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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Warten auf Selenskyj

Angeblich soll es am 15. Juni 2023 so weit sein. Vielleicht entscheidet man sich aber doch noch für einen anderen Tag. Vermutlich über die Mittagszeit. Oder doch gegen Abend? Es herrscht viel Verwirrung derzeit. Sicher ist nur: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, wird im Saal des Schweizer Nationalrats das Wort ans eidgenössische Parlament richten.

Er tut das nicht in Person, sondern per Video. Ebenfalls klar ist, dass er das nicht unter einem offiziellen Traktandum, sondern gewissermaßen als Zugabe zum üblichen Politprogramm machen wird. Deshalb mittags oder abends. Es ist der ähnliche Kunstgriff, wie er schon im Parlament von Österreich angewendet wurde: Nein, niemand muss zuhören, aber wer zufällig noch im Saal ist, darf herzlich gerne. Es klingt, als wäre es auch möglich, in den debattenfreien Zwischenzeiten eine Currywurstbude im Parlamentssaal aufzustellen.

Eine Partei bleibt dem Anlass fern

Eine einzige Partei, die Schweizerische Volkspartei (SVP), stemmt sich gegen das Anliegen. Was schwierig ist, weil nur offizielle Traktanden in Frage gestellt werden können. Die Parlamentarier der SVP haben deshalb beschlossen, dem Anlass fernzubleiben. Es bleiben aber auch dann noch genügend Leute, die Selenskyj gebannt zuhören werden.

Was da passiert, ist eigentlich ein No-Go. Nicht, weil es um Selenskyj geht, sondern auf der grundsätzlichen Ebene. Die Schweiz ist ein neutraler Staat, und es ist ein Unding, den Staatspräsidenten eines Landes, das sich im Krieg befindet, zu den gewählten Volksvertretern im Herzen des Bundeshauses sprechen zu lassen. Wer das unbedingt hören möchte, kann im privaten Rahmen in einem Vorort von Bern den Saal eines Restaurants mieten, einen Beamer aufstellen und Einladungen versenden.

Aber sich direkt an die Parlamentarier wenden? Dort, wo sonst Gesetze beschlossen werden? Man kann vielleicht die Uhrzeit des Anlasses „inoffiziell“ gestalten, die offizielle Symbolik bleibt erhalten. Denn es ist nicht überliefert, dass Wladimir Putin ebenfalls zu diesem Publikum sprechen dürfte. Das wäre, wenn man es mit der Neutralität ernst nimmt, das Mindeste. Doch so ist die Botschaft klar: Die Schweiz bezieht Position für die Ukraine, basta.

Die Schweiz ist neutral – zumindest war sie es all die Jahrzehnte zuvor

Bei der Symbolik wird es allerdings nicht bleiben. Was genau wird der ukrainische Präsident den Schweizer Volksvertretern mitteilen? Es ist nicht sonderlich schwer zu prognostizieren. Er wird an sie appellieren, es mit dieser doofen Neutralität für einmal zu lassen. Sie sollen Waffen und Munition schicken oder es wenigstens anderen Ländern ermöglichen, Kriegsmaterial an die Ukraine weiterzugeben, das sie ursprünglich für etwas anderes gekauft haben. Selenskyi wird die Parlamentarier einseifen, ihnen ins Gewissen sprechen. Das kann er sehr, sehr gut, wie er unzählige Male bewiesen hat.

Ist man dagegen, dass das alles geschieht, so ist man ein Unmensch. Einer, der dem am Boden liegenden David nicht die Hand reicht und so indirekt den Goliath unterstützt. Denn es gilt ja: Nur immer mehr Waffen können den Krieg beenden. Diesen Gedankengang würde zwar kein Kind verstehen, aber Politiker sind offen für dieses Motto. Sie wollen als die Guten gelten, und das ist man, wenn man Selenskyj reden lässt, aber noch mehr, wenn man danach tut, was er gern hätte.

