Europa: Ein Kontinent der aussterbenden Völker
In dieser demographischen Krise befand sich Europa noch nie: Die Bevölkerung auf dem Kontinent schrumpft seit mehr als einem halben Jahrhundert – und das in Friedenszeiten. Was selbst Pest und Krieg nicht gelangen, schaffen jetzt unfähige Politiker und todessehnsüchtige Lebensentwürfe moderner Gesellschaften.
Deutschland soll als bevölkerungsreichster Staat des Kontinents hier stellvertretend für den gesamteuropäischen Trend stehen. Abgesehen von Japan hat Deutschland die älteste Bevölkerung der Welt. Das Medianalter liegt bei 47,8 Jahren, das heißt: Die Hälfte der Deutschen ist älter als 47,8 Jahre. Italien rangiert auf der Liste der Greisenvölker mit einem Medianalter von 46,5 nur wenig dahinter. In anderen europäischen Ländern sieht es nicht besser aus.
Dass die Menschen älter werden, ist per se kein Problem. Wer kann schon etwas dagegen haben, wenn die Lebenserwartung steigt? Das Verhängnisvolle ist das Ungleichgewicht zwischen Jungen und Alten, das sich in den kommenden Jahrzehnten Richtung Alte verschieben wird. Die ehemalige Bundesfamilienministern Ursula Lehr (CDU) fand schon vor fast 30 Jahren einen passenden Begriff dafür: Wir haben kein Problem einer „Überalterung“, sondern einer „Unterjüngung“.
Der Altenquotient lag im Jahr 2021 in Deutschland bei rund 37: Auf 100 Personen zwischen 20 und 65 Jahren folgten 37 über 65-Jährige (in den östlichen Bundesländern liegt der Wert sogar bei 48). In den kommenden Jahrzehnten wird der Altenquotient auf fast 70 steigen. Auf einhundert 20- bis 65-Jährige werden dann 70 über 65-Jährige kommen. 1870 hatte der Wert bei unter 10 gelegen. In den östlichen Bundesländern ist der Alterungsprozess schon weiter fortgeschritten.
Deutschland – eine Urne
Auch die Alterspyramide war im Deutschen Reich 1875 noch eine Pyramide. Inzwischen hat sie sich symbolisch vielsagend der Form nach in eine Urne verwandelt.
Doch nicht nur der Altersdurchschnitt hat sich drastisch verändert, auch andere Werte wie die Fertilitätsrate lassen erahnen, wohin die demographische Reise geht. Die Fertilitätsrate gibt die Zahl der Kinder an, die eine Frau durchschnittlich in ihrem Leben bekommt, wenn man die zum aktuellen Stand geltende Geburtenrate annimmt. Während sie 1870 bei fast fünf Geburten je Frau lag, sank sie bis 1910 auf unter 4, bis vor dem Zweiten Weltkrieg auf 2,5 und schließlich auf aktuell 1,58.
Dementsprechend stark schrumpft die Bevölkerung. Laut den Vereinten Nationen werden zum Ende dieses Jahrhunderts 16 Prozent weniger Menschen in Deutschland leben als zu Anfang des Jahrhunderts – Migration miteinberechnet. In anderen europäischen Ländern entwickelt sich die Lage nach jetzigem Stand noch dramatischer. Italien wird ein Minus von 35 Prozent verzeichnen, Ungarn ein Minus von 30 und Polen gar ein Minus von 40 Prozent. Die Bevölkerung der Türkei wird hingegen um fast ein Drittel wachsen.
Die Auswirkungen einer solchen Entwicklung tangieren alle gesellschaftlichen Bereiche. Die Alterung der Bevölkerung geht meist mit politischer Stagnation einher. Das Medianalter bei der Bundestagswahl 2021 lag bei 55, das heißt die Hälfte der Wähler war über 55 Jahre alt. Da die meisten von ihnen Rentner sind (Rentner stellen die größte Wählergruppe) und auch bei der jüngeren Hälfte viele Personen für Staat, Land oder Kommunen sowie staatsnahe Organisationen arbeiten, lässt dies den Schluss zu, dass die Hälfte der Wähler direkt oder indirekt vom Staat lebt.
Niedergang in allen Bereichen
Auch die Verteidigungsfähigkeit sinkt. Auf den Soziologen Gunnar Heinsohn geht der sogenannte Kriegsindex zurück. Er besagt: Je mehr junge Männer und je mehr von ihnen ohne wirtschaftlich-gesellschaftliche Perspektive in einem Land leben, weil es zu wenig Alte gibt, deren Plätze sie einnehmen können, desto größer ist das Konfliktpotenzial. Umgekehrt könnte man natürlich schlussfolgern: Je weniger junge Männer und je mehr Alte es gibt, desto schlaffer wird eine Gesellschaft. Ein Land von Greisen kann sich eines virilen, eroberungslustigen Feindes nicht erwehren.
