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Erbarmungslose Demographie – Teil 2

Der Staat kann, wenn er nur will

Deutschland hat ein riesiges Geburtendefizit, das höchste seit dem Krieg. Das verzeichneten die Statistiker für das Jahr 2021. Den rund 796.000 Neugeborenen standen da mehr als eine Million Verstorbene gegenüber – daraus ergibt sich ein Defizit von rund 228.000. Mehr Tote als Geburten: Seit nunmehr fünfzig Jahren geht das so. Der letzte Geburtenüberschuss liegt lange zurück, 1971. Seitdem nimmt die Dynamik unseres Volkes ab.

Für eine höhere Geburtenrate kann der Staat aktive Bevölkerungspolitik betreiben. Sollte der Staat jedoch, so könnte man fragen, in die Familienplanung eingreifen? Kinder zu bekommen oder nicht zu bekommen, sind das nicht ganz persönliche Entscheidungen der Bürger?

Durchaus, doch greift der Staat ohnehin schon seit Jahrzehnten in die Familienplanung ein, und zwar unmerklich, weil systemisch, indem er durch die Art, wie die gesetzliche Rentenversicherung eingerichtet ist, den Kinderwunsch vertreibt.

Der Staat kann dafür sorgen, dass Kinderkriegen sich finanziell auszahlt: Indem er die gesetzliche Rente so gestaltet, dass Eltern, die Kinder großgezogen haben, eine umlagefinanzierte Rente beziehen, die der generativen Leistung, die sie erbracht haben, auch entspricht. In der öffentlichen Debatte kursieren dafür die Begriffe Mütterrente, Elternrente oder Kinderrente.

Rente so umbauen, dass Kinderlose nicht mehr haben als Eltern

Der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn hat dafür folgendes Konzept mit zwei Säulen vorgeschlagen: Die gesetzliche Rente wird beibehalten und auf breiterer Basis als heute erhoben, denn Beamte und Selbstständige müssen ebenso einzahlen wie Arbeitnehmer. Aber die Rente wird im Gegensatz zu heute nicht ständig aus Steuermitteln aufgepäppelt, sondern der Beitragssatz und der Bundeszuschuss eingefroren. Das Rentenniveau sinkt unweigerlich (nach Sinns Berechnungen in 30 Jahren auf die Hälfte), was dann zur Existenz im Alter nicht reicht und aufgestockt werden muss. Diese niedrige Altrente bleibt, Eltern hingegen erhalten die ergänzende Kinderrente.

Das geschieht mit der zweiten Säule: der verpflichtenden privaten Vorsorge durch kapitalgedecktes Sparen für jeden, der ins Erwerbsleben eintritt. Ein Beitrag in Höhe von sechs bis acht Prozent des Bruttoeinkommens, wie Sinn ihn vorschlägt, bringt die Gesamtrente auf das heutige Niveau. Der Clou ist nun: Wird ein Kind geboren, wird ein Drittel des angesammelten Ersparten ausgezahlt und ein Drittel des weiteren Pflichtsparens erlassen. In Proportion zur Kinderzahl wird ein Rentenanspruch aufgebaut. Wer dann drei und mehr Kinder großzieht, ist vom Pflicht-Rentenansparen befreit, denn er hat das Realkapital durch Humankapital ersetzt. Eltern mit drei Kindern kommen in den vollen Genuss der umlagefinanzierten Kinderrente.

Wer unterdessen keine Kinder bekommen will oder kann, muss während seines gesamten Erwerbslebens pflichtmäßig Geld am Kapitalmarkt anlegen, um sich so für sein Alter eine kompensierende Zusatzrente aufzubauen.

Mit diesem System werden Kinderlose, anders als mit dem heutigen Rentensystem, keinen höheren Lebensstandard mehr haben als Eltern und sich daher motiviert fühlen, Nachwuchs in die Lebensplanung einzubeziehen.

Die Sarrazin-Prämie und das ungarische Modell

Der streitbare Sozialdemokrat Thilo Sarrazin setzt ebenfalls auf monetäre Anreize, um – und das ist das Besondere seines Modells – explizit die Fertilitätsrate gebildeter Frauen zu erhöhen. In seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ schlug der damals noch der SPD angehörende Autor eine selektive staatliche Prämie von 50.000 Euro vor: für jedes Kind, das vor Vollendung des 30. Lebensjahres solcher Mütter geboren wird, die ein abgeschlossenem Studium vorweisen können. Der Anreiz sollte nur für jene Gruppen gesetzt werden, „bei denen eine höhere Fruchtbarkeit zur Verbesserung der sozioökonomischen Qualität der Geburtenstruktur besonders erwünscht ist“.

