Sehr guter Artikel über Herrn Orban. Hier könnte sich noch mancher Staat eine grosse Scheibe abschneiden. Auch Ihr Kommentar Herr Sendlmeier finde ich gut und würde genau so gut zu uns in der Schweiz passen. Auch hier tobt der Teufel in allen Ecken und Enden. Machen die Politiker etwas? Im Gegenteil sie tanzen mit. Traurige Entwicklung.