Neben dem Sozialkapital – bestehend aus Vereinen, Gewerkschaften und dergleichen – sinkt auch das Humankapital, was ebenso Folgen für die Innovationskraft hat. Ein Johann Sebastian Bach wäre heute nicht mehr geboren – er war das jüngste von acht Geschwistern. In der Wirtschaft gibt es weniger Konkurrenzkampf, wie bereits jetzt teilweise am Verhalten der „Generation Z“ zu beobachten ist, denen quasi alle Türen offenstehen, ohne dass sie sich großartig darum bemühen müssten. Ab 2023 werden in Deutschland 13 Jahre lang in Folge jedes Jahr eine Million Menschen in Rente gehen, worauf der Soziologe Stefan Schulz vor kurzem hingewiesen hat.
Schulz zeigt in seinem Buch „Die Altenrepublik“ auch auf, dass eine alternde Gesellschaft biochemische Prozesse verändert. Wenn es weniger Kontakte zwischen den Menschen gibt, verringert sich der Oxytocin-Wert. Das auch als Kuschelhormon bekannte Oxytocin ist demnach mitverantwortlich dafür, wie wir als Gesellschaft miteinander umgehen. Es stärkt die Paarbindung, hilft Vertrauen in andere Menschen aufzubauen, reduziert Stress und Angst, macht uns empathisch. Es wird bei Frauen während der Geburt ausgeschüttet und stärkt die Bindung zwischen Mutter und Kind. Eine im Oktober publizierte Studie kam zu dem Ergebnis, dass es auch eine heilende Wirkung auf das Herz haben kann. Was nun eine kollektive Verringerung dieses Hormons für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, für ihre Humanität und zwischenmenschliche Solidarität bedeuten könnte? Wahrscheinlich nichts Gutes.
Woran liegt es?
Was aber sind die Gründe für diesen demographischen Niedergang? Eine in der deutschen Familiensoziologie einflussreiche These zur Beschreibung der Rahmenbedingungen von Elternschaft und Familie spricht von „struktureller Rücksichtslosigkeit“ der gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber Eltern. Sie stammt vom Soziologen Franz-Xaver Kaufmann, laut dem Wirtschaft, Staat, Bildungssystem und öffentliche Dienstleistungen der Familie gegenüber „strukturell indifferent“ seien. Ein Leben ohne Kinder werde privilegiert.
Der deutsche Staat gibt im Vergleich zu Frankreich, Dänemark oder Großbritannien auch weniger Geld für familienpolitische Maßnahmen aus. Während es in Frankreich mehr als 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes sind, wendet Deutschland bloß knapp 2,8 Prozent dafür auf. Gleichzeitig setzt Deutschland ökonomische Fehlanreize, indem es die fiskalischen Stimuli zum Kinderkriegen fast ausschließlich bei ärmeren sozialen Schichten setzt, wohingegen jene in Frankreich bis weit in die Mittelschicht wirken – insbesondere dort, wo sozial intakte Familien existieren und Kinder in einem stabileren Umfeld mit besserer Ausbildung aufwachsen, wie der Ökonom Hans-Werner Sinn ausführte.
Ökonomen sind sich auch einig, dass Deutschland zwar das erste Kind einer Familie fördert, nicht aber das zweite und dritte. Jedoch ist durch die Forschungsergebnisse des Bevölkerungswissenschaftlers Herwig Birg bekannt: Die Entscheidung für das erste Kind resultiert viel weniger aus ökonomischen Anreizen als die Entscheidung für das zweite oder dritte Kind.
Eine unterschätzte Ursache
Ein nicht zu unterschätzender und in der Literatur als „Social Security Hypothesis“ diskutierter Aspekt in der Familienpolitik ist das soziale Sicherungssystem. Deutschland war das erste Land weltweit mit einer umfassenden staatlichen Rentenversicherung. Das Paradoxe ist: Diese leidet nicht nur unter den Folgen der demographischen Krise, sondern hat diese Folgen selbst mit hervorgebracht, wie der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn darlegte. Die umlagefinanzierte Rentenversicherung sei „eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit“ und die daraus resultierende Altersarmut. Auch wer selbst keine Kinder hat, müsse im Alter nicht darben, weil er von den Kindern anderer Leute ernährt werde. Sinn:
„Es ist kein Zufall, dass Deutschland, welches als erstes Land eine umfassende staatliche Rentenversicherung eingeführt hat, heute zu den Ländern mit der niedrigsten Geburtenrate gehört. Generationen von Deutschen haben seit 1889 die Erfahrung gemacht, dass man auch ohne eigene Kinder im Alter zurechtkommt, und so haben sich auf dem Wege der Nachahmung von Generation zu Generation neue Lebensmuster verbreitet, die an die neuen institutionellen Verhältnisse angepasst sind.“
Mehrere Studien zeigen auf, dass die Einführung eines umlagefinanzierten Rentensystems in fast 60 Ländern ab 1960 einen negativen Einfluss auf die Familienbildung und Geburtenziffer hatte. Kaum ein junges Paar verbinde heute noch den Kinderwunsch mit der Altersvorsorge, fasst Sinn zusammen.
