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Epochenbezeichnung oder Framing?

„Mittelalter“ im Bundestag

Stets ist der Mensch davon überzeugt, er selbst würde in einer Epoche des höchsten sittlichen Fortschritts leben. So formulierte es seinerzeit der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“. Im Umkehrschluss blickt der fortschrittsgläubige Mensch auf alle vergangenen Zeiten herablassend und abschätzig zurück. Der Historiker weiß besser, wie wenig überzeugend solche Auffassungen sind. Er kennt die Höhen und Tiefen der Geschichte der Menschheit oder auch nur von Nationen, Staaten, Institutionen und Verbänden.

Trotzdem ist insbesondere das Mittelalter, alleine schon wegen der höchst fragwürdigen Epochenbezeichnung als „mittleres Zeitalter“ zwischen Antike und Neuzeit, nicht erst in der Aufklärung zum Inbegriff eines „finsteren Zeitalters“, des „saeculum obscurum“ oder „dark age“ geworden. Schon mit dem Begriff „medium aevum“ („mittleres Zeitalter“) stellte Christoph Cellarius (1685) dieses Zeitalter als Durchgangsstation zwischen die Antike und ihre „Wiedergeburt“ in der Renaissance.

Nun ist in der Geschichte hinlänglich bekannt, dass das Mittelalter offenbar besser war als sein Ruf. Das belegt eindrucksvoll die mittelalterliche Literatur, nicht zuletzt der „Decamerone“ des italienischen Humanisten Giovanni Boccaccio aus dem 14. Jahrhundert.

Fragwürdige Epochenbezeichnung in den Debatten des Bundestages

Dennoch ist der Begriff „Mittelalter“ stets ein fragwürdiger Epochenbegriff gewesen und darüber hinaus zu einer kulturpolitischen Kampfparole verkommen. Seine Verwendung im politischen Diskurs ist weitestgehend unerforscht. So soll sie an dieser Stelle exemplarisch bei einer Durchsicht der Stenographischen Protokolle des am 7. September 1949 konstituierten Deutschen Bundestages in seiner 75-jährigen Geschichte in den Blick genommen werden.

Die elektronische Datenverarbeitung ermöglicht eine sekundenschnelle Suche in den Texten. Abzüglich versehentlicher Doppelzählungen taucht der Begriff von 1949 bis 2022 insgesamt 461-mal in den Protokollen des Bundestages auf. Seine Verwendung gibt – vorsichtig formuliert – eher Auskunft über jene, die den Begriff benutzen, als dass man tatsächlich ernstzunehmende Rückschlüsse auf das Mittelalter ziehen könnte.

Immerhin taucht der Begriff „Mittelalter“ als weitgehend wertfreier Epochenbegriff von 1949 bis zur Deutschen Einheit 1990 insgesamt 66-mal auf. Von 1990 bis 2022 finden wir das Wort als Epochenbegriff weitere 93-mal. Bemerkenswerterweise taucht der Begriff nicht selten in Parlamentsdebatten auf, in denen über die Handwerksordnung, das Stiftungswesen oder Handelspolitik beraten wird.

Hier galt es, die historischen Ursprünge positiv besetzter gesetzlicher Regelungen zu datieren und auf eine bis in das Mittelalter zurückreichende erfolgreiche Tradition zurückzuverfolgen. Unverkennbar stand das Bemühen im Vordergrund, Errungenschaften des Mittelalters durchaus moderne oder wenigstens bis in die Gegenwart hineinreichende Bedeutung anerkennend beizumessen.

Eine kulturpolitische Kampfparole

Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Begriff mit klarer negativer Bedeutung im Bundestag weitaus häufiger verwendet wurde. Das gilt zwar noch nicht für die Zeit bis 1990; hier wird er nur ganze 61-mal negativ verwendet. Doch von 1990 bis 2022 findet er 158-mal im negativen Kontext Verwendung. Der Epochenbegriff „Mittelalter“ wird häufig im Zusammenhang mit Hexenverfolgung, Inquisition, Leibeigenschaft und Feudalismus gebraucht, obwohl diese historischen Ereignisse bekanntlich mindestens genauso in die Frühe Neuzeit gehören, als dass sie ausschließlich im Mittelalter verortetet werden dürfen.

