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Europapolitik

Kleines Deutschland und großes Frankreich – das birgt Konfliktpotenzial

Mitte April publizierte ein prominenter Mitarbeiter einer internationalen Unternehmensberatung in der Financial Times einen Artikel über das seiner Ansicht nach gestörte Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland innerhalb der EU. Schon zuvor hatte der Spiegel von einer starken „Entfremdung“ zwischen den beiden Ländern berichtet, während der frühere Berater des Präsidenten Mitterand, Jacques Attali, im Oktober 2022 sogar die These aufgestellt hatte, ein Krieg zwischen den beiden Ländern sei wieder denkbar geworden. Attali ist eher eine etwas dubiose Figur, besaß aber bis vor einigen Jahren durchaus noch Einfluss hinter den Kulissen, so dass solche polemischen Zuspitzungen dann doch mehr sind als die reinen Horrorphantasien eines Pensionärs.

Auffällig ist der Widerstand Frankreichs gegen die deutsche Energiepolitik, der seinen Ausdruck etwa in der Blockade des Baus einer Gaspipeline zwischen Spanien und Deutschland findet, oder auf der anderen Seite die unverhohlene deutsche Kritik an der vermeintlich „naiven“ Distanzierung von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron von den USA in der Taiwan-Frage, die in Frankreich durchaus registriert wurde.

Dabei hätte alles so schön werden können. Schließlich bekannte sich die Regierung von Kanzler Olaf Scholz (SPD) im Koalitionsvertrag ausdrücklich zum Ziel der Schaffung eines europäischen Bundesstaates, und namentlich die Grünen haben sich die baldige Überwindung des Nationalstaates schon seit langem auf die Fahnen geschrieben.

Aber auch Scholz hatte noch als Finanzminister unter Angela Merkel (CDU) die massive Aufnahme gemeinsamer europäischer Schulden, die in den EU-Verträgen gar nicht vorgesehen war, jubelnd als „Hamilton-Moment“ der EU, also als Vorstufe für eine komplette Fiskalunion, gefeiert.

Deutschlands Deindustrialisierung und Energiepolitik tangiert die gesamte EU

Bessere Partner als Scholz und die Grünen könnte sich Emmanuel Macron mit seinem Ziel, ein „souveränes Europa“ zu schaffen, also eigentlich gar nicht wünschen, und dass der deutsche Finanzminister da gelegentlich ein wenig, aber meist nur vorübergehend, stört, damit könnte man in Paris wohl leben.

Aber die Dinge sind komplexer. Scholz selbst scheint in der Tat an Frankreich politisch und erst recht kulturell wenig interessiert zu sein und ist auch anders als Merkel nicht bereit, dieses persönliche Desinteresse zu verbergen, vielleicht auch, weil die persönliche Rivalität zu Macron stärker ist als bei Merkel. Dazu kommt aktuell die deutsche Energiepolitik, die anders als die französische ganz darauf setzt, vollständig ohne Kernkraft auszukommen.

Eigentlich könnte es der französischen Regierung gleichgültig sein, wenn Deutschland sich dadurch als Industriestandort sein eigenes Grab gräbt. Aber so einfach ist es nicht, denn wenn in Deutschland Energieknappheit herrscht, treibt das die Preise etwa für Strom in der ganzen EU – die ja ein einheitlicher Markt ist – in die Höhe, und das trifft dann auch Frankreich.

Hinter der deutschen Energiepolitik stehen vor allem die Grünen, die auf den ersten Blick eigentlich wie die idealen Partner des französischen Präsidenten Macron erscheinen könnten. Sie würden sicher auch Macrons Forderungen nach einer von Brüssel gesteuerten schuldenfinanzierten (grünen) Industriepolitik der EU befürworten.

