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Vor 50 Jahren: Willy Brandt zurückgetreten

Und die Untergebenen brachten ihre Schäfchen ins Trockene

Am Morgen des 24. April 1974 um 6:32 Uhr klingeln Beamte des Bundeskriminalamtes an der Tür von Günter Guillaume, einem Referenten des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt. Sie haben einen Hausdurchsuchungsbeschluss vorzuweisen, Guillaume öffnet im Bademantel. Er reagierte mit einer erstaunlichen Bemerkung: „Ich bin Bürger der DDR – und ihr Offizier.“ Damit hatte er seine Agententätigkeit unverhofft gestanden, die auch juristisch eine Verhaftung rechtfertigte. Denn Guillaume war Offizier im besonderen Einsatz (OibE) des ostzonalen Ministeriums für Staatssicherheit.

Diese Szene wurde zum Beginn einer Affäre, die vierzehn Tage später zum Rücktritt des Bundeskanzlers führte. In diesen wenigen Tagen wurde aus dem Friedensnobelpreisträger von 1971 und großen Wahlsieger von 1972 ein gescheiterter Politiker – der allerdings wenige Jahre später zu dem hoch angesehenen Staatsmann werden sollte, der die Erinnerung an ihn bis heute prägt. In der späteren Aufarbeitung gerieten diese Tage zu einem Kammerspiel über die Tücken der Macht, bisweilen erinnerte es an eine Groteske. Es wirkten viele mit: Politiker jeglicher Couleur, Geheimdienste aus Ost und West, Journalisten, bei denen manchmal nicht klar war, ob sie nur berichteten oder nicht doch schon mitmischten. Es wurde zu einer Story mit Sex and Crime, wo schließlich niemand mehr wusste, ob es um den enttarnten Spion oder um den Bundeskanzler ging.

Getarnt als einfacher Arbeiter im Weinberg der Sozialdemokratie

Die Geschichte dieser Affäre lohnt sich bis heute: Im Jahr 1956 kamen Günter und Christel Guillaume als Agenten der DDR in den Westen. Es war die Hochzeit des Kalten Krieges, wo Geheimdienste weltweit keine Mühe scheuten, mit List und Tücke ihren Gegnern zu schaden. Ihnen ging es um Informationsbeschaffung und Desinformation, kriminelle Aktivitäten gehörten zum Handwerk, selbst Attentate oder Entführungen. In einer Atmosphäre der Paranoia gab es nicht nur Verschwörungstheorien, sondern genug Verschwörungen. Das Genre des Spionagethrillers in der Literatur und im Film garantierte nicht ohne Grund Bestseller.

Im Vergleich zu deren Glamour waren die Guillaumes bieder. Sie wurden als Perspektivagenten in den Westen geschickt, führten ein kleinbürgerliches Leben und suchten als vermeintlich stramme Antikommunisten Kontakte zur Frankfurter SPD. Christel machte als Sekretärin und spätere Büroleiterin eines Bundestagsabgeordneten schneller Karriere als Günter. Dieser wurde 1964 Unterbezirksgeschäftsführer in der hessischen SPD und Mitglied des Stadtrats. Nach der Bildung der sozialliberalen Koalition 1969 wurde er im Bundeskanzleramt eingestellt, im Oktober 1972 rückte er zum persönlichen Referenten des Bundeskanzlers in Parteiangelegenheiten vor. Er verdankte das der Protektion führender Genossen, die ihn als zuverlässigen Arbeiter im Weinberg der Sozialdemokratie schätzen gelernt hatten.

Diese Karriere war einer Mischung aus Glück und Zufall sowie dem Geschick der Guillaumes zu verdanken. Gänzlich unbeteiligt war die Hauptverwaltung Aufklärung vom Ministerium für Staatssicherheit in Ost-Berlin. Deren legendärer Chef Markus Wolf hielt das später für eine Art Panne. Guillaume sollte Spione anwerben und führen, im Rampenlicht habe er seine Agenten mit Führungsaufgaben nicht gerne gesehen, so zitiert ihn Hermann Schreiber in seinem Buch „Kanzlersturz“. Niemand rechnete damit, dass es Guillaume bis zum Referenten des Bundeskanzlers bringen würde.

Nach der Enttarnung: eigensüchtige Absicherungen

Pech hatte die westdeutsche Spionageabwehr vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Sie hatte zwar schon 1960 Hinweise auf einen Agenten namens „G“ in der SPD, konnte sie aber keiner konkreten Person zuordnen. Guillaume überstand alle Sicherheitsüberprüfungen. Dann kam der Zufall dem Verfassungsschutz zu Hilfe. Zwei Beamte unterhielten sich Mitte Februar 1973 beiläufig über ihre Arbeit – und am Ende konnte der ominöse „G“ Guillaume zugeordnet werden. Im Verfassungsschutz war man von dessen Agententätigkeit überzeugt, hatte aber keine gerichtsfesten Beweise für eine Verhaftung.

