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In der Falle der Lust

Wenn Pornografie zur schmerzvollen Sucht wird

Nach einer bundesweiten Studie der Landesanstalt für Medien NRW hat jeder Dritte (35 Prozent) der Elf- bis 17-Jährigen schon einmal einen Porno gesehen, jeder Fünfte (21 Prozent) dieser Altersgruppe hat schon einmal selbst „gesextet“, also aufreizende oder intime Bilder verschickt. 

Und das, obwohl es nach Paragraf 184 des Strafgesetzbuches verboten ist, Jugendlichen unter 18 Jahren pornografisches Material zugänglich zu machen. 42 Prozent aller Internetnutzer sehen sich Pornografie an. Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland etwa 200.000 bis 500.000 Menschen internet-sexsüchtig sind.

Doch wie kommt es zu dieser Entwicklung, und welche Folgen hat sie für das Leben der Betroffenen?

Corrigenda sprach mit einem Jugendreferenten des Weißen Kreuzes, der sich mit den Themen Liebe bei Jugendlichen und Pornografie beschäftigt, mit einer jungen Frau, die ihre Pornografiesucht überwunden hat, und mit einer angehenden Sexualtherapeutin, die den überkonfessionellen Dienst free!ndeed e. V.“ leitet, der sich auf die innere Heilung im Bereich der Sexualität konzentriert.

Das Weiße Kreuz in Aktion

Seit April 2022 ist Gabriel Kießling als Fach- und Jugendreferent beim Weißen Kreuz. Der Sozialpädagoge widmet sich insbesondere den Themen Liebe in der Jugend und Pornografie – zwei Bereiche, die gerade für Jugendliche im Alter von 13 bis 20 Jahren häufig mit Unsicherheiten und Fragen verbunden sind.

Das Weiße Kreuz engagiert sich gezielt bei Internet-Sexsucht und hat diesbezüglich bereits verschiedene Merkblätter herausgegeben sowie einen Social-Media-Kanal mit dem illustren Namen „@holyfuck_de“ errichtet, der sich um Sexualität und Glauben dreht. 

Gabriel Kießling wird von Jugendgruppen aus ganz Deutschland eingeladen, um Referate zu halten oder Seelsorgegespräche anzubieten. Sein Ziel ist es, dass Jugendliche in erfüllende und heilsame Beziehungen finden. Dazu brauchen sie Erwachsene, die transparent für ihre Werte stehen und an denen sie sich abarbeiten können. Themen wie Sexualität und Pornografie gehören dabei zu den heißesten Eisen.

Fehlende Aufklärung als Nährboden für Pornografie-Konsum

Eine zentrale Erkenntnis aus Kießlings Arbeit: Jugendliche greifen vor allem deshalb zu Pornografie, weil „zu Hause keine oder nur unzureichende Sexualaufklärung stattfindet“. Kießling berichtet: „Viele Jugendliche fühlen sich alleingelassen.“ Weil ihnen offene Gespräche nicht geboten werden, suchen sie Antworten im Internet – auch auf Seiten, die ein unrealistisches und verzerrtes Bild von Sexualität vermitteln.

In seinen Gesprächen mit Jugendlichen begegnet Kießling immer wieder spezifischen Unsicherheiten, die sich aus dem Konsum von Pornografie ergeben. 

Bei Mädchen stehen vor allem Fragen zu Körperidealen und sexuellen Erwartungen im Vordergrund: „Muss meine Oberweite auch so groß sein?“ oder „Warum werde ich nach Oralverkehr gefragt, bevor wir uns richtig kennengelernt haben?“ Diese Themen spiegeln den hohen Druck wider, der durch mediale Schönheitsideale und sexualisierte Darstellungen entsteht.

Jungen hingegen kämpften ebenfalls gegen diese unrealistischen Vorstellungen: „Muss ich auch so lange durchhalten?“, „Bin ich untenrum normal gebaut?“ Hier entsteht eine Art Performance-Druck, der dazu führt, dass sich Jungen in ihrer Männlichkeit und Sexualität unsicher fühlen, bis hin zu einer generellen Angst vor Sexualität.