Wenn die Grünen sich nicht mit der Menschheit identifizieren, dann am ehesten mit dem Westen

Dass die dann großzügig ausgeschütteten Subventionen eher dem Süden, der europäischen Peripherie und auch französischen Konzernen, nicht aber der deutschen Wirtschaft zugutekämen, würde viele Grüne wohl wenig stören, solange die Industriepolitik dem ökologischen Umbau der Wirtschaft und der Reduktion des CO2-Ausstoßes diente.

Dennoch scheint das Verhältnis der Grünen zu Frankreich zurzeit ein eher schwieriges zu sein, und das liegt wohl doch nicht nur an der Gegnerschaft zur Kernkraft, die für Frankreich so wichtig ist. Die Grünen lehnen den Nationalstaat, der in Deutschland ohnehin nur von wenigen Politikern offen verteidigt wird, besonders vehement ab, was sie freilich nicht daran hindert, mit sehr deutschen Politikkonzepten die ganze Welt retten zu wollen.

Überdies können sie, weil ihnen der Nationalstaat so fremd ist, mit Macrons Idee eines „souveränen Europas“, das zwischen China und den USA seinen eigenen Weg findet, meist wenig anfangen. Dazu müsste man dann eben doch bereit sein, Europa ansatzweise auch als kulturelle Gemeinschaft mit einer spezifischen Geschichte, zu der auch der Aufstieg der Nationalstaaten gehört, zu verstehen.

Wenn die Grünen sich überhaupt mit einer größeren politischen Gemeinschaft, die nicht mit der ganzen Menschheit identisch ist, identifizieren, dann ist es am ehesten der „Westen“ als Wertegemeinschaft, in dessen Zentrum die USA und nicht etwa Frankreich stehen, wie Wolfgang Streeck, einer der schärfsten linken Kritiker einer rein postnationalen Politik, kürzlich noch einmal betont hat. In Frankreich herrscht aber rechts wie links eine erhebliche Skepsis gegenüber einer amerikanischen Hegemonie sowohl in der Politik wie in der Kultur vor, auch weil man eher das eigene Land als natürliche Führungsmacht sieht.

Warum Deutschland als Partner unberechenbar ist

Von daher ist das Verhältnis der Grünen zur französischen Europapolitik durch vielfältige Spannungen geprägt, aber das ist sicherlich nicht der einzige Grund für die zurzeit nicht übermäßig guten Beziehungen zwischen Paris und Berlin. Deutschland, zunächst Westdeutschland, dann auch das vereinigte Deutschland, hatte es sich nach 1945 zum Prinzip gemacht, seine nationalen Interessen wenn irgend möglich nicht offen zu artikulieren, ganz besonders nicht in europapolitischen Fragen.

Für ein auch moralisch durch eigene Schuld am Boden liegendes Land war es naheliegend, sich kleinzumachen und nur indirekt als Juniorpartner stärkerer Mächte oder als Mitglied einer übernationalen Gemeinschaft geräuschlos seine vorwiegend wirtschaftlichen Anliegen zu vertreten. Dass Deutschland nach 1989 bei dieser Linie blieb, ist freilich auffällig. Auf den ersten Blick wurde es damit für die anderen Länder in der EU und namentlich für Frankreich zu einem eher bequemen, weil konfliktscheuen Partner.

Aber so bequem das meist nachgiebige Deutschland in vielen Fragen – man denke an die Demontage des No-bail-out-Prinzips in der Eurozone und der Regeln für die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in den vergangenen 14 Jahren – als Partner Frankreichs war und ist, so wenig ist ein Land berechenbar, das seine eigenen Interessen nicht offen artikuliert und dessen politische Elite diese Interessen oft nicht einmal erkennen will.

Es ist wie ein Mann ohne Eigenschaften, der sich stärker von den Eingebungen des Augenblicks leiten lässt als von klaren Zielvorstellungen, zu denen die Schaffung eines von Frankreich geführten „souveränen“ Europa in Paris sicher gehört. Die relative Indifferenz des deutschen Kanzlers gegenüber vielen Themen der Europapolitik spiegelt in diesem Kontext auch einfach das Fehlen eigener politischer Konzepte wider.

