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Kolumne „Berliner Luft“

Warum sahen die Menschen früher besser aus?

Es gibt diese alten Fotos, die wirken wie aus einer besseren Welt. Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus den Sechzigern, verwaschene Polaroids aus den Siebzigern: Menschen, die mit einer Selbstverständlichkeit gut aussahen. Nicht reich, nicht glamourös, einfach nur angezogen. Ein schlichtes Kleid, ein gebügeltes Hemd, Schuhe, die nach Leder rochen. Man erkennt sofort: Hier hat jemand am Morgen nicht nur seine Jacke, sondern auch sich selbst ernst genommen.

Heute dagegen in Berlin in irgendeiner U-Bahnstation am Samstagmittag. Junge und reife Erwachsene in grauen Schlabberpullis, die aussehen, als hätten sie darin geschlafen – was durchaus der Fall sein kann. Tätowierungen, die jeden Ärmel sprengen, Jogginghosen, die im Ernstfall nicht einmal fürs Joggen taugen. Und dazu das Gesicht, aufgespritzt wie ein Instagram-Filter, die Lippen so prall wie ein Unfall im Baumarkt.

Beim Kürbisfest: Wie es wohl früher gewesen sein muss – als selbst Arbeitskleidung so entworfen war ...
Junge Frau 1920 in Little Orleans im US-Bundesstaat Maryland: ... dass sie heute fast schon für den Theaterbesuch durchginge

Es ist, als hätte sich die alte Weisheit „Kleider machen Leute“ ins Gegenteil verkehrt. Heute machen die Leute ihre Kleider kaputt – und sich gleich mit. Fairnesshalber sei gesagt, dass sich die Kiezbewohner voneinander unterscheiden. In Grunewald sieht die Klientel anders aus als in Kreuzberg. Und in Berlin sieht es insgesamt auch noch mal anders aus als etwa in München. Und dennoch gibt es diesen gemeinsamen Nenner. Er nennt sich „Alltagskleidung“ bestehend aus „Casual Basics“.

Inspiriert zu dieser Kolumne hat mich nicht Berlin, sondern ein Ausflug ins Berliner Umland – auf die diesjährige Kürbisausstellung im brandenburgischen Klaistow. Ein Ereignis, das doch eigentlich nach einer gewissen Festlichkeit schreit. Doch die „Schale“, in die sich die Besucher geworfen haben, ist ernüchternd. Jeans, ausgebeulte Sweatshirts, Schuhe, die so zweckmäßig sind, dass einem schon vom Hinsehen das Auge schmerzt.

Kleidung macht nicht nur Leute, sie formt sie

Was fällt auf? Es sind dieselben Klamotten, die man auch zum Einkaufen, zum Rasenmähen oder zum Seriengucken trägt. Und während ich meine Kürbissuppe aß und auf eine Schwarz-Weiß-Fotografie schaute, stellte ich mir vor, wie es wohl früher gewesen sein muss – als selbst Arbeitskleidung so entworfen war, dass sie heute fast schon für den Theaterbesuch durchginge.

Reisende am Berliner Hauptbahnhof

Die Alltagskleidung von heute ist der wohl schlagendste Beweis dafür, dass „funktional“ nicht automatisch „gut“ bedeutet. Der Mensch passt sich schlussendlich an, ob an die Umstände, die Mitmenschen oder an das, was er am eigenen Leib trägt. Man wähnt sich als Herr seiner Garderobe, doch die Wahrheit ist, dass mit jedem Schlabberpulli, jedem Hoodie, jedem Paar ausgelatschter Sneaker man Stück für Stück Haltung preisgibt. Tattoos, die wie blaue Flecken wirken, Piercings, die wie Löcher aussehen – sie alle übernehmen langsam die Deutungshoheit.

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Kleidung macht nicht nur Leute, sie formt sie. Und zwar gnadenlos. Sie formt nicht nur das Bild nach außen, sie formt auch das Innere. Möglicherweise ist sogar die Kleidung der Grund für die Unfreundlichkeit und den immer raueren Umgangston in der Gesellschaft. Wer Respekt zeigt – gegenüber dem Anlass, dem anderen, sich selbst –, wirkt automatisch anziehender, und man begegnet demjenigen mit einem Anstand. Das wusste man früher ganz instinktiv. Heute muss man es erst wieder buchstabieren.

Natürlich soll niemand zum Sonntagsstaat gezwungen werden. Aber es wäre schon ein Fortschritt, wenn wir aufhören würden, die Uniform der Verwahrlosung für Freiheit zu halten.

Wer wirklich individuell sein will, darf sich nicht in dieselben grauen Hoodies werfen wie der Rest der Stadt. Auch fängt es beim Geschlecht an. Natürlich sind Hosen bequem, aber nichts lässt die Frau femininer fühlen als der Rock oder das Kleid. Und den Mann fasziniert sicherlich ein schwingender Rock weitaus mehr als das, was er doch selbst schon trägt – also eine Hose!

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Und dann gibt es noch jene andere Sorte, nämlich die Verbindungsstudenten, die Burschenschaftsbrüder, die „Elitären“. Im öffentlichen Bild wirken sie spießig, altbacken, oft unsympathisch, und das nur, weil sie klassisch-ordentlich gekleidet sind. Paradoxerweise genau das, was früher einmal normal war. Doch das ist nur der Klatsch und fehlendes Verständnis. In der Wirkung liegt der Beweis darin, dass diese hochnäsige Kleidung die richtige sei.

Einer dieser Herren erzählte mir einmal, sein konservativer Kleidungsstil sichere ihm erstaunlichen Erfolg bei der Damenwelt, sogar bei linken Frauen. Sie sähen in ihm jene Strenge und Sicherheit, die man in Zeiten von Schlabberlook und Orientierungslosigkeit offenbar instinktiv wieder sucht.

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Sollen jetzt alle wieder aussehen wie in den 60er oder 70er Jahren – oder wie in noch früheren Jahren? Einen nicht unerheblichen Vorteil hat die heutige Alltagskleidung: Sie verheimlicht den Kontostand des Trägers und damit mögliche Abwertung und Vorurteile, im Vergleich zu früher, als man den Bürgern ihren Platz in der Gesellschaft ansah.

Mit der Kleidung die eigene Würde tragen

Vielleicht ist das Fazit eine kleine Erinnerung daran, dass es sich gerade heute wirklich jeder leisten kann, auch schöne, elegant aussende Kleidung für wenig Geld zu kaufen. Und dass die Rückführung zu einem höflichen Miteinander in Mode liegt. Mit der Kleidung die eigene Würde tragen. Eine gebügelte Bluse, ein echter Schuh, ein paar Besuche weniger im Tattoo-Studio und damit einhergehend die Einsicht, dass die Haut möglicherweise auch keine Lust hat, über Jahrzehnte dekoriert zu sein wie ein Weihnachtsbaum, der das ganze Jahr über steht. 

Berlin ist als „linksversifft“ bekannt. Vielleicht mal eine Kehrtwende? Berlin wieder die Hauptstadt der Eleganz und des glamourösen Stils, der modischen Damen und edlen Herren.

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