Wie oft in den vergangenen Jahrzehnten wurde die Schweiz Zeuge eines Krieges? Wie oft gehörten die Sympathien instinktiv dem einen und nicht dem andern? Vor allem aber: Wie oft resultierte daraus eine Ansprache vor dem Parlament? Die Antwort auf die dritte Frage lautet: kein einziges Mal. Niemand wäre jemals auf die Idee gekommen. Die Schweiz ist neutral, und sie bietet gern ihre Dienste als Vermittler an. Das ist natürlich längst nicht mehr möglich, nachdem das Land überstürzt die EU-Sanktionen übernommen hat. Was offenbar zum verqueren Gedanken geführt hat: Da kann es ja auch nichts mehr schaden, das Ganze noch auf die Spitze zu treiben.

Ein Land ohne Prinzipien ist dem Untergang geweiht

Ein Land ohne Prinzipien ist früher oder später dem Untergang geweiht. Wer seine Werte beiseiteräumt, weil es sich gerade gut macht, der verliert sein Fundament. Selenskyj mitzuteilen, dass er sich nicht direkt ans Parlament wenden kann, wäre kein Affront gewesen, sondern die natürliche Reaktion eines souveränen, neutralen Staates. Die Schweiz gibt ukrainischen Flüchtlingen eine temporäre Heimat, sie schickt Hilfsmittel ins angegriffene Land, sie hängt sogar Ukraineflaggen an öffentliche Gebäude. Das muss reichen.

Stattdessen geben die Leute, die das Volk vertreten sollten, zugunsten einer Videoshow die Neutralität und Unabhängigkeit mal schnell auf. Wer sanft darauf aufmerksam macht, welches Signal das ausstrahlt, gilt aber keineswegs als ein Verfechter der immerwährenden Neutralität, sondern als „Putin-Versteher“. Verstehe das, wer will. Ich jedenfalls nicht.

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KeinEidgenosse
Vor 10 Monate 1 Woche

Zu den Werten der Schweiz gehört Neutralität und Unabhängigkeit! Damit hat man ja schliesslich gute Erfahrungen gemacht: Bereits im Zweiten Weltkrieg machte man gute Geschäfte und profitierte auf dem Rücken der ermordeten Juden. Wenn Stefan Millius hier eine Wiederholung der Geschichte einfordert, dann ist das durchaus konsequent. Schließlich hat man ja schon einmal von Völkermord und Vernichtungskrieg profitiert. Wenn Geld und Wohlstand die höchsten Schweizer Werte sind, dann sollte man zu diesen Prinzipien stehen und sich nicht mit der Lage der Ukraine befassen!

Das Hissen der Ukrainischen Flagge sowie ein bisschen humanitäre Hilfe genügen dann als Feigenblatt für die Verdeckung der eigenen Scham. Schliesslich möchte man ja nicht als nur geldgeil wahrgenommen werden. So ein bisschen Ehre und Anstand wäre natürlich schon nett, solange es nicht ins Geld geht!

Selenskiy im österreichischen Parlament: Im Angesicht des Bösen kann niemand moralisch neutral sein! Die Antwort von Stefan Millius: Doch, in der Schweiz ging das immer schon! Warum nicht auch heute? Schließlich ist ein Land ohne Prinzipien dem Untergang geweiht!

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KeinEidgenosse
Vor 10 Monate 1 Woche

Zu den Werten der Schweiz gehört Neutralität und Unabhängigkeit! Damit hat man ja schliesslich gute Erfahrungen gemacht: Bereits im Zweiten Weltkrieg machte man gute Geschäfte und profitierte auf dem Rücken der ermordeten Juden. Wenn Stefan Millius hier eine Wiederholung der Geschichte einfordert, dann ist das durchaus konsequent. Schließlich hat man ja schon einmal von Völkermord und Vernichtungskrieg profitiert. Wenn Geld und Wohlstand die höchsten Schweizer Werte sind, dann sollte man zu diesen Prinzipien stehen und sich nicht mit der Lage der Ukraine befassen!

Das Hissen der Ukrainischen Flagge sowie ein bisschen humanitäre Hilfe genügen dann als Feigenblatt für die Verdeckung der eigenen Scham. Schliesslich möchte man ja nicht als nur geldgeil wahrgenommen werden. So ein bisschen Ehre und Anstand wäre natürlich schon nett, solange es nicht ins Geld geht!

Selenskiy im österreichischen Parlament: Im Angesicht des Bösen kann niemand moralisch neutral sein! Die Antwort von Stefan Millius: Doch, in der Schweiz ging das immer schon! Warum nicht auch heute? Schließlich ist ein Land ohne Prinzipien dem Untergang geweiht!