Altersgerechte Aufklärung

Gabriel Kießling, Jugendfachreferent Weißes Kreuz

Generell rät Kießling, den Jugendlichen altersgerechte, klare und nicht schambehaftete Antworten zu geben. Angesprochen auf Jugendbroschüren mit explizit sexuellen Inhalten, wie z. B. die Verwendung von bestimmten Sexspielzeugen, die als Fetisch einzustufen sind, hat er eine klare Meinung: „Das geht am Ziel vorbei und wirft mehr Fragen auf, als dass es Antworten gibt.“ Er kann sich den pädagogischen Ansatz solcher Dinge nicht erklären und stellt sich vor, „dass solche Inhalte in diesem Alter zu einem Einfallstor für die Relativierung sexualisierter Gewalt werden können“.

Ist die Sucht nach pornografischen Inhalten bereits eingetreten, verweist Kießling auf Onlinedienste wie „Raus aus der Pornofalle“ oder „Safer Surfing“, die Online-Kurse anbieten, die anonym absolviert werden können. Hier erhält der Nutzer praktische Tipps zum Ausstieg und kann sich Erfahrungsberichte anhören.

Der Leidensweg der Nina A.

Nina A. (Name der Redaktion bekannt) ist Mitte 20 und lebt heute in einer glücklichen Beziehung – ohne Pornografie. Doch das war nicht immer so. A. erzählte Corrigenda offen und ehrlich von ihrem Weg aus der Pornosucht, der schon sehr früh begann.

„Mit acht Jahren hatte ich meinen ersten Kontakt, als eine Freundin aus der Grundschule Roulettekarten mitbrachte, die sie von ihrer Schwester weggenommen hatte. Und da waren Kamasutra-Stellungen drauf, Sexstellungen.“ Diese kindliche Neugierde, gepaart mit Freundeseinflüssen und der späteren Verfügbarkeit von Smartphones, führte zu einer schleichenden Abhängigkeit. 

„Ich habe einfach gemerkt, dass es auf einmal nicht mehr genug war, dass das von den soften immer zu härteren Pornos irgendwie überging. Dann waren die Grenzen verschwommen, und ich kam mit meiner Arbeit nicht hinterher.“ 

Die junge Frau beschreibt, wie eine Nebelwolke um sie herum war, sie konnte keine Prioritäten mehr setzen und sich nicht auf die Arbeit konzentrieren.

Die Folgen dieser Sucht waren weitreichend. Sie beschreibt die Auswirkungen auf ihr Selbstwertgefühl, Beziehungen und ihren Alltag. „Ich fühlte mich schuldig und entfernt von Gott. Diese Scham machte es schwer, mich selbst zu lieben – und dadurch auch andere.“ 

Beziehungen zu Männern waren geprägt von Unsicherheiten und einem verzerrten Bild: „Ich fühlte mich zu Männern hingezogen, konnte aber keine Beziehung eingehen, weil ich mich innerlich blockiert fühlte.“

Ein Wendepunkt war, als sie ihre Sucht mit anderen teilte: „Als ich anfing, das von der Dunkelheit ins Licht zu bringen, habe ich gemerkt, dass ich nicht allein bin.“ Der Austausch in den Gemeinden und Programme wie free!ndeed e. V.“ das jungen Menschen in der Kirche hilft, ein schamfreies und ganzheitliches Bild von Sexualität zu entwickeln, gaben ihr die Möglichkeit, über ihre Erfahrungen zu sprechen und Strategien zu entwickeln.

„Also ich musste Trigger vermeiden und ganz gezielt anders leben. Wenn ich jetzt zum Beispiel merke, dass mich Liebesfilme triggern, dann schaue ich mir keine Liebesfilme mehr an. Oder wenn ich mich einsam fühle, dann rufe ich einen Freund, eine Freundin an, treffe mich mit ihr und rede mit ihr.“

Besonders wichtig war ihr katholischer Glaube: „Durch Beichte und geistliche Begleitung habe ich gelernt, mich selbst in meiner Schwäche anzunehmen und zu verstehen, dass ich ein geliebtes Kind Gottes bin.“

Pornografie-Sucht ändert die Hirnstruktur

Wir haben Nina A. gefragt, was ihrer Meinung nach der Hauptgrund für die Pornosucht ist: „Ich glaube, es ist vor allem psychologisch, es wird so viel Dopamin ausgeschüttet. Man hat das Gefühl, dass man Sex hat, aber man hat ihn nicht. Man schüttet derart viele Glückshormone aus, dass man einen Suchteffekt bekommt. Das Gehirn speichert das als etwas Positives ab, und dann will man immer mehr davon.“

Mittlerweile gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, wonach übermäßiger Pornokonsum über einen langen Zeitraum die Hirnstruktur verändert. In einer Studie haben Forscher per Magnetresonanztomographie untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Pornokonsums und der Größe des Striatums gibt. Diese Hirnregion gehört zum sogenannten Belohnungszentrum. Dabei zeigte sich etwas Erstaunliches: Je mehr Pornos konsumiert wurden, desto kleiner war die Region. 