Der französische Hegemonieanspruch droht die EU dauerhaft zu schwächen

Allerdings hat Frankreich selbst viel dazu beigetragen, die deutsch-französischen Beziehungen zu belasten. Das Beharren darauf, dass auch noch die letzten Reste des ohnehin kaum wirksamen Stabilitätspaktes in der Eurozone – an den sich Frankreich freilich ohnehin nie gebunden fühlte – beseitigt werden, zerstört auf Dauer das Vertrauen zwischen den beiden Ländern. Hinzu kommt noch der Versuch, eine immer weiter gehende Transferunion zu Lasten Deutschlands und anderer nördlicher EU- und Eurozonenländer durchzusetzen. Die deutsche Regierung wird das freilich nie offen aussprechen.

Auf einer anderen Ebene ist zwar Macrons Beharren darauf berechtigt, Europa müsse auch verteidigungspolitisch stärker selbständig werden und dürfe sich nicht einfach bedingungslos der Politik der USA etwa gegenüber China unterordnen. Aber wenn es um die konkrete Umsetzung solcher Vorstellungen geht, steht doch immer wieder das Bemühen im Vordergrund, die eigene Industrie zu fördern, wie jetzt beim Streit um die Munitionslieferungen der EU an die Ukraine (Frankreich bestand ursprünglich darauf, dass man keine Munition von nicht-europäischen Firmen kauft).

Wenn sich hier schon Probleme abzeichnen, dann ist für die Zukunft mit noch sehr viel größeren Konflikten zu rechnen. Wird die Ukraine innerhalb der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre wirklich Vollmitglied in der EU, dann wird das eine vollständige Neustrukturierung des gemeinsamen Agrarmarktes und der Subventionen für die Landwirte notwendig machen, ein für Frankreich, das immer noch massiv von diesen Subventionen profitiert, sehr heikles Thema, von den übrigen gigantischen Kosten einer solchen Erweiterung einmal abgesehen.

Die EU wird immer stärker in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen

Außerdem ist deutlich, dass die EU-Kommission immer stärker in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen wird, legitimiert durch den Kampf gegen die Erderwärmung, aber auch durch das Streben nach einer größeren Autarkie Europas in strategisch wichtigen wirtschaftlichen Sektoren. Dieser Dirigismus entspricht einem Grundmuster der französischen Wirtschaftspolitik seit dem Krieg, ist aber mit dem deutschen Wirtschaftsmodell, das bislang sehr viel liberaler war, schwer zu vereinbaren und droht damit wichtige Fundamente des deutschen Wohlstandes zu zerstören. Das wird für eine protektionistische Handelspolitik der EU, die mit dem Streben nach Autarkie einhergeht, erst recht gelten, da Deutschland als Exportnation auf relativen Freihandel angewiesen ist.

Für Frankreich stellt sich damit freilich auch ein Problem. Paris ist an einem Deutschland interessiert, das politisch weiterhin bereit ist, stets die Rolle des bloßen Juniorpartners zu spielen, aber eine wirtschaftliche Schwäche des Nachbarn wirft die Frage auf, wer dann die EU finanzieren soll. Frankreich selbst, schon jetzt hoch verschuldet und durch einen nur sehr schwer reformierbaren teuren Sozialstaat belastet, ist dazu kaum in der Lage, auch wenn es mittlerweile ebenfalls zu den größeren Nettozahlern in der EU gehört.

Überdies, ein politisch schwaches Deutschland, das diese Schwäche sogar bewusst und mit Enthusiasmus kultiviert, ist eben als Verbündeter in möglichen Konflikten mit Amerika oder China auch nicht wirklich brauchbar. Damit könnte die stark von französischen Interessen geprägte Europapolitik Macrons, indem sie versucht, Deutschland immer wieder in Streitfragen an die Wand zu spielen, auch die EU am Ende eher schwächen als stärken. Aber das scheint man in Paris nicht zu erkennen.

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