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Psychiatrische Stigmatisierung von Kindern

Schluss mit dem Diagnose-Boom!

Lange Zeit wurde Trauernden das sogenannte Trauerjahr zugestanden. Insbesondere wenn es um den Verlust des Ehepartners ging. Heutzutage muss das viel schneller gehen. Die Alltagstauglichkeit sollte nach spätestens vierzehn Tagen wiederhergestellt sein. Ist sie das nicht, gilt man als psychisch krank. Zumindest, wenn es nach dem DSM-5 geht, der fünften, im Jahr 2013 veröffentlichten und bis heute gültigen Fassung des Diagnosemanuals für psychische Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft. In der vierten Fassung der sogenannten „Bibel der Psychiatrie“, die im Jahr 2000 herausgegeben wurde, war man übrigens noch großzügiger – wer trauerte, durfte das zwei volle Monate tun, ohne sich die Diagnose „schwere Depression“ einzuhandeln.

Der US-Psychiater Allen Frances – gelehrt hat der emeritierte Professor an der Duke University in North Carolina – hat die Pathologisierung des natürlichen Trauergefühls bereits in seiner Streitschrift „Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“, ebenfalls 2013 veröffentlicht, kritisch in den Blick genommen. Und außerdem zig andere Diagnosen, die der Pharmaindustrie, die sofort die passenden Pillen parat hat, Milliardensummen in die Kassen spült. Man ist in dieser Branche also, so lässt sich sagen, aus Eigennutz ausgesprochen erfinderisch – bisher wurde mit jedem neuen DSM der Bereich des Normalen enger gefasst. Das altersbedingte Nachlassen des Gedächtnisses darf ebenfalls kein natürlicher Prozess sein, sondern fällt unter das Krankheitsbild „Mild Neurocognitive Disorder“. Wutanfälle von Dreijährigen, ebenfalls nicht ungewöhnlich, werden laut DSM-5 als „Disruptive Mood Disregulation Disorder“ eingestuft, als eine Art Impulskontrollstörung.

Verbreitete Bereitschaft, Verhalten zu pathologisieren

Blättert man durch das dicke Handbuch, bleibt am Schluss die Erkenntnis, dass es im Grunde überhaupt keine „normalen“ Verhaltensweisen mehr gibt. Und zwar weltweit. Denn was im DSM festgelegt ist, daran orientiert sich ebenso der ICD, der Diagnoseschlüssel der Weltgesundheitsorganisation (WHO), nach dem Ärzte und Psychologen auch hierzulande abrechnen.

Besonders bei Kindern scheinen die Verhaltensauffälligkeiten zugenommen zu haben. Für Frances nicht nachvollziehbar. Er listet drei, wie er sie nennt, „neue falsche Epidemien“ auf: Autismus, bipolare Störung und ADHS. Kinder seien, wie er deutlich macht, mitnichten „gestörter“ als früher.

Eine Erkenntnis, die sich leider nicht durchgesetzt hat. Im Gegenteil. Die Bereitschaft, Verhalten zu pathologisieren, vor allem solches, das als unangenehm und nicht konform empfunden wird, hat sich gesellschaftlich längst etabliert. Gerade Eltern sehen sich immer häufiger damit konfrontiert, dass ihr Kind von Eltern und Lehrern als verhaltensauffällig und damit als therapiebedürftig eingeordnet wird. Gegen den grassierenden Diagnose-Boom muss man sich freilich erst mal wehren können. Doch genau das sollte man tun. Damit soll übrigens nicht gesagt sein, dass es nicht auch Kinder gibt, die Therapien brauchen, gerade die Pandemie-Jahre haben den Bedarf enorm gesteigert, aber grundsätzlich ist erst einmal Misstrauen geboten.

Dürfen Menschen anderen Menschen diktieren, was Normalität ist?

Entscheidend ist dabei die Frage, wem eine Gesellschaft überhaupt überlassen will, Normalität festzulegen. Die Geschichte des DSM zeigt exemplarisch, wie fragwürdig es um die diesbezügliche Deutungshoheit bestellt ist. Gemäß Frances hätten mehrere Faktoren eine Rolle bei der Erstellung der psychiatrischen Erkrankungen eine Rolle gespielt: „Praktische Notwendigkeit, allmähliche Verwurzelung, Präzedenz, Zufall und Trägheit“.

