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Deutschlands einsamer Atomausstieg

Nichts ist für immer

Es kam, wie es kommen musste: Am 15. April um 23.59 Uhr wird in Deutschland das Zeitalter der zivilen Nutzung der Kernenergie abgeschaltet. In den Kraftwerken Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 drücken die Techniker schweren Herzens auf den Aus-Knopf. 4.285 MW Bruttoleistung sind dann futsch. Hatte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) nicht noch vor Jahresfrist gemahnt, es zähle jede Kilowattstunde?

Der Ausstieg ist eine politische Entscheidung, keine technische. Deutsche Kernkraftwerke arbeiteten über sechzig Jahre so zuverlässig wie unbemerkt vor sich hin, so dass Generationen von Deutschen in West und Ost mit dem Gefühl aufwuchsen, der Strom komme einfach aus der Steckdose. Block 2 von Isar war der leistungsstärkste deutsche Reaktor und gehörte nach seiner Nennleistung zu den weltweit drei größten Kernkraftwerken. Die Anlage ist perfekt gewartet und könnte noch auf Jahre riesige Mengen elektrischen Stroms erzeugen. Zusätzlich zu den schon 400 Milliarden Kilowattstunden, die das Kraftwerk während 35 Jahren Betriebszeit ins Netz speiste. Durchschnittlich 3,5 Millionen Haushalte wurden so sicher mit Strom versorgt.

Auch das Ende 2021 abgeschaltete KKW Grohnde gab in 37 Jahren mehr als 400 TWh ab. Keine anderen Anlagen weltweit haben je diesen Rekord gebrochen. Deutsche Reaktorblöcke waren 23-mal Weltmeister in der Stromproduktion, worauf die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) jüngst in einem wehmütigen Rückblick aufmerksam machte.

„Keine politische Entscheidung ist irreversibel“

Ist der deutsche Abschied von der Kernkraftnutzung eine endgültige Trennung ohne Wiederkehr? Ja – wenn es nach der Ampelkoalition geht. Nein, erfuhr Corrigenda von der Kernkraftexpertin und Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland (Herder-Institut Marburg).

„Prinzipiell ist keine politische Entscheidung irreversibel. Insofern hat Habeck nicht recht, wenn er sagt, das ist endgültig. Wir wissen, wie schnell sich Bedingungen ändern, wie schnell sich Regierungen ändern und wie schnell Politiker auch ihre Meinungen ändern.“

Grundsätzlich wäre eine Wende in der Energiewende möglich. „Aber wie wahrscheinlich ist so etwas?“

Die FDP mache immer mal wieder Avancen in Richtung Kernenergie, „aber völlig ohne Konzept und auch ohne auf Risiko zu gehen“. Dabei wäre eine Verlängerung der Laufzeit für die drei letzten deutschen KKW möglich gewesen, glaubt Wendland, „wäre die FDP schlau gewesen und hätte den Grünen das in einem Deal für das Tempolimit geboten. Dann hätte man die ganze Geschichte als Befreiungsschlag für den Klimaschutz allen verkaufen können, auch die Grünen ihrer eigenen Klientel.“ Denn die stiege der Partei vor allem wegen der andauernden Kohlenutzung aufs Dach, während der Atomausstieg „eine Entscheidung von Alten für Alte“ sei. Für die ganz Jungen sei die Kernenergie eher so ein „Nicht-Feld“.

Über Europa wieder einsteigen?

Ein Ausstieg aus dem Ausstieg wäre der große Wurf, eine „epochale Entwicklung“. Das Atomgesetz würde geändert, und kurzfristig seien die bestehenden KKW dann noch zu retten, „weil die teilweise noch nicht ihre Stillegungs- und Abbaugenehmigungen haben“.

Aber auch einen Neuaufbau von Anlagen hält Wendland für möglich: „Meine Prognose ist, dass man es dann womöglich europäisch löst – das Modell Gemeinschaftskraftwerk gab es schon in Deutschland, dass also mehrere Akteure zusammen ein KKW bauen.“ Wendland bekräftigte gegenüber Corrigenda: „Da gibt es mannigfaltige Optionen.“

Der Blick über den deutschen Tellerrand zeigt: Die Kernkraft wird in der ganzen Welt geschätzt, genutzt, ausgebaut und weiterentwickelt – unabhängig davon, ob Deutschland mitmacht oder nicht. Auch und gerade in Europa.

