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Der verfassungsrechtliche Schutz des ungeborenen Lebens

Abtreibung kann nie legal sein

Das Thema Abtreibung ist mit seinen vielen ethischen Facetten stets ein Politikum: Nachdem der United States Supreme Court im Juni 2022 die Entscheidung Roe vs. Wade aus dem Jahr 1973 aufgehoben und der französische Präsident Emmanuel Macron eine Diskussion über die Ergänzung der EU-Grundrechtecharta um ein „Grundrecht auf Schwangerschaftsabbruch“ angestoßen hatte, sind seit dem Amtsantritt der sozialgrünliberalen Koalition unter Bundeskanzler Olaf Scholz in Deutschland Stimmen lauter geworden, die eine grundlegende Reform des rechtlichen Rahmens eines Schwangerschaftsabbruchs fordern.

Ein Vorhaben aus den Reihen der Regierungskoalition liegt auf dem Tisch, das Abtreibungsstrafrecht gänzlich aus dem deutschen Strafgesetzbuch (StGB) zu streichen – sogar die Grundnorm des § 218 StGB, die die grundsätzliche Strafbarkeit der Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs festlegt. Ein solcher Schritt verstieße gegen das Grundgesetz, wie auch die Bayerische Staatsregierung bereits zutreffend festgestellt hat. Dessen ungeachtet arbeitet seit Ende März eine von drei Ministerien eingesetzte „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung“ an einer rechtlich gangbaren Lösung.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich bisher selten mit der verfassungsrechtlichen Bewertung eines Abbruchs der Schwangerschaft auseinandergesetzt. In zwei wegweisenden Grundentscheidungen legte es gleichwohl Leitlinien fest, deren abstraktionsfähige Aussagen seine Rechtsprechung auch in anderen Fragen bis heute prägen. Die erste Abtreibungsentscheidung aus dem Jahr 1975 (BVerfGE 39, 1) fällt in das gesellschaftspolitisch aufgewühlte Klima der sozialliberalen Koalition, deren umfangreiche Reformagenda auf große Teile der Gesellschaft prallten, die zu dieser Zeit noch konservativer geprägt war als heute.

Der Staat ist dazu verpflichtet, sich schützend und fördernd vor das ungeborene Leben zu stellen

Als die Bundesregierung sich für ein Fristenmodell entschied, kassierte der Karlsruher „Hüter der Verfassung“ die Reform nach Anstrengung eines Normenkontrollverfahrens durch die oppositionelle Unionsfraktion prompt und legte zugleich das Fundament für die Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs am Maßstab des Grundgesetzes. Einer Fristenlösung ist demnach eine Absage zu erteilen, der Gesetzgeber ist vielmehr grundsätzlich auf eine Indikationslösung beschränkt. Dies war die Geburtsstunde der grundrechtlichen Schutzpflicht, die die staatliche Gewalt dazu verpflichtet, „sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen“ (BVerfGE 39, 1 [42]).

Dabei ist der Rekurs auf diese grundrechtsdogmatische Schöpfung aus Karlsruhe im Kontext des Schwangerschaftsabbruchs nur folgerichtig: Der Staat rückt gewissermaßen in die Rolle eines Grundrechtstreuhänders für den nasciturus (lateinisch „Der geboren werden wird“) vor, denn das ungeborene Leben kann seine Grundrechtspositionen logischerweise nicht selbst geltend machen. Auf die Mutter ist hierbei ebenso wenig Verlass, denn sie beabsichtigt ja gerade, den Embryo zu beseitigen, vertritt also konträre Interessen. Die Freiheitsbedrohung geht nicht vom Staat aus, sondern von Privaten.

Fast zwei Jahrzehnte später stand das Land vor dem Problem einer Harmonisierung der unterschiedlichen Rechtssysteme der ehemaligen DDR und der BRD. Das Gericht beschäftigte sich 1993 erneut umfangreich (genau genommen auf 162 Seiten) mit der „Abtreibungsfrage“ und präzisierte die Leitlinien der ersten Entscheidung (BVerfGE 88, 203). Karlsruhe erklärte die Neuregelung des nunmehr gesamtdeutschen Gesetzgebers erneut für mit dem Grundgesetz unvereinbar und statuierte umfangreiche Vorgaben für die Ausgestaltung des Abtreibungsrechts.

Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist auf das Strafrecht beschränkt

Die in der ersten Abtreibungsentscheidung entwickelte staatliche Schutzpflicht für das ungeborene Leben verpflichtet den Gesetzgeber dazu, wirksame Schutzmaßnahmen normativer und tatsächlicher Art zu treffen. Trotz einer gewissen Liberalisierung seitens des Gerichts blieb es dabei bei einer grundsätzlichen Einengung dieser Regelungsmöglichkeiten auf das Strafrecht. Der Gesetzgeber hat zwar die Möglichkeit, das Schutzkonzept um Beratungskonzepte zu erweitern, es blieb allerdings bei der verfassungsrechtlich vorgegebenen grundsätzlichen Strafbarkeit.

Relevant für eine beabsichtigte Streichung der §§ 218 ff. StGB ist dabei nicht zuletzt die Festlegung des Gerichts, dass „der Schwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer der Schwangerschaft als Unrecht angesehen wird und demgemäß rechtlich verboten ist“ (BVerfGE 88, 203 [255] unter Verweis auf BVerfGE 39, 1 [44]). In der Konsequenz bedeutet das, dass der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Erfüllung der Schutzpflicht für den Bereich des Abtreibungsrechts auf das Strafrecht beschränkt ist.

