Komm, wir gehen das Stadtbild verschönern
Meine Frau Judith schraubt den Plastikdeckel von der Safttüte, er bleibt hängen an einer eigens dafür konstruierten Lasche. Beim Einfüllen lässt die Schwerkraft den Deckel nach unten rutschen, genau in den Lauf des Apfelsafts. Es spritzt, und die Hälfte landet auf dem Küchentisch.
Plastikdeckel, die fest mit der Flasche verbunden sind, sind aus Gründen des Umweltschutzes EU-weit Pflicht seit dem 3. Juli 2024. Das war ein Montag. Montage sind selten gute Tage und werden allenfalls noch von regnerischen Dienstagen unterboten. „Auch die EU hatte damals keinen guten Tag“, sage ich zu Judith, als sie den Tisch feudelt.
Uns schmerzt der Niedergang der „Grande Nation“
Ansonsten sind wir beide sehr proeuropäisch. Als neulich zum Beispiel die Plattenspielernadel meiner alten Braun-Anlage, die mir Judith zum Geburtstag geschenkt hatte, ihren Geist aufgab, habe ich den passenden Diamantsplitter im Internet in einem Pariser Plattenladen entdeckt, dort geordert und nach Norditalien schicken lassen, wo sich unser Plattenteller dreht.
Die Sendung konnte ich über Paris, Brüssel, Milano verfolgen, und sie landete tatsächlich nach zweieinhalb Wochen bei uns im Briefkasten. Alles funktionierte tadellos, nur dass die Nadel nach zwei Wochen wieder so abgenudelt war wie die, die ich ersetzt hatte, wofür aber die EU nichts kann. „Frankreich taumelt“, sagte ich zu meiner Frau.
› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge
Uns beide schmerzt der Niedergang der „Grande Nation“ seit Tagen. Erst stecken sie diesen kleinen Rebellen Nicolas Sarkozy tatsächlich ins Gefängnis. Er, der uns immer wie die Verkörperung eines Asterix vorgekommen ist, soll wegen ein paar lächerlicher Euro, die ihm vor Jahrzehnten ein afrikanischer Tyrann gepumpt hat, fünf Jahre brummen. Zum Glück hält seine Frau Carla Bruni zu ihm, die mal ein Kind von dem Sohn ihres heimlichen Freundes empfangen hat und in die ich schon deswegen ein bisschen verliebt bin – was ich Judith gegenüber nie eingestehen würde.
Das ist doch nicht möglich!
Und dann fahren Diebe am helllichten Tage mit einer Hebebühne zum Louvre-Hintereingang, klauen Juwelen und verlieren auf dem Rückweg die Krone von Kaiserin Eugénie. „Ce n’est pas possible“, sage ich zu Judith. Ich gebe damit zu erkennen, dass mir das Französische noch immer sehr weltläufig von den Lippen kommt, auch wenn die Nation den Bach runtergeht.
Judith wirft sich gekonnt einen graugrünen Kaschmirschal um den Hals und schnürt die hohen Stiefel zu. Das Funkeln des kleinen Diamanten in ihrem linken Nasenflügel wird nur von dem in ihren Augen übertroffen. Das Saftmalheur ist längst beseitigt, Carla Bruni und auch Kaiserin Eugénie verblassen in meiner Erinnerung, als mir meine Frau den Hut reicht und jetzt sagt: „Komm, mein Lieber, es ist ein bisschen besser, wenn wir das Stadtbild verschönern gehen.“
› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?
Kommentare