Testalarm – und dann?

Vor ein paar Tagen ist es geschehen: In meiner Hosentasche vibrierte und summte der bundesweite Testalarm, dass es fast eine Freude war, wenn ich nicht gerade ins Gespräch vertieft gewesen wäre. Ich stand an einem dieser Stehtische, bei einer dieser Veranstaltungen in der Hauptstadt, bei denen ich immer die treffe, die ständig irgendwo in der Republik an Stehtischen stehen. So wie ich.
Meine Frau Judith fragt, wenn ich frühmorgens noch im Dunkeln dorthin aufbreche: „Was machst Du eigentlich?“ Ich raune von wichtigen Kontakten, geschäftlichen Verbindungen und inspirierenden Begegnungen, und dann mache ich mich auf im Auto, mit der Eisenbahn, mit dem Flugzeug.
Die Annahme: VIP-Glanz ist ansteckend wie ein Virus …
Meistens komme ich nicht ganz so an, wie ich es geplant habe, aber ich sage mir inzwischen, dass es einfach vermessen ist, zu glauben, dass sich 1.000-Kilometer-Reisen exakt timen lassen. Bei Stau auf der A57 vor Köln, Blätter auf den Schienen oder einem herrenlosen Gepäckstück im Wartebereich gerät auch die Routenplaner-KI ins Schwitzen.
Am Ende hat mich dann noch auf einer dieser dank Bestell-App völlig wortlosen Taxifahrten, der Chauffeur zur falschen Adresse gebracht, weil es die in der Hauptstadt zweimal gab. Und weil wir eben nicht miteinander geredet haben, was allerdings auch zwecklos gewesen wäre, da der Fahrer keiner mir bekannten Sprache mächtig war.
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Habe ich meinen Stehtisch schließlich erreicht, versichern wir uns, wie prächtig das Geschäft läuft. Wie sehr wir dazugehören, weil wir ausgerechnet an diesem Tisch, vor dieser Bühne, mit dieser Tischnachbarin stehen. Wir schauen dem Gegenüber schräg über die Schulter, um zu entdecken, wer noch alles da ist.
… aber meine Frau weiß es ein bisschen besser
Und wenn ich dann anderntags wieder nach Hause komme, könnte ich Judith erzählen, dass vielleicht der Kanzler oder sein Minister oder zumindest die Frühstücksfernsehen-Moderatorin fast neben mir gestanden sind und ein bisschen VIP-Glanz auf mich übergesprungen sein könnte. Die Annahme dahinter wäre, dass VIP-Glanz ansteckend ist wie ein Virus, aber Judith weiß das ein bisschen besser und nimmt mir das nicht ab.
Deswegen schweigen wir, wissen nicht, wo wir den Gesprächsfaden wieder aufnehmen sollen, der vor zwei Tagen morgens im Dunkeln abgerissen ist. Es hilft dann, den Ort zu suchen, wo die Seele ruht: auf der sonnenwarmen Steintreppe etwa vor dem alten Haus mit Blick auf den See in Hörweite der Glocken. Dort beginnen wir zu erzählen. Und als ich zu der Stelle komme mit dem angenehm vibrierenden bundesweiten Testalarm in der Hose, fängt Judith an zu lachen. Ich liebe ihr Lachen.
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