Damit war die Lunte an der im Kanzleramt deponierten Bombe gelegt. Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau informierte am 29. Mai den zuständigen FDP-Innenminister Hans-Dietrich Genscher. Beide waren zwar ratlos im Umgang mit dem enttarnten Agenten im Umfeld des Kanzlers, aber hochsensibel über die zu befürchtenden politischen Konsequenzen. Nollau fürchtete, wegen der späten Entdeckung des Spions die Verantwortung übernehmen zu müssen, Genscher hatte Angst, Guillaume könnte sich absetzen, wenn er etwa auf einen anderen Posten versetzt würde. Ihn ohne Wissen Brandts im Kanzleramt zu belassen, um ihm agentendienstliche Tätigkeit nachzuweisen, war deshalb ausgeschlossen.

Vorschau
Beschattet: Bundeskanzler Willy Brandt auf einer Wahlkampfreise, neben ihm Günter Guillaume, Offizier des MfS, 8. April 1974

Also kamen sie auf die naheliegende Idee zur Reduzierung ihrer politischen Risiken: Genscher informierte den Kanzler über den Verdacht, der aber nicht als gesicherte Erkenntnis des Verfassungsschutzes formuliert wurde. Brandt wurde davon überzeugt, an der gegenwärtigen Situation nichts zu ändern, zudem noch nicht einmal seine engsten Mitarbeiter einzuweihen. Guillaume organisierte somit weiterhin die Wahlkampfreisen des SPD-Parteivorsitzenden, fuhr mit ihm sogar Anfang Juli in den Urlaub. Die für Brandt in Norwegen zuständigen Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes (BKA) und des Bundesnachrichtendienstes (BND) wussten nichts von dem Verdacht. So bekam der Agent erstmals Zugang zu Dokumenten mit der höchsten Geheimhaltungsstufe, darunter sicherheitssensible Nato-Berichte.

1972 übersteht Brandt überraschend ein Misstrauensvotum

Brandt war elf Monate lang der Lockvogel der Spionageabwehr. Guillaume bemerkte zwar die Observierung durch den Verfassungsschutz, machte aber keine Anstalten zur Flucht nach Ost-Berlin. So blieb es bis zum besagten Morgen des 24. April. Das war die fachliche Perspektive im zweitältesten Gewerbe der Welt. Die Dynamik dieser vierzehn Tage bis zum Rücktritt Brandts lässt sich aber nicht mit der Arbeit der Schlapphüte in West und Ost erklären.

So hatten sich die ökonomischen Rahmenbedingungen radikal geändert: Der Streit um Maßnahmen zur Bekämpfung einer überschießenden Konjunktur hatte vor der Bundestagswahl von 1972 zum Rücktritt der einstigen SPD-Wahlkampflokomotive Karl Schiller geführt. Ihn ersetzte Helmut Schmidt im Amt des Bundeswirtschafts- und Bundesfinanzministers. Zwei Jahre später stand das Land kurz vor der Rezession mit steigender Arbeitslosigkeit. „Willy Wolke“ erlebte seinen schmerzhaften Kontakt mit der Wirklichkeit, so die Kritik selbst bei seinen Unterstützern.

 

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Die mit der Hochkonjunktur steigende Inflationsrate hatte im Februar 1974 zu hohen Tarifabschlüssen im öffentlichen Dienst geführt. Diese wurden als politische Niederlage Brandts gewertet. Innenpolitisch hatte die SPD zur gleichen Zeit mit dem Skandal zu kämpfen, dass das am 27. April 1972 überraschend gescheiterte Misstrauensvotum gegen Willy Brandt unter anderem der Bestechung des CDU-Bundestagsabgeordneten Julius Steiner zu verdanken war. Mitte Mai 1973, so schreibt es Peter Merseburger in seiner Brandt-Biografie von 2002, habe es in Bonn erste Gerüchte dazu gegeben. Merseburger vermutete die Quelle beim britischen Geheimdienst. Steiner wiederum stellte sich Anfang Juni zuerst als Doppelagent mit politischen Überzeugungen vor, um anschließend den SPD-Politiker und Wehner-Vertrauten Karl Wienand als Geldquelle anzugeben.

Verdächtigungen nach allen Seiten

Es wurde seit dem Machtwechsel von 1969 auf allen Seiten mit harten Bandagen gekämpft. Erst nach dem Zusammenbruch der DDR konnte die Rolle der Staatssicherheit geklärt werden: Sie hatte zwei Unionsabgeordnete mit jeweils 50.000 DM bestochen. Ost-Berlin fürchtete 1972 den Sturz der sozialliberalen Bundesregierung und das Ende der Entspannungspolitik. Brandt soll das nach Angaben seiner dritten Ehefrau Brigitte Seebacher so kommentiert haben: Steiner habe „doppelt kassiert!“, also nicht nur von der SPD, sondern auch von der DDR-Stasi.