Auch die Belohnungsaktivität des Gehirns ist bei Menschen, die oft Pornografie betrachten, geringer. Das Gehirn braucht also immer stärkere Reize, um Botenstoffe wie Dopamin, Serotonin und Endorphine auszuschütten. Das heißt, das allgemeine Wohlbefinden ist schwerer zu erreichen. Man muss immer etwas noch Extremeres unternehmen, um zufrieden zu sein. 

Es gibt auch einen Zusammenhang zwischen übermäßigem Pornokonsum und Erektionsstörungen. Frauen gehen das Risiko ein, dass ihre Vulva nicht mehr auf einen nicht motorisierten Penis reagiert, wenn sie übermäßig einen Vibrator benutzen.

Eine offizielle Diagnose

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Pornografische Nutzungsstörung als Störung mit zwanghaftem Sexualverhalten („Sexuelle Sucht“) in der elften Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) als Krankheit anerkannt. 

Da es noch zu wenig wissenschaftlich fundierte Behandlungskonzepte gibt, hat sich eine Expertengruppe mit dem Namen „PornLos“ zusammengeschlossen und in verschiedenen Bundesländern eine ambulante Psychotherapie angeboten, die von den Krankenkassen übernommen wird. Das Ziel ist es, die gesundheitliche Versorgung auf diesem Gebiet zu verbessern. 

Betroffene können sich laut Website noch für kurze Zeit melden, um den Verdacht auf eine Pornografische Nutzungsstörung abzuklären und sich gegebenenfalls behandeln zu lassen. 

Die Tatsache, dass bereits Maßnahmen im Gesundheitsbereich ergriffen werden, um den Bedürfnissen der Betroffenen im Zusammenhang mit der Pornografischen Nutzungsstörung gerecht zu werden, zeigt, dass ein echter Behandlungsbedarf besteht und dass das Problem von Akteuren unterschiedlicher Couleur ernst genommen wird.

Christlich oder schulmedizinisch von der Pornosucht geheilt?

Auf der Suche nach einem Gespräch mit einem Sexualtherapeuten zum Thema Pornosucht stieß Corrigenda nicht immer auf offene Türen. Nach langer Suche und Terminabsprache meldete sich Rebekka Robert, Leiterin des überkonfessionellen Dienstes free!ndeed e. V.. Sie beantwortete für Corrigenda einige Fragen zur Pornografiesucht. „free!ndeed e.V.“ ist ein theologisch fundierter Dienst, der sich mit Sexualität aus christlicher Perspektive auseinandersetzt.

Rebekka Robert ist Lehrerin und angehende Sexualtherapeutin. Die 34-Jährige macht eine Ausbildung an der Akademie für Sexualtherapie und Psychotherapie (AKST) im thüringischen Hildburghausen. Die Ausbildung ist säkular. Wichtig ist ihr, dass free!ndeed e. V.ganzheitlich und wissenschaftlich arbeitet.

Auf der Website des Vereins wird der Zugang zur Heilung von Pornografiesucht vor allem als christliche Erfahrung dargestellt. „Die allermeisten Leute haben über die Kirche von uns gehört“, das solle aber trotzdem kein Hindernis sein, Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn man damit nicht so viel anfangen könne. Robert meint, dass auch Nichtgläubige beraten werden können, „denn niemand wird an seinem Glauben gemessen“. Schwerpunkt des Dienstes sei aber besonders die Auseinandersetzung mit den Themen Freiheit von sexuellen Süchten sowie der Sexualität im Christentum im Allgemeinen.

Gleichzeitig betreibt der Verein eine zweite Website, die sich freivonporn.de nennt. „Und da können auch Leute, die jetzt nichts mit dem christlichen Glauben zu tun haben, bei uns einen Kurs machen.“ Dieser Kurs sei noch stärker wissenschaftlich und weniger theologisch fundiert.

Wie sich die Sucht gestaltet

Ab wann ist man eigentlich pornosüchtig, wollten wir von Robert wissen. Sie verweist unter anderem auf die Vorgaben der ICD-11 der WHO zur Diagnose der Pornografischen Nutzungsstörung, zählt aber auch viele Kriterien auf, die der Sucht entsprechen. Pornografie sei eine Sucht, der Menschen leicht verfallen könnten, weil sie überall zugänglich ist und anonym konsumiert werden kann. Gerade, weil es im Einstieg meist kostenfrei sei und trotzdem eine Milliardenindustrie dahinterstehe, die die Sucht auch fördere. 