Weiter kann die Regierung darauf hinwirken, dass in Wirtschaft und Behörden mehr Halbtags- und Teilzeitstellen geschaffen werden, was Frauen und Müttern entgegenkäme. Untersuchungen zeigen die sehr unterschiedliche Verteilung solcher Arbeitsmodelle in Europa – in manchen skandinavischen Ländern arbeitet jede 4. Frau in Teilzeit, in Polen dagegen nur jede 10. wegen der begrenzten Möglichkeiten dafür. Das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung hatte in einer Studie von 2014 einmal gezeigt, dass 100 neue Krippenplätze statistisch zur Geburt von zehn weiteren Kindern führen.

Zu den monetären Anreizen aktiver Bevölkerungspolitik kann es auch gehören, Familien bei vielen Kindern etwa mit Einfamilienhauszulage oder Autokaufzulage unter die Arme zu greifen – und damit gleichzeitig ein Signal zu setzen. Unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten kommen an Fruchtbarkeit gekoppelte Barleistungen den Staat allemal billiger als die finanziellen und gesamtgesellschaftlichen Probleme, die durch die demographische Lücke entstehen.

Das Ungarn von Ministerpräsident Viktor Orbán ist auf diesem Weg Vorreiter in Europa. Mit einigem Erfolg: Lag die Fruchtbarkeitsrate in Ungarn 2011 bei 1,25 pro Frau, war sie zehn Jahre später auf durchschnittlich 1,59 Kinder gestiegen.

Vorschau Fertilitätsrate in Ungarn
Fertilitätsrate in Ungarn: Orbáns Politik der Anreize zeigt erste Erfolge

Polens „Familie 500plus“ hat die Demographie auf dem Schirm

Auch Polen betreibt unter der sozialkonservativen PiS-Regierung seit 2015 aktive Bevölkerungspolitik mit dem erklärten Ziel, die Zahl der in Polen geborenen ehelichen Kinder zu erhöhen. Warschau setzt dabei im Unterschied zu Ungarn zumeist auf Unterstützungsleistungen nach dem Gießkannenprinzip, das heißt Familien kommen unabhängig von ihrem Einkommen in den Genuss der Leistungen.

Das Familienbeihilfeprogramm „Familie 500plus“ hat Kindergeld in für polnische Verhältnisse so beträchtlicher Höhe gebracht, dass sich Nachwuchs lohnen kann. Das Kindergeld für Eltern mit drei Kindern liegt in Polen bei 1.500 Złoty (umgerechnet ca. 320 Euro, Stand 03.01.2023). Zum Vergleich: Eine gleich große Familie in Lettland erhält nur 134 Euro je Monat, im benachbarten Estland sind es hingegen 520 Euro.

Das Hauptziel der im November in Warschau beschlossenen Demographie-Strategie der Regierung besteht darin, „die Fruchtbarkeitsrate in Polen bis 2040 in die Nähe des Ersatzniveaus zu bringen“. Kritiker wenden dagegen ein, dieses Ziel sei nicht ansatzweise zu erreichen, zumal nicht ohne massive Einwanderung, denn allein zwischen 2015 und 2019 ist die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter um mehr als 250.000 gesunken, was zwangsläufig zu weniger Geburten führen muss. Die nüchternen Rechnungen der Statistiker prognostizieren für 2050 in Polen denn auch 100.000 Geburten weniger gegenüber heute.

Vorschau Bisherige und prognostizierte Geburtenzahl Polens
Bisherige und prognostizierte Geburtenzahl Polens 1980 – 2050

Kredite für junge Familien zum „Abkindern“

Beispiele für finanziell ausgerichtete familienpolitische Unterstützung gibt es auch aus der deutschen Geschichte: Dem Ehestandsdarlehen aus der NS-Zeit und dem zinslosen Ehekredit der DDR war gemein, dass sie sich „abkindern“ ließen. Nach vier Kindern „bei Hitler“ und nach drei Kindern „bei Honecker“ wurde aus der Schuld ein Zuschuss. Zur Wahrheit gehört indes auch, dass das Darlehen aus den dreißiger Jahren zwar die Zahl der Eheschließungen erhöhte, aber nicht wie erhofft die Kinderzahl und das Kanonenfutter, und die Ehekredite, die die DDR-Sparkassen ab 1972 auf Antrag ausgaben, wurden von jungen Ehepaaren nur zu einem Viertel durch Geburten „abgekindert“.