In den meisten Fällen findet der Begriff „Mittelalter“ in der negativen Konnotation Verwendung in jenen politischen Debatten, die auch weltanschauliche Gegensätze offenbaren. Das waren etwa die Felder der Gesundheitspolitik, und hier besonders die Debatten zur Reform des Abtreibungsrechts sowie in den vergangenen Jahren zur Bekämpfung der Corona-Pandemie inklusive des Impfzwangs.

Auch technische Neuerungen (etwa bei der Reform des Postwesens), die Finanz- und Steuerpolitik, das Strafrecht und neuerdings die Klimapolitik sind Politikbereiche, in denen gerne der „Mittelalter“-Begriff in einem negativen Kontext verwendet wird. Sehr häufig wird das „Mittelalter“ bei Zwischenrufen bemüht, um den politischen Gegner nur schlagwortartig und nicht in einem ernstzunehmenden Debattenbeitrag als rückständig zu diffamieren.

Besonders beliebt: „Mittelalter“ in Kombination mit Religion

Eine besondere Bedeutung spielt die Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit dem Islam, vor allem seitdem die Bundeswehr sich an militärischen Auslandseinsätzen unter anderem in Afghanistan und Somalia beteiligt. Hier wird das Narrativ von einem Islam, insbesondere in seiner Ausformung als „Islamismus“, bedient, der sich seit dem Mittelalter nicht weiterentwickelt habe. Ohne die Bundeswehreinsätze – so wurde insinuiert – würden manche Regionen am Hindukusch, im Orient oder in Nordafrika in das Mittelalter zurückfallen.

Zusätzlich weitere 14-mal steht der Begriff „Mittelalter“ negativ im Kontext mit der Geschichte der katholischen Kirche und/oder des Christentums, das mit seinen vermeintlich überkommenen Moralvorstellungen eben auch gleich als rückwärtsgewandt verunglimpft werden sollte.

Nur ganze achtmal in fast 75 Jahren stellten Abgeordnete in einer ihrer Reden einen positiven Kontext zwischen „Mittelalter“ und katholischer Kirche her, wenn beispielsweise wohlwollend auf besondere Kulturleistungen in der bildenden Kunst (Gemälde und Buchmalerei) und der Architektur (Kathedralbauten) verwiesen wurde.

In den bald 75 Jahren seines Bestehens wird alleine 21-mal im Bundestag wörtlich vom „finsteren“ oder „schwarzen“ Mittelalter gesprochen, allerdings in der Regel nur als durchaus provozierender Zwischenruf.

Insgesamt kann für die ersten vier Jahrzehnte des Bundestages ein verhältnismäßig sparsamer Gebrauch des Begriffs „Mittelalter“ konstatiert werden.

Verunglimpfung christdemokratischer Politik

Sprunghaft steigt sein Gebrauch während der Regierungsjahre des christdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Kohl (1982-1998) an. Unschwer ist zu erkennen, dass seine Politik von der Sozialdemokratie und vor allem von den Grünen, die seit 1983 im Bundestag vertreten sind, als konservativ und rückwärtsgewandt stigmatisiert werden sollte.

Keine Disziplin, am wenigsten die Geschichtswissenschaft, ist vor Missbrauch ihres Forschungs- oder Untersuchungsgegenstands gefeit. Doch von einer geschichtsvergessenen politischen Klasse ist eine angemessene Verwendung des Begriffs „Mittelalter“ erst recht nicht zu erwarten.

Der Begriff „Mittelalter“ gehört zum politischen und kulturpolitischen Vokabular in der Alltagssprache eines Politikers. Sein Gebrauch kennzeichnet den Fortschrittsglauben derer, die ihn instrumentalisieren, um einen politischen oder weltanschaulichen Gegner zu diskreditieren und die eigene politische Agenda zu legitimieren. Bedauerlich nur, dass damit nicht nur die Verachtung des politischen Gegners zum Ausdruck gebracht wird, sondern zugleich die Verachtung und Ignoranz gegen eine meistens völlig unbekannte Epoche der Menschheitsgeschichte.

