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Kinder als Social-Media-Stars

Kidfluencer: Der Öffentlichkeit gnadenlos ausgeliefert

Ryan Kaji war gerade drei Jahre alt, als es begann. Seine Eltern filmten ihn, als er ein Spielzeug auspackte, und veröffentlichten diesen Vorgang auf YouTube. Sie taten es, ohne ihren Sohn zu fragen. Ob er damit einverstanden war, spielte keine Rolle. Und was hätte er auch dagegen ausrichten können?

Fest steht jedenfalls: Kein Dreijähriger sagt zu seinen Eltern „Los, macht von mir ein Video und stellt es auf YouTube, damit ich in den nächsten Jahren als Kidfluencer Millionen scheffeln kann.“ Denn genau so ist es gekommen: Der aus Texas stammende Ryan Kaji präsentierte auf YouTube Spielzeug um Spielzeug und fuhr dafür Jahr für Jahr zweistellige Millionenbeiträge ein. 

Im Jahr 2018, also mit sechs Jahren, war er der bestbezahlte YouTube-Creator überhaupt. Inzwischen kümmert sich ein 30-köpfiges Team um die Produktion. Sogar eine eigene Produktlinie wurde auf den Markt gebracht, die unter anderem Spiele, Bücher, Bekleidung und Haushaltswaren umfasst – insgesamt über 1000 Markenprodukte weltweit.

Junge Fashion-Victims – Kidfluencer als Marketing-Masche

Ryan Kaji ist ein Kidfluencer. Das sind Kinder und Jugendliche, die Inhalte in den sozialen Medien verbreiten, um andere, zumeist Gleichaltrige, zu beeinflussen. Sie berichten aus ihrem Leben oder präsentieren in sogenannten „Hauls“ Produkte, in denen gezeigt wird, was bei der letzten Shopping-Tour im Einkaufswagen landete.

Ab einer bestimmten Reichweite bieten Unternehmen lukrative Kooperationen an. Kommt ein Vertrag zustande, betreiben die Kinder Influencer-Marketing, d.h. sie bewerben gezielt Produkte. Nicht unbedingt altersgerecht!

Die Japanerin Coco Pinkprincess, die ebenfalls im Kindergartenalter bekannt wurde und bald mehrere hunderttausend Instagram-Follower generierte, präsentiert beispielsweise Kleidung im Vintage-Stil, kombiniert mit Designermarken wie Gucci. Kein Kind kommt allein auf eine solche Idee. Zumal Kinder gar nicht das technische und sonstige Knowhow dazu haben. Und auch rechtlich nicht befugt sind, sich bei Accounts wie Instagram anzumelden.

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Kinderarbeit nur für Klicks?

Dennoch macht es den Eindruck, als würden immer mehr Kleinkinder nichts lieber tun, als sich als Kidfluencer zu betätigen. Auch im deutschsprachigen Raum breitet sich dieser Trend immer mehr aus: Um die 30.000 Kidfluencer soll es dort geschätzt geben.

Die bekanntesten präsentieren sich aktuell unter ihren Accounts „Mileys Welt“ und „Alles Ava“, die Abonnentenzahlen in Millionenhöhe generieren. Die allermeisten agieren in einem überschaubaren Rahmen, zahlenmäßig weit entfernt von Kidfluencern wie Ryan oder Coco. Das macht die Problematik, die sich mit dieser Entwicklung auftut, aber keineswegs geringer. Denn hier geht es um Kinderarbeit und damit um die Ausbeutung von Kindern, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch seelisch und körperlich.

Das mag hart klingen und mag sich nicht in jedem Fall so drastisch darstellen, aber es muss klar sein, dass es hier nicht einfach um ein weiteres, nettes Hobby geht. Egal, wie verspielt und heiter die Videos daherkommen mögen. Die kinderrechtlichen Probleme sind hier leider miteingepreist.

Zwischen Spaß und Druck – der harte Kampf um neue Abonnenten

Der freie Wille wurde bereits in Frage gestellt. Denn meistens dürfte der Impuls von den Eltern ausgegangen sein, die vielleicht erst einmal gar keine bewusste Absicht hatten, ihr Kind zu vermarkten, sondern einfach ein paar Beiträge über das Kind mit anderen zu teilen, weil sie ihnen selbst Freude machen.

Doch schnell kommt der Druck, der grundsätzlich in den Sozialen Medien herrscht. Und das bedeutet, rasch neuen und originelleren Content produzieren, schnelle Taktung, möglichst viele Abonnenten generieren.

Das stresst selbst erwachsene Influencer – wie soll es da erst den Kindern gehen? Der Druck ist umso größer, wenn Kinder zu den Hauptverdienern der Familie werden. Die Eltern fungieren dann als Produzenten und Manager. Sie drehen die Videos, verwalten die Accounts, da diese erst ab 13 Jahren selbst betrieben werden können und schaffen Vernetzungen zu unterschiedlichen Unternehmen, um sie zu Werbepartnerschaften zu bewegen.

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Den Kindern ist die Tragweite ihrer Tätigkeit erst einmal nicht bewusst; je jünger sie sind, desto weniger. Es ist auch sicherlich oft so, dass sie einige Zeit Gefallen daran finden, sich in Videos und auf Fotos zu präsentieren. Dennoch verwischen sich hier besonders schnell die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, gerade wenn im Alltag immer wieder mitgefilmt und fotografiert wird.