Die Pornoindustrie habe eine eigene Agenda, um die Leute sehr früh in die Sucht zu locken, damit die gleichen Leute irgendwann auch in das System einzahlen. „Es ist eben nicht mehr wie früher, dass man sich ein Heft oder eine VHS-Kassette besorgt, sondern man hat sofort und jederzeit Zugang zu pornografischem Material, auch auf Plattformen wie YouTube“, beschreibt Robert.

Zur Sucht gehöre auch, dass man ein starkes Verlangen danach habe, verbunden mit einem Kontrollverlust. Dass man sich in diesem Bereich nicht mehr aus eigener Kraft regulieren könne. Dann komme dazu, dass man immer toleranter dafür werde. 

„Da kann es auch vorkommen, dass ein Familienvater, der zwei oder drei Kinder zu Hause hat, auf einmal anfängt, sich Pornos im pädophilen Bereich anzuschauen, obwohl er sich eigentlich geschworen hat, soweit nie zu gehen. Deshalb ist ein weiteres Suchtkriterium, wenn eine kontinuierliche Toleranzentwicklung sichtbar wird, persönlich gesetzte Grenzen zu überschreiten“, erklärt Robert. 

Weitere sind Entzugserscheinungen oder auch kontinuierlicher sozialer Rückzug.

Das Christentum und der Körper

Gerade im christlichen Bereich tue man sich geschichtlich schwer mit einem gesunden Verhältnis zur Sexualität. Wie dieser Aspekt behandelt wird, wollten wir auch von Robert wissen. „Ich bin zum Beispiel gar kein Vertreter der sogenannten Purity Culture, die im Laufe der 90er Jahre aus den USA nach Europa gekommen ist“, beginnt Robert. Dort seien vor allem Millennials im evangelischen und evangelikalen Bereich geprägt worden, den Körper als etwas Negatives zu sehen. Das Gedankengut dieser Zeit habe die Scham im Bereich Sexualität noch verstärkt.

„Wir wollen den Menschen ganzheitlich helfen, ein gesundes Verhältnis zu ihrer Sexualität zu entwickeln“, erzählt Robert. Dabei sei es wichtig, eine gesunde Sexualtheologie zu vertreten, die nicht auf Verboten basiere, sondern auf dem Verständnis, dass Sexualität ein Geschenk und Gott vielmehr an Beziehung mit uns interessiert sei. Dass Menschen, die glauben, Gottes Herz zu verstehen, selbst gute und mündige Entscheidungen treffen wollen und können.

Wie kann man sich schützen?

Rebekka Robert, Lehrerin und angehende Sexualtherapeutin

Im Hinblick auf präventive Maßnahmen, die helfen könnten, den problematischen Konsum von Pornografie zu reduzieren, nimmt Robert den Staat, die Kirche und die Eltern in die Pflicht. Es brauche ein strengeres Jugendschutzgesetz, denn die Regelungen seien viel zu lasch. Das Einstiegsalter liege bei elf Jahren. Der Erstzugang zu Pornos sei bei Jungen zur Hälfte unfreiwillig, bei Mädchen sogar zu 80 Prozent. Die allermeisten hätten keinen eigenen Schritt in die Pornografie gemacht. Man dürfe aber auch nicht einfach den Eltern die Schuld in die Schuhe schieben. 

 

Diese seien oft ratlos, überfordert und wüssten gar nicht, was vor sich gehe. Statistiken zeigten, dass sich nur zehn Prozent der Eltern für einen Internetfilter entscheiden, was bedeutet, dass 90 Prozent der Minderjährigen das Internet ungefiltert nutzen. Auf kirchlicher Ebene hält Robert es für sehr wichtig, dass sowohl im Katholizismus als auch im Protestantismus eine neue Auseinandersetzung mit der Sexualität gesucht wird. 

Der Diskurs dürfe nicht angst- oder schambesetzt sein. Man traue den Menschen nicht zu, für sich selbst eine gute Entscheidung zu treffen, wenn sie sich auch genügend mit der Thematik auseinandergesetzt haben. „Diese mangelnde Mündigkeit hat in der Vergangenheit nichts Positives hervorgebracht.“

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