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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Wenn Distanzierung zum Volkssport wird

Matthias Schulz hat einen ungewöhnlichen Werdegang hinter sich. Er studierte zunächst Klavier in Salzburg und absolvierte danach in München Volkswirtschaft. Diese Mixtur macht aus ihm einen „Kulturmanager“. Als solcher führte er die Staatsoper in Berlin erfolgreich durch unruhige Zeiten, war dann aber dennoch nicht mehr erwünscht und wirkt nun am Opernhaus Zürich.

Für viele ist Schulz heute aber vor allem eines: Der Mann, der Anna Netrebko singen lässt. Zunächst in Berlin, demnächst auch in Zürich. Er macht die Bühne frei für einen in Ungnade gefallenen Weltstar. Einst wollte er einfach Klavier spielen oder eine Bühne leiten, nun steht er im Zentrum politischer Debatten.

Denn ginge es nach lautstark Empörten, dürfte Netrebko, seit rund 30 Jahren eine feste Größe in der Opernwelt, in der westlichen Hemisphäre ihre Stimme nicht mehr erheben. Jedenfalls nicht, um zu singen. Was die Russin laut ihnen tun müsste: gegen den Ukrainekrieg protestieren. Beziehungsweise gegen Putin. Sie müsste Flagge zeigen, statt Arien zu schmettern, sie müsste ein Transparent hochhalten, statt sich Applaus abzuholen.

Der Reisepass als Schuld

Anna Netrebko wird eine Nähe zum russischen Präsidenten zur Last gelegt. Dafür reicht es, dass sie mal an einem Galaabend im Kreml auftrat. Als sie im März 2022 erklärte, sie verurteile den Krieg gegen die Ukraine „ausdrücklich“, sorgte das in Russland für schlechte Stimmung, aber im Westen war das einigen immer noch nicht genug. Man hätte wohl gern eine Breitseite gegen Putin persönlich gehört.

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Noch sehr viel unvorbereiteter traf der Widerstand vor drei Jahren die Cellistin Anastasia Kobekina, deren Auftritt in der Kartause Ittingen im Osten der Schweiz abgesagt wurde. Als Begründung diente einzig und allein ihre russische Staatsangehörigkeit. Kobekina hatte mehrfach klar Stellung bezogen gegen das Kriegstreiben in der Ukraine – aber ihr Reisepass machte sie zur Unperson. 

Wann wurde Distanzierung zum Volkssport?

Die Bayerische Staatsopfer lud Anna Netrebko 2022 aus, die Metropolitan Opera mochte nicht mehr mit ihr zusammenarbeiten. Aber Matthias Schulz bleibt unberührt. In der NZZ erklärte er, man dürfe Künstler nicht zu „Sündenböcken“ machen, nur weil die Leute, die den Krieg wirklich verschulden, nicht zu kriegen seien.

Netrebko wird ab November in Zürich auftreten. Dort dürfte dann das geschehen, was in solchen Fällen immer geschieht: Opernfreunde wollen sich den Genuss ihres Könnens nicht entgehen lassen, draußen vor der Tür wird ein bisschen protestiert. Offen bleibt die zentrale Frage: Wann genau wurde „Distanzierung“ zum Volkssport, und warum wird sie inzwischen jedem abverlangt?

Es muss wieder möglich sein, sich nicht zu kümmern. Das zu tun, was man kann und liebt und über das zu schweigen, was nichts damit zu tun hat. 

Mein Nachbar beispielsweise ist gerade überaus entsetzt über eine Billigbrot-Offensive einiger Schweizer Discounter, weil er sich Sorgen um das Bäckerhandwerk im Land macht. Ich weiß, was er meint, aber ich mag mich nicht zur Empörung aufraffen. Ich kaufe mein Brot weiter, wo ich will und unterschreibe auch keine Petition für einen Mindestpreis. Denn ich kann mich nicht um jedes Problem kümmern. „Not my circus, not my monkeys“, sagt der Engländer, wenn er ausdrücken will, dass es ihn nichts angeht.

Scharaden werden belohnt

Ebenso muss es einer Bühnenkünstlerin möglich sein, zu sagen, dass sie nicht in der Regierung sitzt, nie an der Front war, sich nicht für Geopolitik interessiert und einfach nur singen möchte. Dass ihr das angelastet wird, liegt daran, dass uns immer öfter andere Leute vorschreiben wollen, was uns zu beschäftigen hat. Weil es ihr circus ist, muss es auch unserer sein, und lehnen wir es ab, uns mit ihren monkeys zu beschäftigen, sind wir Unmenschen.

Einst wurde man beschimpft oder ausgeladen aufgrund dessen, was man sagte. Heute reicht es, etwas nicht auszusprechen. Wobei das Gesagte nicht einmal ernst gemeint sein muss, die bloßen Worte reichen. Man soll sich die Teilhabe am öffentlichen Leben erkaufen, indem man ein vorbereitetes Skript abliest. Wieso löst eine offensichtliche Scharade bei so vielen Leuten innere Befriedigung aus? Warum ist ihnen der inszenierte Kniefall so wichtig?

Die Idee, dass jemand, der mit einer schönen Stimme, schnellen Beinen oder geschickten Fingern gesegnet ist, sich zu jedem politischen Ereignis vernehmen lassen muss, ist neueren Ursprungs. Früher galt, es solle sich nicht jeder in Dinge außerhalb seines Talents einmischen. 

Vor allem aber hat das permanente Drängen nach Distanzierung eine große Schwäche: Wer sagt, dass der Zeitgeist nicht schon in ein paar Monaten eine 180-Grad-Wende macht? 

Wer sich heute entschlossen von etwas distanziert, um der Masse einen Gefallen zu tun, weiß nicht, ob man ihn nicht irgendwann mit derselben Wucht zu etwas Neuem nötigt: zur Distanzierung von der Distanzierung.

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