„Hoffe, dass sich in Syrien ein säkularer Staat etablieren wird“

In einem römisch-katholischen Kirchenlied lautet eine Zeile: „Es werden Erdenreiche fallen, / Dein Reich, Herr, steht in Ewigkeit“. So ist es jüngst auch in Syrien geschehen: Unverrückbar Zementiertes fällt innerhalb von Stunden zu Staub. Bewaffnete oppositionelle Gruppen, darunter die islamistische Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), rangen mit einer Großoffensive binnen Tagen das staatsterroristische Folterregime des Assad-Clans nieder. Diktator Baschar al-Assad entwich in der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember nach Moskau, seine Paläste wurden geplündert und verwüstet, der Sarg seines Vaters von den neuen Machthabern angezündet, die seit 1963 diktatorisch herrschende sozialistische Baath-Partei stellte ihre Tätigkeit ein, die politischen Gefangenen aus den zahllosen Verließen erhielten die Freiheit. „Er stürzt die Mächtigen vom Thron“ jubiliert die Gottesmutter Maria im „Magnificat“.
Nach dem Umsturz waren Freude und Erleichterung über den Fall des Regimes in Syrien zunächst groß. Die weitere Entwicklung des Landes ist freilich ungewiss, insbesondere für Christen und andere Minderheiten. Der neue starke Mann in Syrien, der bis vor kurzem international als Terrorist gesuchte Abu Muhammad al-Dscholani und seine islamistische HTS, starteten eine Charmeoffensive und versprachen das, was man im Westen gern hört: Schutz aller Minoritäten, Ausgleich, Gerechtigkeit.
Noch nirgendwo in der arabischen Welt hat es „gemäßigte“ Dschihadisten gegeben. Beobachter zeichnen auch deshalb ein düsteres Bild der syrischen Zukunft. Die Weltpresse berichtet seit Dezember von Provokationen gegen Christen, Plünderungen, Vertreibungen, Entführungen und Morden, sowohl im Christenviertel der Hauptstadt Damaskus, in Hama und Umgebung und in der ältesten christlich-aramäischen Stadt des Landes Maaloula. Schon ist von Änderungen des Lehrplans mit islamistischer Ausrichtung die Rede.

Pater Vahan Hovagimian stammt aus der Stadt Qamishli im Nordosten Syriens. Corrigenda traf den Geistlichen zum Gespräch, um seine Einschätzung der aktuellen Situation der Christen in Syrien zu erfahren. Aktuell ist Pater Vahan der Pfarrer der armenisch-katholischen Gemeinde Maria Schutz im Wiener 7. Bezirk Neubau. Die armenisch-katholische Kirche ist seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Rom uniert.
Als Jugendlicher trat Hovagimian in den armenisch-katholischen Mechitaristenorden ein und kam im Zuge dessen nach Österreich, da sich in Wien seit 1811 eine Niederlassung der Ordensgemeinschaft befindet. Eine weitere liegt in Venedig. An der Universität Wien absolvierte der heute 64-Jährige dann auch sein Theologiestudium. Nach der Priesterweihe verließ er Österreich wieder Richtung Orient, um für das Schulwesen der Mechitaristen tätig zu sein. So leitete er Schulen des Ordens in Beirut und Aleppo. Das Patriarchat in Beirut wurde nach dem Ersten Weltkrieg errichtet.
Die zum Mechitaristenkloster gehörende Kirche Maria Schutz ist das geistliche Zentrum der katholischen Armenier Wiens. Der armenisch-katholische Mechitaristenorden, der 1701 von Mechitar von Sebaste in Konstantinopel gegründet wurde, hat sich um die Bewahrung und Weiterentwicklung der armenischen Kultur sehr verdient gemacht. Die Wiener Niederlassung gilt als bedeutendes Zentrum armenischer Kultur in Mitteleuropa. Nach eigenen Schätzungen zählt die armenisch-katholische Gemeinde in Österreich bis zu 500 Mitglieder. (Markus Prochaska/CR)
Pater Vahan, Sie gehören der armenischen Minderheit Syriens an, die vor allem in Aleppo stark vertreten ist. Welche Berichte erreichen Sie aktuell von dort?
In Aleppo sind ca. 80 Prozent sunnitische Muslime, die restlichen 20 Prozent setzen sich aus Christen, Alawiten und Drusen zusammen, wobei man mit den Zahlen vorsichtig sein muss, da viele inzwischen geflüchtet sind. Sowohl unter Hafiz al-Assad als auch unter seinem Sohn Baschar waren die Minderheiten geschützt, insbesondere die Armenier waren als Kaufleute und Handwerker auch sehr geschätzt. Es gab vor dem Krieg keine Diskriminierung in Aleppo.
