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Andrew Tate und Co.

Männer auf Irrwegen

In Zeiten von Postfeminismus, „Gender-Mainstreaming“ und „Wokeness“ kann es schwer sein, die Männlichkeit als solche zu definieren. Diese Entwicklungen, Theorien und Ideologien prägen nicht nur den Blick der Gesellschaft auf die Männer, sondern auch der Männer auf sich selbst. Männlichkeit wird heute mehrheitlich im Zusammenhang mit negativen Eigenschaften wahrgenommen.

Der Mann – als der Unterdrücker schlechthin gebrandmarkt, oft ist von „toxischer Männlichkeit“ die Rede. Die Lücke des fehlenden positiven Narrativs über das Männliche wird notwendigerweise (auch) von „falschen Propheten“ gefüllt. Zu solchen können wir Andrew Tate zählen.

Bisher fiel der ehemalige Kickboxer und Influencer vor allem durch provokante Aussagen in sozialen Medien auf und wurde wegen solcher auf allen großen Plattformen gesperrt. Seinen Twitter-Account konnte er jedoch dank Elon Musk wieder reaktivieren. Dort posiert er mit Zigarre und Geldscheinen, gibt sich als Macher, dem alles gelingt. Wer ihm zuhört, gehört angeblich zu den Gewinnern.

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Die internationale Aufmerksamkeit wurde groß, als er Ende Dezember wegen des Verdachts auf Menschenhandel und Vergewaltigung in Rumänien festgenommen wurde.

Vorgeführt von Greta Thunberg

Gemeinsam mit seinem Bruder Tristan soll er Frauen zu Prostitution und Produktion von pornographischen Videos gezwungen haben. Zwei Wochen nach ihrer Verhaftung beschlagnahmte die Polizei auf seinem Anwesen Vermögenswerte Andrew Tates im Wert von rund 3,95 Millionen Dollar – darunter auch mehrere Autos. Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, dass Tate sich nur wenige Tage zuvor in einem Angeber-Tweet an die Klimaaktivistin Greta Thunberg wandte und mit seinen Luxus-Autos prahlte – und sich von ihr vorführen ließ, wie die Weltöffentlichkeit auf Twitter miterleben konnte.

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Der in Bukarest inhaftierte Tate meldete sich kürzlich zum ersten Mal seit seiner Festnahme zu Wort und beschwerte sich, dass es in Rumänien keine Gerechtigkeit gäbe (was wiederum ironisch klingt – hat er doch aus diesem Grund seinen Wohnsitz nach Rumänien verlegt). Die Untersuchungshaft des Influencers wurde um einen Monat verlängert, wie es für ihn weitergeht, steht in den Sternen.

Warum soll nun ein Proll und Angeber wie Tate, der inzwischen zum Islam konvertiert ist, für das Thema Männlichkeit von Bedeutung sein? Er sieht sich selbst als ein Männlichkeits-Guru. Beinahe fünf Millionen Menschen folgen dem 36-Jährigen auf Twitter, und seine TikTok-Videos wurden milliardenfach angeklickt.

Auftritt als „Prophet“ der Männlichkeit

Als Selfmademan, als der er sich versteht, bietet er ebenso ein Coaching-Programm an, bei dem Erfolg erlernt werden könne. Mehr als 100.000 Menschen sollen sich zu dieser „Online-Universität“ angemeldet haben. Seine Inszenierung als „Prophet“ der Männlichkeit und als Gegenentwurf zur woken Welt scheinen viele geglaubt zu haben, schließlich traf er sich auch mit berühmten Persönlichkeiten wie dem Brexit-Politiker Nigel Farage oder der Podcasterin Mikhaila Peterson, Tochter des Bestsellerautors Jordan B. Peterson.

Ein näherer Blick auf die Ursachen dieses Phänomens lohnt sich. Andrew Tates Botschaft an Männer ist recht simpel: Ein „wahrer“ Mann geht ins Fitnessstudio, verdient viel Geld und hat mehrere Frauen. Er macht sich körperlich wie geistig stark und lehnt eine Sklavenmentalität ab. Schwäche und Menschen von einer „niedrigen Qualität“ kann er in seinem Leben nicht gebrauchen.

Mit diesem Konzept von Männlichkeit steht er aber nicht allein: Online-Coachs mit ähnlichen Botschaften sind überall zu finden, und eine entsprechende Nachfrage unter überwiegend jungen Männern ist definitiv vorhanden. Fast die gesamte Rap-Kultur basiert schließlich auf diesem Narrativ.

Materialismus bereichert um Promiskuität und Gewalt

Auch wenn es positive Aspekte eines solches Männerbildes gibt, wie beispielsweise Motivation und Willensstärke, läuft es im Endeffekt auf Materialismus, Promiskuität und möglicherweise Gewalt hinaus. Eine starke Männlichkeit, die sowohl für die Gesellschaft als auch für die Männer selbst sinnvoll ist, sollte jedoch mehr als Hedonismus und eine Pseudo-Dominanz zu bieten haben.