Historiker sind nicht unschuldig

Hinter dem Begriff „Mittelalter“ verbirgt sich eine in Gesellschaft und Politik weit verbreitete und damit etablierte Weltsicht, die gelegentlich sogar bei Historikern selbst anzutreffen ist. Weiterhin gültig scheint das Wort des deutschen Gelehrten Polycarpus Leyserus (Leyser) aus dem Jahre 1719 zu sein, der mit Blick auf das Mittelalter formulierte: „Ich glaube, dass dem wissenschaftlichen Fortschritt nichts stärker entgegensteht als die unzähligen Vorurteile, die in der Wissenschaft selbst weitergetragen werden.“

Demnach haben die Mediävisten es jahrhundertelang versäumt, Licht in diese Epoche zu bringen. Das änderte sich allmählich mit Robert Delort, Joan Evans, Arno Borst und Barbara Tuchmann, um nur einige Pioniere zu nennen, die mit ihren Publikationen endlich auch das sogenannte Bildungsbürgertum erreichten.

Vor allem aber der französische Historiker Jaques Le Goff und mit ihm einige Vertreter der „Annales-Schule“ in Paris, die aus den Sozialwissenschaften entstanden war, haben mittelalterliches Denken der Moderne neu erschlossen und, in deutlicher Abgrenzung zum Nationalismus des „langen 19. Jahrhunderts“, die Geburt des modernen Europas im Denken des Mittelalters herausgestellt.

Diese europäische Dimension fand dann im 19. Jahrhundert in der auf den Historiker Leopold von Ranke zurückgehenden „Abendland“-Vorstellung eine deutschsprachige Analogie. Noch Bundeskanzler Konrad Adenauer knüpfte daran an, wenn er statt von „europäischer Westbindung“ oder „westeuropäischer Integration“ lieber von „Abendland“ sprach. Der Begriff „Westeuropa“ ließ unweigerlich den Blick zugleich nach Osteuropa schweifen. In Zeiten des Kalten Krieges vergegenwärtigte der Begriff „Westeuropa“ bis 1990 somit zugleich die Spaltung Deutschlands, Europas und der ganzen Welt.

Unermesslicher Anteil am neuzeitlichen Europagedanken

Unermesslichen Anteil an der Herausbildung des neuzeitlichen Europagedankens hatte – um an eine zweite große ideengeschichtliche Leistung des Mittelalters zu erinnern – die im Hochmittelalter an den Gelehrtenschulen in Bologna in das Mittelalter gerettete römische Rechtstradition. Auch die zunehmenden Individualisierungstendenzen der Neuzeit haben dem wahrhaft „mittelalterlichen Denken“ nichts anhaben können. Und die Säkularisierung war nie ein wirklicher Gegner dieses Rechtsdenkens, weil das römische Recht auch im „finsteren“ Mittelalter stets ohne eine religiöse Legitimation auskam.

Der Begriff „Mittelalter“ wird trotzdem auch zukünftig ein notwendiges Übel sein und ein Behelf bleiben, den selten linearen Verlauf der Geschichte zu periodisieren. Alle Bemühungen, die Vergangenheit in Abschnitte und Epochen einzuteilen, entspringen wiederum dem Verlangen seines jeweiligen Betrachters, der Vergangenheit Struktur und Sinnhaftigkeit zu verleihen. Periodisierung ist aber stets Interpretation, auch und gerade, wenn sie wissenschaftlich begründet wird.

Die negative Sichtweise auf das Mittelalter liegt in weiten Teilen der Kommunikation in den Medien sowie in der Alltagssprache zugrunde. Die Historiker hätten sich längst bemühen müssen, den Begriff zu ersetzen. Aber am Beispiel der Epochenbezeichnungen „Reformation“ und „Gegenreformation“, die seit den 1980er Jahren durch „Zeitalter der Konfessionalisierung“ abgelöst werden sollten, ist zu erkennen, wie wenig erfolgreich ein solches Unterfangen ist. Hier sind Sprachgewohnheiten dann doch wirkmächtiger, zumal wenn ein Begriff wie „Mittelalter“ äquivalent in allen europäischen Sprachen verwendet wird.

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