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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Ein Grieche als Nationalheiliger?

Der 1. August ist in der Schweiz traditionell ein Tag der Ambivalenz. Er ist ein arbeitsfreier Tag, was erfreulich ist. Man kann Feuerwerk zünden und Würste auf den Grill werfen, und wer es wirklich ernst meint, besucht sogar eine der zahlreichen Festansprachen zum Nationalfeiertag. Echte Ergriffenheit kommt aber vermutlich nur bei einer Minderheit auf. Schließlich hadert man manchmal auch mit seinem eigenen Land und konzentriert sich lieber auf aktuelle Herausforderungen, als auf historische Begebenheiten zurückzuschauen.

Die einen freuen sich, die anderen lässt es eher kalt – und dann gibt es eine dritte Gruppe: die Spielverderber. Sie können mit dem 1. August und seiner Entstehung grundsätzlich nichts anfangen, reden die Geschichte klein oder machen – wie im jüngsten Fall – überaus kreative Vorschläge, wie man den Nationalfeiertag neu erfinden könnte.

Dieses Jahr ist Ueli Schmezer an der Reihe. Dieser war jahrelang als Moderator ein Aushängeschild des Schweizer Fernsehens und wechselte danach in die Politik als Nationalrat für die Sozialdemokraten (SP). Die Angst vor einem Popularitätsverlust treibt ihn aber dazu, sich weiter als Kolumnist eines Nachrichtenportals zu betätigen. Dort glänzt er nun mit einem Vorschlag, der an der kommenden Nationalfeier vermutlich für den einen oder anderen heiteren Austausch sorgen wird.

Ehre für einen Unbekannten

Seine Forderung: Schluss mit Wilhelm Tell als Schweizer Nationalheld, an den man am 1. August gern erinnert – und dafür her mit Ioannis Kapodistrias.

Ioannis Kapodistrias? Wer? Genau.

Kapodistrias, so klärt uns Schmezer auf, war ein griechischer Diplomat, der vor gut 200 Jahren für Russland in Europa unterwegs war und mit Verhandlungsgesprächen dabei half, der Schweiz nach den napoleonischen Wirren wieder auf die Füße zu helfen. Ein braver Mann, ein geschickter Vermittler. Doch für Schmezer ist er mehr als das: der wahre Nationalheld. Tell hingegen? „Gab’s nie.“ Alles, was die Schweiz sich selbst erzählt, sei falsch. Höchste Zeit also, dass ein Grieche mit russischem Auftrag unsere Identifikationsfigur wird. Was könnte schweizerischer sein?

Wilhelm Tell als Symbol für Freiheit und Eigenverantwortung

Natürlich hat Schmezer teilweise recht: Tell ist keine historisch wasserdichte Figur. Aber das war nie der Punkt. Symbole müssen nicht in Archiven belegt, sondern im kollektiven Gedächtnis verankert sein. Tell steht für etwas. Für Freiheit. Für Eigenverantwortung. Für das Recht, dem Staat ins Gesicht zu sagen: Bis hierher und nicht weiter.

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Kapodistrias hingegen war ein Diplomat. Und zwar ein griechischer in russischen Diensten. Was tut ein Diplomat? Das, was sein Arbeitgeber von ihm verlangt. Das war auch der Fall bei ihm. Er verhandelte nicht aus Liebe zur Schweiz, die ihm vermutlich als Kleinstaat eher egal war, sondern im Sinn eines größeren Plans, aus Interesse an Stabilität im Alpenraum. Dass dabei die Schweiz etwas gewann, ist erfreulich. Aber ihn dafür zum Nationalheiligen zu erklären, ist in etwa so, als würde man den Steuerberater als Alleinerben einsetzen, weil man dank seiner guten Arbeit noch ein paar Franken zurückbekommen hat.

Verklärung des Fremden

Ioannis Kapodistrias war später Präsident Griechenlands. Seine Amtsbilanz war, vorsichtig ausgedrückt, durchwachsen. In der Schlussphase fiel er in erster Linie mit autokratischen Tendenzen auf, ließ das Parlament links liegen, ging gegen Kritiker vor und soll Gefallen an Vetternwirtschaft gefunden haben, bevor er schließlich ermordet wurde. So viel zum Thema Vorbild.

Aber das alles scheint nicht zu stören. Schmezer möchte eben „jemanden, der mit der heutigen Schweiz tatsächlich etwas zu tun hat“. Offenbar hat Tell das nicht – weil er nicht gelebt hat. Nur hat diese fiktive Figur mit ihrer Geschichte über Jahrhunderte der Schweizer Identität Tiefe gegeben. Mehr zählen als das soll ein den meisten Schweizern unbekannter Mann, nur weil er eine nachgewiesene Adresse auf Korfu hatte?

Es ist dieser seltsame Reflex, den wir schon aus anderen Bereichen kennen: Das Eigene wird misstrauisch beäugt, das Fremde verklärt. Mythen? Nur erlaubt, wenn sie von anderen Kulturen stammen. Nationalstolz? Gern – aber bitte nicht im eigenen Land.

Ein pädagogischer Akt

Dabei wäre alles so einfach: Man kann Tell ehren, weil er eine Figur ist. Weil er mehr repräsentiert, als ein Mensch je könnte. Und man kann gleichzeitig sagen: Danke, Herr Kapodistrias, für Ihre damaligen Bemühungen. Aber wir kommen klar. Auch ohne Nationaldenkmal aus Korfu.

Am Ende bleibt der Eindruck: Schmezers Vorschlag ist keine historische Neubewertung. Es ist ein pädagogischer Akt. Eine Art Umerziehung: Wir sollen uns schämen, dass wir an Tell glauben. Und wir sollen endlich einsehen, dass wir nur deshalb ein funktionierender Staat sind, weil ein Grieche im Auftrag eines Zaren ein paar Kantone besucht hat.

Lasst uns den 1. August feiern, wie er gemeint ist: mit Lampion, Grillwürsten – und Tell. Auch wenn er nur ein Mythos ist. Aber dann wenigstens unser eigener.

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