Eine „Willkommenskultur“ für einheimische Familien und Kinder zu erzeugen ist hingegen weniger kostenträchtig: Die Bundesregierung könnte mit Plakatkampagnen oder über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk crossmedial das Image von Familienmüttern und -vätern verbessern und im großen Stil Familiengründungen popularisieren. So, wie sie mit Fernsehspots beispielsweise zum Eintritt in die Bundeswehr wirbt („Wir schützen Deutschland“). Beides scheint aus Sicht des Staates legitim, denn sowohl starke Familien und eine größere Volkszahl wie auch zur Abschreckung fähige Streitkräfte dienen dem Bestand des Gemeinwesens.

Wer das als übergriffige Massenbeeinflussung empfindet, kann sich fragen, wie er über die noch kürzlich allgegenwärtige Regierungspropaganda zur Akzeptanz der Coronamaßnahmen im Allgemeinen und zur Covid-Impfkampagne im Besonderen gedacht hat.

Bundespräsident übernimmt Patenschaft fürs siebte Kind: gelebte Wertschätzung

Der Staat könnte die Intensität, die er in zweifelhafte Beratungsangebote für Schwangere im Konflikt steckt, in den Kampf für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in gesundes Essen für Kinder, oder mit der er in der Corona-Zeit fürs Impfen und Abstandhalten bis hin zur Nötigung agitiert hat, in Beratungsangebote für das Leben umlenken und alles daransetzen, dass Mütter auch mit dem Kind zu Hause bleiben können – ohne dafür finanziell und rentenrechtlich schlechter gestellt und ideologisch als rückständig verächtlich gemacht zu werden.

Apropos Vorbilder für die Öffentlichkeit: Der letzte deutsche Regierungschef, der eine normale Familie mit eigenen Kindern hatte, war Helmut Kohl. Dessen Nachfolger Gerhard Schröder ließ sich viermal scheiden (bis jetzt) und ist gegenwärtig mit der fünften Frau verheiratet; zwei russische Waisenkinder hatte er während einer früheren Ehe adoptiert. Interessant: An den gehörnten Ehemann seiner fünften Frau Soyeon Kim musste Schröder Schmerzensgeld zahlen, wie ein südkoreanisches Gericht verfügte, da in Korea Ehebruch strafbar ist. Andere Länder haben noch andere Maßstäbe.

Die Einrichtung, dass der Bundespräsident die (symbolische) Patenschaft für das 7. Kind übernimmt – und dieses Patenkind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen muss –, ist aus einer Zeit herübergerettet worden, als der Staat es noch wertgeschätzt hat, wenn seine Bürger viel Nachwuchs bekamen.

Schluss mit Abtreibung über die Krankenkassen

Es gibt noch mehr Möglichkeiten, mit denen Regierungen zeigen können, dass ihnen Kinder willkommen sind: In Finnland bekamen Eltern in den achtziger Jahren ein Paket mit der Grundausstattung für ein Neugeborenes. Der Karton war mit Bedacht so konstruiert, dass man ihn für die ersten Wochen als Kinderbettchen verwenden konnte.

Last but not least gehört es zu einer aktiven Bevölkerungspolitik, dass die Regierung dem Ziel zuwiderlaufende Leistungen konsequent streicht und für das Leben umleitet: Dass mit den Körperschaften des öffentlichen Rechts Teile der Staatsverwaltung, von den Kassenärzten hoch über die Kassenärztlichen Vereinigungen bis zu den gesetzlichen Krankenversicherungen, die vorgeburtliche Tötung ungewollter Kinder ausführen, bürokratisch ermöglichen und sie bezahlen, ist eine Kulturschande ohnegleichen und kann nicht bleiben. Schwangerschaft ist keine Krankheit, nicht medizinisch gebotene Schwangerschaftsabbrüche können nicht Teil des Leistungsspektrums der gesetzlichen Krankenversicherung sein.

Laut der Bundesvorsitzenden der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA), Claudia Kaminski, gibt es in Deutschland „noch knapp 650 Geburtshilfen, in denen jedes Jahr rund 750.000 Kinder geboren werden“. Zugleich gebe es „fast doppelt so viele Abtreibungseinrichtungen, in denen jedes Jahr rund 100.000 Abtreibungen durchgeführt werden“. Wer „Familienpolitik betreiben und sich für Frauengesundheit stark machen“ wolle, müsse also die „Geburtshilfe stärken“.

Der Wähler hat es in der Hand

Fazit: Aktive staatliche Bevölkerungspolitik kann über Leistungen, Rentenrecht und Öffentlichkeitsarbeit die demographische Situation eines Landes verbessern. Das setzte freilich voraus, dass das Wahlvolk einsichtig ist und einer Regierung mit entsprechendem Programm auch ein Mandat erteilen würde.

Der dritte und abschließende Teil unserer Reihe wird daher der Frage nachgehen, warum staatliche Maßnahmen allein eine Wende hin zum Leben nicht bewirken werden.

 

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