75 Jahre nach Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ haben sich die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern massiv verändert. Die Frauen haben in nahezu allen Bereichen die Männer eingeholt, wenn nicht sogar übertroffen. Die Frage nach der spezifisch männlichen Rolle innerhalb der Gesellschaft müsste deshalb neu definiert werden, wenn Männer ihre Identität nicht verlieren sollen.

Die sogenannte „Krise der Männlichkeit“, die gerade in Deutschland von vielen Forschern als ein konservatives Märchen abgestempelt wird, muss spätestens dann ernst genommen werden, wenn die Realität dem „Märchen“ recht gibt. Und das scheint zunehmend der Fall zu sein.

Junge Männer sind die Verlierer von heute

Zahlreiche Soziologen und Psychologen weisen darauf hin, dass junge Männer die Verlierer von heute sind. Diese These präsentiert auch der amerikanische Soziologe Richard V. Reeves. In seinem neuen Buch „Of Boys and Men“ liefert er einige Belege dafür. In den amerikanischen Mittelschulen hätten Mädchen deutlich bessere Schulergebnisse als Jungen, Jungen aus armen Familien würden doppelt so häufig auch im Erwachsenenalter arm bleiben wie Mädchen, auch gäbe es keine männlichen Chefredakteure mehr in prestigereichen Studentenzeitungen an den 16 besten juristischen Fakultäten.

Unter den Verzweiflungstoten – die, die durch Suizid oder an einer Drogenüberdosis sterben – seien drei Viertel männlich. Schuld daran seien auch Institutionen und Gesetze, aber ebenso Politiker, die in ihren eigenen ideologischen Kämpfen verstrickt seien und keine durchdachten Lösungen anzubieten hätten. Aber mehr als auf objektive Umstände führt der Autor die Krise der Männer und Jungen auf psychologische Faktoren zurück.

Gewiss ist die Förderung von Frauen und Minderheiten – manchmal auf Kosten weißer Männer – in den USA stärker ausgeprägt als bei uns. Aber auch in Europa fehlt eine positive Vision, die junge Männer inspirieren würde. Das Männerideal vom Helden und Kämpfer schwindet langsam – nicht nur von den Bildschirmen, sondern auch aus der Realität.

Was ist Männlichkeit?

Der Schweizer Psychologe und Männerforscher Walter Hollstein definiert die Männlichkeit im klassischen Sinn: Männlichkeit zeichne sich vor allem durch Pioniergeist, Mut, Verantwortung, Kraft, Standfestigkeit, Grenzüberschreitung, Gedankentiefe und Erfindungsgeist aus.

Eine wirkliche Heilung des am Sinnverlust durch die Entleerung traditioneller Männlichkeit leidenden Mannes sei nur durch die aktive Suche nach der dahinter verborgenen „wahren Substanz des Männlichen“ und der Entfaltung dieses verschütteten Wesenskerns möglich. Zu den universell und überzeitlich gültigen männlichen Archetypen gehöre auch Macht und eine heldische Komponente.

Mit Männlichkeit und konkret dem Phänomen Andrew Tate beschäftigte sich vor einigen Wochen auch der amerikanische Autor und Kommentator Matt Walsh. Seiner Ansicht nach ist Tate jemand, der das Problem der Männlichkeit gut erkenne, der aber keine wirkliche Lösung biete.

„Unsere Kultur sagt den Männern, dass sie zu nichts Besonderem berufen sind. Wenn es nun keine Idee von Männlichkeit gibt, dann werden die jungen Männer auf den ersten hören, der eine hat“, analysiert Walsh. Was Tate aber fördere, sei keine Männlichkeit. Die noble Aufgabe eines Mannes sei es, zu schützen und zu versorgen. Dafür sei er in einer einzigartigen Weise ausgestattet. Echt männlich sei ein Mann, der seiner Familie treu und ergeben ist. Nach seiner Erfahrung ist dies ein schwieriger, aber auch lohnender Weg.

Wir können falschen Propheten wie Tate dankbar sein

Ist der echte Mann nun einer, der brav seinen Verpflichtungen als Ehemann und Vater nachgeht? In diesem Sinne, ja. Aber: Er ist kein netter oder harmloser Typ. Der Psychologe Peterson weist immer wieder auf den Unterschied zwischen dem guten und dem harmlosen Mann hin: Der gute Mann ist einer, der imstande wäre, böse zu sein. Einer, der ein „Monster“ sein könnte, sich aber entscheidet, es nicht zu sein. Er besitzt aber die Fähigkeit dazu. Schließlich ist es jemand, der seine Stärke und Aggression unter Kontrolle hat.

Diese Lösungsansätze machen klar, dass eine wahre Männlichkeit nicht ohne Kampf- und Opferbereitschaft denkbar ist. Nicht nur der Stil, sondern vor allem das Verantwortungsbewusstsein unterscheiden einen echten Gentleman von einem Andrew Tate. Wir können falschen Propheten wie ihm trotzdem dankbar sein, dass dieses Thema wieder mehr in den Fokus rückt.

Alte und bewährte Konzepte müssen neu gedacht und ausgehandelt werden. Wahre Männlichkeit muss heute sowohl vor der Häresie der Genderneutralität als auch vor einer pseudostarken und giftigen Maskulinität verteidigt werden. Unsere Söhne werden es uns danken.

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