Überhaupt scheint Kernkraftnutzung andernorts nicht zu beanstanden, auch in Kriegsgebieten nicht – nur in Deutschland darf sie nicht sein. Vizekanzler Habeck gab vergangene Woche während eines Arbeitsbesuchs in Kyjw ein entlarvendes Statement ab. Dass die Ukraine an der Atomkraft festhalte, sei „völlig klar – und das ist auch in Ordnung, solange die Dinger sicher laufen. Sie sind ja gebaut.“

Lobbyisten der Energiewende: Der Graichen-Clan

Eine besonders wichtige Figur auf dem Spielfeld der Energiewende ist Patrick Graichen. Bevor ihn Habeck zum Staatssekretär in seinem Ministerium ernannte, war der „Energieexperte“ Direktor der Denkfabrik „Agora Energiewende“. Deren erklärtes Ziel ist es, Lösungen aufzuzeigen, um die von der Politik vorgegebenen Klimaziele zu erreichen. Die Agora hatte lange schon vor der politischen und damit öffentlichen Diskussion über Verbrennerverbote bei Autos solche drastischen Eingriffe gefordert. Im Bundestagswahlkampf machte Graichen mit Aussagen aufmerksam wie „Grüne Null ist wichtiger denn schwarze Null“.

Doch der beamtete Staatssekretär Graichen ist nicht der einzige Energiewende-Aktivist mit diesem Nachnamen. Laut dem Journalisten Marco F. Gallina ist der Parlamentarische Staatssekretär in Habecks Ressort, Michael Kellner, verheiratet mit Verena Graichen, der Schwester von Patrick Graichen. Sie ist sowohl Vize-Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) als auch hochrangige Mitarbeiterin am Öko-Institut e.V., das sich für „angewandte Ökologie“ einsetzt. „Senior Researcher“ für Energie und Klimaschutz im selben Institut ist Jakob Graichen – Bruder von Verena und Patrick Graichen.

Niemand kann eine Familie daran hindern, in einer Firma oder einem Institut zusammenzuarbeiten. Doch es ist eine andere Sache, wenn ein Familienclan eine Brücke zwischen Politik und Klimalobby schlägt und zugleich eng mit zwei Staatssekretären verwoben ist – insbesondere, wenn das angesprochene Institut selbst zugibt, am staatlichen Tropf zu hängen“, resümiert Gallina. Schließlich ist es ein Geflecht an sogenannten Nichtregierungsorganisationen und Politikern wie Kellner und Habeck, die den Weg für die Energiewende bereitet haben, wegen der Deutschland seit Jahren unter hohen Strompreisen und künftig womöglich an Stromengpässen leidet. (Lukas Steinwandter)

Was Deutschland abschaltet, wird Polen bauen

Während in Berlin also für den Geltungsbereich des Grundgesetzes die Durchsage „Alle aussteigen“ lautet, tönt es jenseits von Oder und Neiße: „Alles einsteigen, bitte“. Warschau plant ganz neu und gleich in großem Stil auf die Kernenergie zu setzen. Sechs Großblöcke sind vorgesehen mit einer Nennleistung von 7,8 GW, wovon der erste bereits in zehn Jahren ans Netz gehen und in Hinterpommern stehen soll.

Die Technologie, ein AP1000-Druckwasserreaktor, wird vom US-Konzern Westinghouse geliefert. Bittere Ironie: Die projektierte Leistungsdimension der sechs polnischen entspricht der der sechs deutschen KKW, die nun Mitte April ausgeknipst werden bzw. schon Ende 2021 ausgeschaltet wurden.

Dazu geht Warschau auch an die Realisierung von SMR (Small Modular Reactors), also verhältnismäßig kleinen und leistungsärmeren modularen Reaktoren. Fast 23 Prozent des Strombedarfs wird, so das ehrgeizige Ziel des polnischen Kernenergieprogramms, bis 2040 aus eigenen Kernkraftwerken gedeckt.

Polen parteiübergreifend pro Kernenergie

Polen gilt bisher als Dreck- und CO2-Schleuder und gewinnt beispielsweise aus dem weltgrößten Braunkohlekraftwerk Bełchatów bei Lodsch (5.298 MW Nettoleistung) zwischen 27 und 28 Terawattstunden pro Jahr – ein Sechstel seiner nationalen Stromproduktion. Damit soll dann Schluss sein, die Luftqualität zu verbessern ist ein weiterer Pfeiler der Energiestrategie 2040. Der Standort Bełchatów befindet sich auf einer Sondierungsliste für den Bau weiterer KKW, wie Anna Moskwa, Chefin des Umweltressorts im Kabinett Morawiecki, Anfang April sagte. Erst gestern trat eine Novellierung des Kernenergie-Sondergesetzes in Kraft. Diese gibt dem entwickelnden Unternehmen Planungssicherheit.