In Deutschland ist gesetzlich vorgeschrieben, wie lange Kinder, und damit auch Kidfluencer, arbeiten dürfen. Im Alter zwischen drei und sechs Jahren sind es maximal zwei Stunden in der Zeit von 8 bis 17 Uhr. Ab sechs Jahren täglich bis zu drei Stunden von 8 bis 22 Uhr. Die schulischen Leistungen dürfen durch die Tätigkeit nicht beeinträchtigt werden. Mit einem ärztlichen Attest muss überdies bescheinigt werden, dass das Kind körperlich und seelisch für die Arbeit geeignet ist.

Ein Eingriff in die Privatsphäre der Kinder

Problematisch ist außerdem, dass in die Privatsphäre der Kinder eingegriffen wird. Auch hier ist ihnen das Ausmaß erst einmal nicht klar – wie auch? Und was soll ein dreijähriges Kind dagegen unternehmen, wenn es die Eltern einem Online-Publikum zur Schau stellen? Es kennt das Publikum nicht einmal.

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Eigentlich ist das Zuhause, vor allem auch das Kinderzimmer, ein wichtiger Rückzugsort. Doch das entfällt, wenn ständig die Kamera mitläuft, ausgerichtet auf das nächste Video, das online gestellt werden soll. Manche Eltern gehen sogar so weit, ihre Kinder beim Schlafen oder anderen intimen Momenten zu filmen. Die Kidfluencer sind der Öffentlichkeit ausgeliefert. Und zwar schutzlos. Sie können jederzeit Opfer von Hasskommentaren und Shitstorms werden.

Leichte Beute für Pädophile

Mehr noch: Die Bilder und Videos können in die Hände von Pädokriminellen geraten, die dann in deren Netzwerken weiterverbreitet werden. Anhand der Posts können außerdem Daten herausgelesen werden, die auf Gewohnheiten und Orte hinweisen, die das Kind gerne besucht, beispielsweise einen ganz bestimmten Spielplatz oder Badesee. Auch das könnte Pädosexuelle in deren unmittelbare Nähe locken.

Wie brutal es in diesem Business zugehen kann, insbesondere wenn es um hohe Reichweiten geht, zeigt die Netflix-Dokumentation „Bad Influence: The Dark Side of Kidfluencing“, in deren Mittelpunkt Piper Rokelle steht. Das junge Mädchen wurde mit einer Gruppe von Kidfluencern, die sich „The Squad“ nannte, zum YouTube-Mega-Star. Die heute 17-Jährige startete mit acht Jahren und schon bald baute die Mutter ein ganzes Social-Media-Imperium rund um ihre Tochter auf.

Besonders in den Pandemie-Jahren schnellten die Zuschauerzahlen in die Höhe. Einige, die als Kinder in den Videos mitwirkten, berichten rückblickend, dass sie schamlos ausgebeutet wurden, mitunter sogar von Pipers Mutter missbraucht. Als sie ins Teenageralter kamen, wurden Szenen gefilmt, in denen sich die Jugendlichen einander körperlich annähern sollten. Sie wurden gezielt sexualisiert, um mit Klicks von Pädophilen Geld zu verdienen, die sich in Kommentaren darüber freuten, dass die Eltern ihre Kinder als „Frischfleisch“ freiwillig anbieten.

Die Medienkompetenz der Eltern ist entscheidend

Dieses erschütternde Ausmaß ist in der Kidfluencer-Szene wohl nicht die Regel, aber es wäre falsch, sich damit zu beruhigen. Es muss klar sein: Sobald Kinder ins Netz gestellt werden, egal auf welchem Wege, sind sie Gefahren ausgesetzt.

Dass es überhaupt Kidfluencer gibt, haben Erwachsene, in erster Linie die Eltern, zu verantworten. Das heißt: Medienkompetenz ist unabdingbar. Doch die ist oft nicht ausreichend vorhanden.

Eine Studie des Deutschen Kinderhilfswerkes in Kooperation mit der Universität Köln ergab, dass es vielen Eltern bei ihrem medialen Handeln an Wissen mangelt, über Richtig und Falsch zu entscheiden. Insbesondere dann, wenn es um die Rechte ihrer Kinder geht, stehen sie blank da. Zusätzlich kann es für die Eltern immer wieder zu einem Interessenkonflikt kommen zwischen dem Schutz ihres Kindes und den möglichen finanziellen Einnahmen.

Aufklärung und Prävention

Rein theoretisch hätte jedes Kind, das älter als sieben Jahre ist, das Recht, wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung zu klagen, wenn dessen Eltern ohne seine Kenntnis oder gegen dessen Willen Foto- und Videoaufnahmen online stellen. Doch hier sind wir wieder bei dem bereits erwähnten Dilemma. Hinzu kommt: Welches Kind wagt es überhaupt, gegen die eigenen Eltern vorzugehen? Zumal es gar nicht erst in eine solche Situation gebracht werden sollte. 

Keine Frage: Der wachsende Strom an Kidfluencern sollte zum Schutz der Kinder eingedämmt werden. Beitragen kann man dazu auch, indem man den eigenen Kindern erklärt, welchen Gefahren und Belastungen Kidfluencer ausgesetzt sind und damit das schillernde Image entzaubert.

Noch effektiver: Die Social-Media-Nutzung der eigenen Kinder reduzieren oder frühestens, wozu Experten seit zig Jahren raten, ab 16 Jahren erlauben. Denn: Wer sich nicht online herumtreibt, kann auch keinen Kidfluencern folgen und beeinträchtigt ganz automatisch das Geschäftsmodell. 

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