Zu der Frage, wie es seit dem 8. Dezember dort aussieht: Ich habe lange gezögert, Leute direkt zu kontaktieren, denn nach solchen Umstürzen ist es nicht klar, wie frei die Leute tatsächlich sprechen können. Zu Weihnachten habe ich mit einer befreundeten Familie telefoniert. Es ging ihnen so weit gut, nur wissen sie eben nicht, wie es jetzt genau weitergehen wird. Ich habe ihnen gesagt, sie müssen mir jetzt nicht alles erzählen, da ich weiß, dass man im Moment nicht so frei reden kann. Trotzdem habe ich ihnen frohe Weihnachten gewünscht. Ich bin ein positiver Mensch und hoffe, dass sich in Syrien ein säkularer Staat etablieren wird.
Das heißt, Berichte über Übergriffe haben Sie in den letzten Wochen keine erhalten?
Ich habe einige Meldungen in deutschen Medien dazu gehört. Es werden aktuell leider auch ältere Videos oder Bilder verbreitet, zum Beispiel, wie ein Sunnit im christlichen Dorf Maaloula vor mehreren Jahren eine Marienstatue umwarf. So was ist gefährlich. Natürlich passieren im Hintergrund Gewaltakte, wie dass Weihnachtsbäume angezündet oder christliche Familien attackiert werden. Man muss abwarten. Von Seiten der neuen Regierung heißt es, es wird eine neue Verfassung geben, in der alle Gruppen gleichberechtigt sind. Wahlen sollen aber erst in vier Jahren stattfinden. Man muss schauen, wie sich das jetzt weiter entwickeln wird.
Einerseits genossen Christen unter Assad ein recht großes Maß an Religionsfreiheit, andererseits war man auch durch die allgemeine Repression betroffen. Überwog nach dem Sturz des Regimes die Erleichterung oder die Angst?
Es überwog die Angst. Man weiß eben nicht, wie genau es in Syrien weitergehen wird, darum haben viele Christen Angst. Es gibt aber auch einige, die Hoffnung haben. Ein Mensch braucht Sicherheit, aber wann es diese Sicherheit wieder geben wird, ist schwer zu sagen.
An Weihnachten haben Unbekannte einen Christbaum in al-Suqaylabiyah in der Provinz Hama im Westen des Landes in Brand gesteckt. Deutet diese Tat auf den Beginn einer neuen Christenverfolgung in Syrien?
Es ist verfrüht, von Christenverfolgung zu sprechen. Die Christen waren mit der alawitischen Regierung verbündet – wenn auch nicht immer zu 100 Prozent –, die Muslime fühlten sich dadurch schlechtergestellt. Aus ihrer Perspektive ging es den Christen besser als ihnen. Das führte zu Neid, und die Christen wurden zu Sündenböcken.


Bereuen einige Christen ihre Unterstützung für das Assad-Regime, seitdem Gräueltaten wie die im Saidnaya-Gefängnis ans Tageslicht kamen?
Da es den Christen allgemein recht gut ging, waren viele dafür, dass das Regime bleibt. Aus einer christlichen beziehungsweise natürlich auch menschlichen Perspektive ist es klar, dass es falsch war, die Leute so zu behandeln. Manche, aber sehr wenige, haben es bereut. Wir Christen waren durchaus zufrieden, weswegen wir die Repressionen nicht so gespürt haben.
Haben Sie eine Idee, warum der Sturz Assads dann doch so schnell vonstattenging?
Ich habe Vermutungen. Zum Beispiel, dass Teile der Armee mit dem Regime unzufrieden waren. Es gab Gerüchte, dass Gehälter nicht pünktlich oder gar nicht bezahlt wurden, gleichzeitig wussten die Leute aber durchaus, oder hatten zumindest davon gehört, in welchem Saus und Braus die Assad-Familie lebte. Dieser Kontrast erzeugte natürlich Unmut.
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Des Weiteren könnte es auch sein, dass Bestechungsgelder an Soldaten und Generäle geflossen sind – sowohl von HTS als auch von anderen Ländern wie der Türkei oder aus Israel. Die Türkei hatte zudem schon lange ihre Hand im Spiel mit dem Ziel, Assad zu stürzen. Jetzt liegt der Fokus des türkischen Präsidenten Erdoğan darauf, die Autonomiebestrebungen der Kurden im Nordosten Syriens zu unterdrücken. Aber auch der Iran spielte eine Rolle, politisch ist das alles sehr verzwickt.
Die HTS beziehungsweise ihr Vorgänger, die Nusra-Front, war auch an Verbrechen gegen Christen beteiligt. Kann unter ihrer Herrschaft jetzt überhaupt eine Versöhnung gelingen?
Die Christen werden sich daran erinnern, was ihnen widerfahren ist. Jemand, dessen Bruder oder Onkel von einer Gruppierung umgebracht wurde, die jetzt die Regierung stellt und sich moderat gibt, wird sich dennoch immer daran erinnern, so etwas kommt immer wieder hoch. Eine Versöhnung wird lange dauern, das braucht viel Zeit. Und es muss von beiden Seiten kommen. Verzeihen ist eine christliche Tugend, von der Gegenseite braucht es Toleranz. Meiner Meinung nach ist HTS aber nicht tolerant, es könnte zum Beispiel die Dschizya, die Steuer für Nichtmuslime, wieder eingeführt werden. Da sagt man dann den Christen, ihr dürft zwar hier leben, aber müsst dafür die Schutzsteuer bezahlen. Und auch die Frauenrechte werden eingeschränkt werden.