Beim Erscheinen des ersten DSM im Jahre 1952 waren lediglich 106 psychische Erkrankungen gelistet. Inzwischen sind es knapp drei Mal so viel: Das DSM-5 beinhaltet 297 psychische Erkrankungen. Definiert werden diese von 158 Experten; nicht wenige aus dem Gremium stehen auf den Gehaltslisten der Pharmaindustrie. Und selbst wenn alle integer wären, wäre immer noch zu beantworten, ob Menschen anderen Menschen überhaupt diktieren dürfen, was Normalität ist und was jenseits von ihr liegt. Wenn ja, müsste man klären, worauf diese Bereitschaft gründet.

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Wer also definiert die Normen und damit die Abweichung? Haben andere wirklich das Recht, uns zu sagen, wie lange wir trauern und in welchem Ausmaß wir wütend sein dürfen? Wieso sollten Psychologie und Psychiatrie sich als richterliche Instanzen über unser Verhalten aufschwingen dürfen? Was macht es mit Menschen, wenn permanent nach einem „Du bist nicht in Ordnung“ gefahndet wird? Wie wirken Etiketten wie „Problemkind“ und „Tyrann“ auf die vermeintlich Betroffenen?

Wahr ist: Je enger wir den Begriff der Normalität fassen, desto schlechter ist es um unsere Mitmenschlichkeit bestellt. Denn die misst sich vor allem daran, wie wir mit Menschen umgehen, die aus unserer Sicht anders sind. Ausgrenzen oder akzeptieren – darüber entscheidet jeder Einzelne von uns, je nachdem wie weit sein Toleranzradius reicht. Besonders die in unserer Gesellschaft, die des Schutzes bedürfen, sind angewiesen auf Erwachsene, die sich nicht beirren lassen, von welchem Verhalten auch immer. Sondern souverän agieren. Souverän heißt, so wie der Philosoph Peter Sloterdijk es formuliert, „sich von Meinungsepidemien distanzieren können, den Erregungsdienst verweigern“. Es braucht also die Mutter, es braucht den Vater, die sich verwehren gegen psychiatrische Stigmatisierungen ihrer Kinder. Lapidar formuliert etwa so: „Mein Kind hat ADHS – Blödsinn!“

In meiner Gruppe gab es kein Montagssyndrom

Auch ich gehöre zu den Spielverderbern. Als ich einige Jahre als Erzieherin in einer Kindertagesstätte tätig war, erlebte ich, wie Kolleginnen gerne über das sogenannte „Montagssyndrom“ jammerten. Demgemäß seien Kinder, nachdem sie aus dem Wochenende wieder in die Einrichtung kommen, besonders aggressiv und „anstrengend“. Ich entschied, mich dieser Perspektive zu verweigern. Es behagte mir nicht, die mir anvertrauten Kinder unter dem Aspekt „Montagssyndrom“ zu betrachten. Die Konsequenz, so erstaunlich es auch klingen mag: Es gab in meiner Gruppe kein Montagssyndrom.

Ähnlich meine Erfahrungen mit als „besonders schwierig“ abgestempelten Kindern, die ich völlig anders erlebte, nämlich kooperativ und zugewandt. Auch hier habe ich mich dem vorgegebenen Etikett einfach verweigert. So banal es klingt: Es ist immer auch eine Frage der Einstellung. In der Psychologie gibt es dafür einen Namen: „Self-fulfilling prophecy“, selbsterfüllende Prophezeiung.

Wie wahr ist also das Etikett, die Diagnose, an der man festhält? Der Harvard-Psychologe Jerome Kagan ging sogar so weit, ADHS eine Erfindung zu nennen. Dem schloss sich auch der Entdecker des Syndroms an, Leon Eisenberg, der von einer „konstruierten Krankheit“ sprach. Nur: Was bleibt, wenn die Diagnose nicht mehr zur Erklärung herangezogen werden kann? Wenn Kinder nicht mehr als „unbequem“ oder als „Tyrannen“ etikettiert werden können?

Ein aggressives Kind ist kein „schwieriges“, es ist ein verletztes Kind

Ist die Brille, die nur das Defizitäre sehen und bereits die nächste Diagnose aus dem Hut zaubern will, erst mal abgenommen, bedeutet das eine echte Chance. Dann steht nicht das Problematisieren dazwischen, sondern das Verstehen kann wachsen. Erwachsene bekommen einen besseren Zugang zu Kindern, wenn sie erkennen, dass jedes Verhalten seinen Grund hat, egal wie absonderlich es auch erscheinen mag. Ist ein Kind wütend oder traurig, schlägt es um sich oder andere, dann zeigt es damit seine Reaktion auf Erlebtes. Denn anders als bei Erwachsenen funktioniert ihr natürliches System, auf Frustrationen unmittelbar zu antworten.