Der Wert von Ehe und Familie sinkt
Doch mindestens genauso wichtig wie die ökonomischen und politischen Fehlanreize der vergangenen Jahrzehnte war der grundlegende Wandel breiter gesellschaftlicher Schichten in Sachen Ehe und Familie. Nicht nur hat sich die Ehescheidungsquote in den vergangenen 60 Jahren vervierfacht, von 10,7 Prozent 1960 auf 39,9 Prozent im Jahr 2021.
Gleichzeitig nahm die Zahl derer ab, die die klassische Ehe als erstrebenswertes Ziel sehen: Bei den 18- bis 34-Jährigen sind es aktuell 57 Prozent. Der Anteil der nichtehelichen Kinder stieg von 10,6 Prozent im Jahr 1950 auf nunmehr 32 Prozent.
Das Single-Dasein wird auch in der Popkultur und neuen sowie klassischen Medien seit Jahrzehnten als attraktives Lebensmuster angepriesen. Und das anscheinend nicht ohne Auswirkungen: Schon ältere Umfragen haben ergeben, dass die als ideal betrachtete Kinderzahl pro Frau durchschnittlich selbst dann unter zwei liegt, wenn der Staat alle von den Befragten als wichtig angesehenen Maßnahmen zur Unterstützung der Eltern umsetzen würde.
Demographie betrifft die Gesellschaft als Ganzes
Demographie ist erbarmungslos. Sie betrifft die Gesellschaft als Ganzes, sie kann ganze Länder und Völker nachhaltig verändern. In einer Demokratie manifestiert sich dies im sich wandelnden Wahlvolk. Wenn die zumeist „biodeutschen“ heutigen Rentner versterben, gewinnen jüngere Wählergruppen an Bedeutung, weil ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung steigt. Das Durchschnittsalter von Moslems etwa liegt 15 Jahre unterhalb jenem der Anders- oder Nichtgläubigen.
Laut Hochrechnungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aus dem Jahr 2021 lebten Stand 2019 rund 5,5 Millionen Moslems in Deutschland, was einem Anteil von etwa 6,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung entspricht. Dieser sowie ihr Anteil am Wahlvolk wird durch die sterbende heimische Bevölkerung und die Einbürgerungspolitik der Bundesregierung merklich steigen.
Sollte keine radikale Trendumkehr stattfinden, wird sich die Zahl insbesondere der ethnischen Deutschen bis 2060 um circa 15 bis 20 Millionen verringern. Die Frage ist demnach nicht, ob in 40 Jahren weniger Menschen in Europa leben werden, sondern nur wie viel weniger es sein werden. Die demographische Katastrophe wird nicht in einem einzigen Ereignis geschehen, sondern peu à peu. Und je länger das Problem ignoriert wird, desto ungebremster schreitet es voran und desto härter müssen Gegenmaßnahmen ausfallen.
Die Frage ist nicht ob, sondern nur noch: Wie viel weniger?
Der verstorbene FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher hielt vor über 15 Jahren fest: „Überall dort, wo wenige Kinder geboren worden sind, kriegen die dort lebenden Kinder, wenn sie groß geworden sind, noch weniger Kinder.“ Er hatte richtig erkannt: Sowohl Wachstums- wie Schrumpfungsprozesse verlaufen grundsätzlich exponentiell.
Das liegt vor allem an der veränderten Anzahl an Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter. Folgendes fiktive Beispiel einer 200.000 Einwohner zählenden Stadt mit einer Fertilitätsrate von 1,5 je Frau soll dies verdeutlichen: Die 100.000 Frauen bringen in der ersten Generation 75.000 Töchter zur Welt. Bei dieser niedrigen Fertilitätsrate können sie aber nur noch rund 56.000 Enkelinnen und nur noch 42.000 Urenkellinnen erwarten. Binnen drei Generationen sinkt die Zahl der Frauen um die Hälfte.
Der Bevölkerungswissenschaftler Birg konstatierte: „Wenn man einen demographischen Trend ein Vierteljahrhundert treiben lässt, dauert es ein Dreivierteljahrhundert, um ihn zu stoppen und umzukehren.“ Aber: Immerhin lässt er sich umkehren – darum soll es in den folgenden Teilen dieser Reihe gehen.