Wie sehr diese Zeit von einer Kultur des Misstrauens geprägt war, zeigte sich noch Jahre später: So soll der gescheiterte Kanzlerkandidat Rainer Barzel dem Spiegel-Journalisten Hartmut Palmer 2004 gesagt haben, wen er für den Dritten im Bund der Unionsabweichler gehalten hat: neben dem ebenfalls von der Staatssicherheit bestochenen CSU-Abgeordneten Leo Wagner den CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß.

Aber vor allem die SPD hatte in der Hinsicht einiges zu bieten. Brandt machte später den als SPD-Zuchtmeister titulierten Herbert Wehner für seinen Rücktritt verantwortlich. Er vermutete sogar eine Verschwörung Wehners mit dem neuen starken Mann der DDR Erich Honecker, wenigstens wenn man Seebacher glauben will. Verfassungsschutzpräsident Nollau galt als Wehners Protegé. Es gab seit Jahren einen heftigen Kampf um die Kontrolle der westdeutschen Geheimdienste. So hatte der BND in Pullach bei München traditionell besonders gute Beziehungen zu den Unionsparteien. Das versuchte die SPD aufzubrechen, war aber bisher gescheitert. Nollau sollte sogar einmal BND-Vizepräsident werden, wurde aber wegen Sicherheitsbedenken abgelehnt: Er kam wie die Guillaumes aus der Ostzone. Das entbehrte angesichts der späteren Entwicklung nicht einer gewissen Ironie.

Andropows guter Draht zum Brandt-Intimus Egon Bahr

Wehner befürchtete nach dem furiosen Wahlsieg den Verfall der Bundesregierung und das Einschlafen der Ostpolitik. Er hatte 1942 in Schweden mit dem Kommunismus gebrochen und reiste im September 1973 erstmals wieder nach Moskau. Auf der Rückreise der Bundestagsdelegation äußerte er sich vor Journalisten über den Bundeskanzler. Er bade gerne lau, so in einem Schaumbad, lautete eine berühmt gewordene Formulierung. Das wurde als offener Angriff auf die Autorität des Bundeskanzlers interpretiert. Die Dramatik entsprang allerdings der Kunst der journalistischen Zuspitzung von Wehners Aussagen. Das gab es auch schon in analogen Zeiten.

Vorschau Herbert Wehner, Willy Brandt und Helmut Schmidt (v.l.n.r.) auf dem Bundesparteitag der SPD in Hannover, 10.-14.4.1973
Herbert Wehner, Willy Brandt und Helmut Schmidt (v.l.n.r.) auf dem Bundesparteitag der SPD in Hannover, April 1973: „Politischer Leichnam“, der gern lau bade (Wehner über Brandt zu Tschekisten)

In Moskau soll Wehner aber noch in einem Gespräch mit einem hohen russischen Funktionär von Brandts Trunksucht und Schürzenjägerei gesprochen habe. Warum man diesem „politischen Leichnam“ in Moskau noch vertraue, verstünden weder Wehner noch Honecker. Juri Andropow, Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB, misstraute dem Genossen Honecker, hatte aber einen guten Draht zum Brandt-Intimus Egon Bahr. Der bestand in dem KGB-General Wjatscheslaw Keworkow, wo im sogenannten back channel alles zur Sprache kam, was man offiziellen Kanälen nicht anvertrauen wollte; ein in der Diplomatie übliches Verfahren, das nicht zuletzt Henry Kissinger in Washington als hohe Kunst zelebrierte. Es findet im Dunstkreis zwischen Diplomatie und Geheimdienst statt, hat immer etwas Geheimnisvolles und gerade deshalb das Odium des Verrats.

„Das ist ein Verräter“, so erfuhr Bahr von seinem Kanal, wie der KGB Wehners Aussagen interpretierte. Heute gilt das aber als Desinformation der sowjetischen Tschekisten, um Wehners Kanal zu Honecker zu desavouieren. Konsequenzen hatte das alles nicht: Brandt wagte Ende 1973 nicht den offenen Bruch mit seinem Bundestagsfraktionsvorsitzenden, obwohl ihr Verhältnis als zerrüttet galt. Egon Bahr wiederum wusste bis zuletzt nichts vom Spionageverdacht gegen Guillaume. Das wollte ihm niemand sagen. Es ist vom fehlenden Interesse der Geheimdienste auszugehen.

 

Teil 2 des Beitrags von Frank Lübberding über den Rücktritt Willy Brandts lesen Sie hier.

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