Anders als unter deutschen Verhältnissen gibt es zur Nutzung der Kernenergie einen breiten, parteiübergreifenden Konsens. Die linke Partei Lewica Razem etwa, gegründet von ehemaligen polnischen Grünen und Sozialisten, setzt voll auf Atomkraft und fordert noch drei Reaktorblöcke mehr als vom Kabinett geplant: weil, wie deren Sejm-Abgeordnete Paulina Matysiak im Mai 2022 dem Energieportal biznesalert.pl sagte, der in der Zukunft dekarbonisierte polnische Strommix zur Stabilisierung des Systems „saubere Energie aus regelbaren Quellen“ benötigt.

Gut möglich also, dass der Saft für den Berlin-Warschau-Express in zehn Jahren aus einem polnischen Kernkraftwerk stammt: Fahren mit 100 Prozent Ökostrom einmal anders. „Polak potrafi!“, entfährt es einem anerkennend – der Pole kann’s.

Mächtig Leistung im europäischen Haus

Und bei den anderen Nachbarn im europäischen Haus? Bei denen ist viel in Betrieb:

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  • Polens Nachbar Slowakei baut aus: Das 5,5-Millionen-Einwohner-Land mit seinen Stahl- und Aluminiumwerken sowie Autofabriken gewinnt seine Elektrizität zu mehr als 52 Prozent aus fünf Kernreaktoren. Am Kraftwerk Mochovce wird zu den bestehenden drei Blöcken ein weiterer hinzugebaut, der kommendes Jahr fertig sein soll; der jüngste ist vor nicht einmal drei Monaten ans Netz gegangen. Ein weiterer Reaktor ist in der Planung.
     
  • In der Tschechischen Republik steuern sechs Reaktorblöcke über ein Drittel der nationalen Elektrizitätsproduktion bei. Prag plant neben weiteren Blöcken an vorhandenen Standorten auch SMR.
     
  • In ganz Frankreich sind 56 Kernreaktoren in Betrieb, ein weiterer, hochmoderner EPR in Flamanville (wie in Finnland) befindet sich in Bau, sechs sind in Planung.
     
  • Ungarn betreibt derzeit vier Reaktoren, ein weiterer steht kurz vor der Baugenehmigung. Das Land mit 9,6 Millionen Einwohner deckt seinen Stromverbrauch schon jetzt annähernd zur Hälfte aus Kernenergie.
     
  • In Belarus ist am einzigen KKW-Standort in Astrawiec (seit Juni 2021 im kommerziellen Betrieb) ein zweiter Block bereits kritisch. Er soll dieses Jahr in den Regelbetrieb gehen.
     
  • Das bisher atomlose Estland denkt über die Einführung von SMR nach. In Lettland ist eine Debatte über das Potenzial der Kernenergie entbrannt. Litauen plant den Wiedereinstieg, nachdem Wilna im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen auf Brüsseler Druck und entgegen dem Willen der Bevölkerung das Kraftwerk Ignalina abgeschaltet hatte. Das kleine Land wurde so vom Stromexporteur zum -Importeur und ersetzte die fehlende Kernkraft wie Deutschland durch russisches Öl und Gas.
     
  • Die Schweiz zieht einen großen Teil ihres Strombedarfs aus den vier KKW. Die bestehenden Anlagen dürfen weiterlaufen, aber neue Reaktoren zu bauen ist gesetzlich verboten. Das Verbot bekommt in Umfragen allerdings keine Mehrheit mehr in der Bevölkerung.
     
  • Belgien hat den Atomausstieg um zehn Jahre auf 2035 verschoben und die Laufzeit für zwei von noch vorhandenen fünf KKW verlängert.
     
  • Die Niederlande haben ihr einziges bestehendes KKW doch nicht abgeschaltet und planen die Errichtung zweier neuer Reaktoren.
     
  • In Großbritannien stehen 9 Reaktoren für gesicherte Leistung, zwei werden gerade gebaut, zwei weitere sind in Planung.
     