Al-Dscholani, der Anführer von HTS, betont die Einheit Syriens und die Gleichheit aller Bürger – unabhängig der Konfession. Jüngst traf er sich auch mit dem libanesischen Drusenführer und Sozialisten Walid Dschumblat. Wird ihm von christlicher Seite Vertrauen entgegengebracht oder misstraut man seinen Aussagen?
Sie befinden sich hier ein bisschen in der Klemme. Die Umsturz ging sehr schnell, und viele Christen wollen ihre Häuser, ihre Kirchen und ihre gesamte Kultur nicht einfach so aufgeben und von heute auf morgen das Land verlassen. Dscholani hat kurz darauf ein Treffen mit den Vertretern der Religionsgemeinschaften organisiert, an dem auch Vertreter der armenischen Kirchen teilnahmen, bei dem Versprechen gemacht wurden, dass die Christen auch weiterhin ein Teil Syriens sein werden. Wie lange diese Versprechen halten werden, ist die Frage. Einige Christen haben Hoffnung, andere weniger. Aber es wird wohl nie wieder so sein wie vor dem 8. Dezember.
An der alawitisch besiedelten Mittelmeerküste ist es zu Protesten und bewaffneten Zusammenstößen gekommen. Ihre Heimatstadt Qamishli, im Nordosten Syriens, wird durch die Kurden kontrolliert. Kann Syrien als Einheit überhaupt bestehen bleiben?
Meiner Meinung nach nicht. Der Nordosten wird durch die Kurden kontrolliert und autonom verwaltet; der Norden durch die türkische Armee und die mit ihr verbündete SNA, die Syrian National Army; an der Küste leben die Alawiten. Wenn Syrien als Einheit bestehen bleiben soll, dann muss es föderal sein, zum Beispiel aufgeteilt in Kantone, wie die Schweiz, und natürlich säkular. Man darf die Christen und andere nichtmuslimische Minderheiten nicht zu Sachen zwingen, die inakzeptabel sind.
„Christliche Familien haben oft nur ein, zwei Kinder“
Ist unter diesen Umständen an ein Ende des Bürgerkrieges zu denken?
Nein. Wie kann Friede herrschen, wenn, zum Beispiel, die Türkei jederzeit von Norden aus eindringen kann, um mit ihren syrischen Verbündeten gegen die Kurden vorzugehen? Es gibt eben fremde Einflüsse, und solange die noch da sind, ist an ein Ende des Krieges nicht zu denken.
Durch den Krieg ist die Zahl der Christen in Syrien drastisch gesunken, so wie in vielen anderen Ländern des Nahen Ostens. Hat das Christentum eine Überlebenschance in dieser Region?
Wenig. Christliche Familien haben oft nur ein, zwei oder maximal drei Kinder, während es auf muslimischer Seite oft mehr als vier sind, manchmal sogar sieben oder acht. Das pusht natürlich die demografische Entwicklung entsprechend. Einerseits müssen die islamischen Länder mehr Toleranz entwickeln, es muss auch mehr Fokus auf Bildung gelegt werden. Andererseits fungieren viele Kinder auch als Ersatz für ein modernes Sozialsystem, das in islamischen Ländern oft fehlt. Wenn jemand im hohen Alter eine gute Pension bekommt, dann braucht er keine acht Kinder zu bekommen, um sich abzusichern.
So sehe ich das, aus einer langfristigen Perspektive. Ein Hoffnungsschimmer ist sehr schwer vorstellbar für mich. Ich habe ja in Aleppo und Qamishli gelebt, und ich vergleiche die Größe der christlichen Gemeinden in diesen Städten vor 2011 mit der Größe von heute. In den 1970ern gab es zum Beispiel in Qamishli noch viele christliche Aramäer, Armenier oder andere arabischsprachige Christen. Die Zahl ist deutlich geschrumpft, und der Trend ist keineswegs nur ein syrischer. Aber wer weiß, manchmal können sich die Dinge sehr schnell ändern, wie man gesehen hat. In nur 13 Tagen fiel das Regime.
Wie können europäische Länder helfen?
Die sollen sich selbst helfen (lacht). Nur mit Geld allein ist nichts getan. Bildung ist wichtig, Dinge wie Aufklärung Toleranz, die im Nahen Osten leider fehlen, sind wichtig. Europa könnte vielleicht helfen, wenn man neue Generationen von Studenten nach Europa holt, zum Beispiel mit dem Erasmus-Programm, aber mit der Bedingung, dass sie wieder in den Nahen Osten zurückkehren und dort helfen, die Länder aufzubauen.
Kommentare
„Die sollen sich selbst helfen“ ...
Herzlichen Dank für den sachlichen, differenziert betrachtenden Bericht. Das ist im Moment leider alles, was ich Ihnen schreiben kann. Bitte grüßen Sie unbekannter Weise Pater Vahan Hovagimian.