Zwar muss ein Schwangerschaftsabbruch nicht in jedem Fall mit einer Strafe geahndet werden, aber das mit dem grundsätzlichen Makel eines Straftatbestandes verbundene moralische Unwerturteil muss dem Grunde nach bestehen bleiben. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass die von linken politischen Kräften sonst zelebrierte und unter anderem zur Rechtfertigung drakonischer Corona-Maßnahmen und des sogenannten Klimaschutzbeschlusses herangezogene grundrechtliche Schutzpflicht einem derartigen Reformvorhaben den Riegel vorschiebt. Eine vollständige Abkehr vom strafrechtlichen Schutz würde das Untermaßverbot verletzen. Das ist auch im Interesse einer grundrechtstheoretischen Korrespondenz, denn auf den schärfsten Grundrechtseingriff (Tod) kann nur mit dem schärfsten Mittel (Strafrecht) reagiert werden.

Weder rechtspolitisch wünschenswert noch verfassungsrechtlich zulässig

Der im Diskurs häufig anzutreffende, pauschale Verweis auf ein „reproduktives Selbstbestimmungsrecht“ der Schwangeren ignoriert, dass es hier nicht darum geht, letzterer die Kontrolle über ihren Körper zu verwehren, sondern in Wahrheit ein dreipoliges Verhältnis vorliegt. Der nasciturus ist kein „Rechtsgut“ der Schwangeren, sondern eigenes Leben, das ab der Nidation (Einnistung) auch den Schutz des Grundgesetzes erfährt. Es geht auch nicht lediglich um eine Verrechtlichung moralischer Ansichten (was man zu Recht ablehnen kann), sondern schlicht um Rechtsgüterschutz, und das ist eine zentrale verfassungsrechtliche Aufgabe des Strafrechts.

Eigentlich beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung bei Schutzpflichten mit Rücksicht auf die Gewaltenteilung lediglich darauf, zu überprüfen, ob Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen worden sind, die getroffenen Maßnahmen zur Erreichung des Schutzziels gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind oder ob sie erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (so zuletzt BVerfGE 157, 30 [114]). Die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte ist jedoch letztlich abhängig von den Besonderheiten des Sachverhalts oder des in Rede stehenden Rechtsgebiets.

Aufgrund der besonderen Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens ging das Gericht zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle über und beschränkte den Gesetzgeber eben früh auf eine strafrechtliche (Beratungs-)Lösung. Dabei dürfte es bei Einhaltung dieser Selbstbindung des Gerichts auch bleiben – dies aber nur unter dem Vorbehalt, dass Karlsruhe keine Überraschung aus dem Hut zaubert, um ein politisch gewünschtes Ergebnis zu erzielen.

Das aktuelle politische Klima lässt am Horizont eine einseitige Verschiebung zugunsten sogenannter „reproduktiver Selbstbestimmung“ erscheinen. Eine Abkehr vom strafrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens ist jedoch weder rechtspolitisch wünschenswert noch verfassungsrechtlich zulässig. Ob der Gesetzgeber diese Warnungen ernst nimmt, bleibt abzuwarten. Es ist jedenfalls zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht im Falle einer Umsetzung solcher Reformvorhaben seiner bisherigen Rechtsprechung treu bleibt. Dass sich das Gericht aber nur allzu oft einem pseudoprogressiven Zeitgeist beugt, steht gleichwohl ebenso fest.

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Thorsten Paprotny
Vor 8 Monate 4 Wochen

Herzlichen Dank für den instruktiven, wichtigen Beitrag.
Zudem ein Hinweis auf eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages von 2018:

„Durch das Grundgesetz werden dem Staat nicht nur unmittelbare Eingriffe in das menschliche Leben untersagt, er wird zugleich verpflichtet, sich schützend und fördernd vor jedes menschliche Leben zu stellen. Dies umfasst auch das ungeborene Leben. Begründet liegt diese Schutzpflicht in der Würde des Menschen nach Art. 1 Abs. 1 GG, ihr der Gegenstand wird in Art. 2 Abs. 2, Satz 1 GG bestimmt. Die Schutzpflicht beginnt jedenfalls mit der Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutter (sogenannte Nidation), denn fortan handelt es sich um ein individuelles, genetisch einmaliges und nicht mehr teilbares Leben. Das Ungeborene wird im Wachstumsprozess nicht erst zum Menschen, sondern entwickelt sich als solcher weiter.“

https://www.bundestag.de/resource/blob/592130/21e336d47580c1faa15dbe23d…

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Thorsten Paprotny
Vor 8 Monate 4 Wochen

Herzlichen Dank für den instruktiven, wichtigen Beitrag.
Zudem ein Hinweis auf eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages von 2018:

„Durch das Grundgesetz werden dem Staat nicht nur unmittelbare Eingriffe in das menschliche Leben untersagt, er wird zugleich verpflichtet, sich schützend und fördernd vor jedes menschliche Leben zu stellen. Dies umfasst auch das ungeborene Leben. Begründet liegt diese Schutzpflicht in der Würde des Menschen nach Art. 1 Abs. 1 GG, ihr der Gegenstand wird in Art. 2 Abs. 2, Satz 1 GG bestimmt. Die Schutzpflicht beginnt jedenfalls mit der Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutter (sogenannte Nidation), denn fortan handelt es sich um ein individuelles, genetisch einmaliges und nicht mehr teilbares Leben. Das Ungeborene wird im Wachstumsprozess nicht erst zum Menschen, sondern entwickelt sich als solcher weiter.“

https://www.bundestag.de/resource/blob/592130/21e336d47580c1faa15dbe23d…