  • In Schweden produzieren an drei Standorten sechs Kraftwerksblöcke Elektrizität, doch weitere sollen hinzukommen. Den bereits 1980 beschlossenen und immer wieder verschobenen Ausstieg aus der Kernkraft hat die rechtskonservative Regierung Ulf Kristersson aufgehoben. Die heimischen KKW decken den Strombedarf zu 30 Prozent.
     
  • Finnland hat fünf Kernreaktoren, davon den neuesten in ganz Europa. Am Standort Olkiluoto mit zwei Siedewasserreaktoren geht dieser Tage Block 3 in den Regelbetrieb. Der EPR (Europäischer Druckwasserreaktor) ist der erste dieses Bautyps und gehört zur sogenannten Generation III+. Mit 1.600 MW Nennleistung (netto) ist Block 3 sehr leistungsstark. Er kann 14 Prozent des finnischen Gesamtstrombedarfs decken. (Quellen: IAEA und eigene Recherche)
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„Andere Länder handeln rational“

Für André Thess ist diese Entwicklung in Europa nur folgerichtig: „Die Nutzung der Kernenergie nimmt international in dem Maße zu“, sagte er im Gespräch mit Corrigenda, „wie sich die Staaten darüber bewusst werden, dass die Reduktion der CO2-Emissionen nicht allein durch Wind- und Sonnenenergie erfolgen kann, sondern auch durch grundlastfähige Energiequellen erfolgen muss.“ Die Entscheidung einer ganzen Reihe von Ländern, einen Teil ihrer CO2-neutralen Energieversorgung aus Kernenergie zu realisieren, sei ganz in diesem Sinne.

Thess lehrt an der Universität Stuttgart Technik der Energiespeicherung. Vergangenes Jahr initiierte er mit der „Stuttgarter Erklärung“ eine Petition für die Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke. Die Bittschrift wurde von über 57.000 Bürgern unterzeichnet und erfüllte somit das Quorum für eine Anhörung im Petitionsausschuss.

Die Berichte des Weltklimarates IPCC betonten stets, darauf weist Thess hin, dass das Portfolio der CO2-neutralen Energiequellen nur vollständig aus Wind, Photovoltaik, Kernenergie, Geothermie und fossilen Energieträgern wie Kohle und Gas mit CO2-Abscheidung bestehe. Da der Klimawandel ein „sehr gravierendes Problem“ sei, handelten diejenigen Staaten rational, wenn sie in diesem Sinne das gesamte Portfolio komplett nutzen „und sich nicht auf eine, zwei oder drei Technologien“ beschränkten.

Kurz vor Toresschluss: Appell an den Kanzler

Jetzt indessen, wo das deutsche Kind in den Brunnen gefallen ist, dämmert manchen, dass die Entscheidung zum Atomausstieg nicht die klügste gewesen ist. Wie am Freitag bekanntwurde, haben zwanzig Wissenschaftler und andere Unterzeichner einen Appell an Bundeskanzler Olaf Scholz gerichtet, in dem sie fordern, die drei verbliebenen deutschen Kernkraftwerke weiterzubetreiben und den Ausstieg aus der Kernenergie zu überdenken. Initiiert wurde der offene Brief vom Berliner Verein „RePlanet DACH“, einem Zusammenschluss von Umwelt- und Klimaschützern.

Zu den Unterstützern des Aufrufs, der auch in polnischer Sprache veröffentlicht ist, gehören neben André Thess und Anna Veronika Wendland auch zwei Physik-Nobelpreisträger: Klaus von Klitzing (Max-Planck-Institut für Festkörperforschung) und Stephen Chu, früherer US-Energieminister der Obama-Regierung. Weitere Unterzeichner sind James Hansen vom Goddard Institute for Space Studies und Kerry Emanuel vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) sowie Wirtschaftswissenschaftler und Juristen. Die Unterzeichner kritisieren, dass die CO2-Emissionsziele im vergangenen Jahr durch die verstärkte Nutzung der Kohlekraft „um 40 Millionen Tonnen überschritten“ worden seien und Schätzungen für das laufende Jahr „von 38 Millionen Tonnen“ ausgingen.

„Die Kernkraftwerke Emsland, Isar II und Neckarwestheim II lieferten im Jahr 2022 insgesamt 32,7 Milliarden Kilowattstunden an emissionsarmem Strom. Somit können diese drei Kraftwerke mehr als zehn Millionen oder ein Viertel der deutschen Haushalte mit Strom versorgen.“

 

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