Dass die Trennung der Eltern Kinder aus der Fassung bringt, dass sie gegen Leistungsdruck und mangelnde Bewegungsmöglichkeiten rebellieren, dass sie auf Lieblosigkeit mit Gewalt oder Rückzug antworten, ist nichts weiter als ein adäquates, ein natürliches Verhalten auf Missstände. Da braucht es weder Therapien noch Medikamente, sondern verständnisvolle Erwachsene. Ein aggressives Kind ist kein „schwieriges“, es ist ein verletztes Kind.

Machen wir uns die Mühe, nach den Ursachen zu forschen, müssen wir allerdings auf alles gefasst sein. Mit ihrem Verhalten erzählen Kinder nicht nur etwas über sich. Sondern auch über uns. Und bringen uns so mit eigenen Wunden in Kontakt. Der Schweizer Psychiater C. G. Jung sagte einmal: „Wenn es etwas gibt, das wir an unseren Kindern ändern wollen, sollten wir zuerst untersuchen und herausfinden, ob es nicht etwas ist, was wir besser an uns ändern sollten.“ Vielleicht ist es diese Erkenntnis, vor der „die Großen“ Angst haben. Es wird Zeit, dass sie den Mut haben, sich nicht mehr hinter Diagnosen zu verstecken.

 

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Kommentar
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Andreas Graf
Vor 1 Monat 4 Wochen

"Doch wer legt das eigentlich fest?" In einem kommunistischen System, das sich als Demokratie ausgibt, ist das sehr einfach. Bei der Corona-Impfaktion hat das doch auch bestens funktioniert. Mit einer erfunden Plandemie wurde ein Milliardenvermögen gescheffelt und viele Portemonnaies von Politikern gefüllt. Nebenbei wurden mit der Impfung die Gehirne vernebelt. Der Diagnose-Boom kann weitergehen.

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Dinah
Vor 1 Monat 4 Wochen

„Normal meschugge oder meschugge im Quadrat?“ Bei der Frage zoffen sich Soziologen gern mit Psychologen, so als Macht-und Kompetenzgerangel. Als Bild der Welt ist die Frage eigentlich kosmischer Natur, es ist die Frage nach einer (geistig) vorgegebenen Ordnung. Diese vorgegebene und nicht selbstgemachte Ordnung empfindet ein chaotischer Mensch vermutlich als sehr bedrohlich. Eine vernünftig organisierte Gesellschaft (also normal meschugge) und die mit den entsprechenden Aufgaben betrauten wenigen (!) Richter, Lehrer, Ärzte, die idealerweise auf einem guten geistigen Fundament stehen (ich weiß, das ist selten, aber es gibt sie wirklich), sollte klug genug sein, zunächst um die eigene Begrenztheit zu wissen und dabei die Chaoten nicht aus dem Blick zu verlieren.

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Isis Alina Klinken
Vor 1 Monat 2 Wochen

Dass ADHS ganz erfunden sein soll, ist ein Übersetzungsfehler. Gemeint ist aber, dass oft unnötigerweise Medikamente verschrieben würden und pathologisiert wird, wenn ein Kind z.B. sich nicht für alle Fächer interessiert wo dann gleich eine Aufmerksamkeitstörung attestiert wird

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Firestar
Vor 1 Monat 4 Wochen

Was für ein toller Beitrag!!! Hut ab! Auch ich war wegen meiner Impulsivität, Ängstlichkeit und zeitweiliger Geistesabwesenheit in Kindergarten, Schule, Ausbildung und Beruf ein Opfer von Mobbing! Es wurde an meinem Verhalten rumgedoktert und ich wurde häufig als abnorm, bekloppt und verhältensgestört hingestellt. Bis herauskam, dass ich mit einem IQ von 146, bin aber sehr bescheiden, hochbegabt und hochsensibel bin. Das ist weniger eine Diagnose, sondern eine tiefere Wahrheit. Denn die Welt ist auf hochsensible Personen leider zu wenig ausgerichtet. Mein Anker ist mein unerschütterlicher christlicher Glaube und eine bodenständige Spiritualität, alles ganzheitlich zu sehen. Alles ist mit allem miteinander verbunden. Oder auf englisch: "Till all are one!"

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Dinah
Vor 1 Monat 4 Wochen

„Normal meschugge oder meschugge im Quadrat?“ Bei der Frage zoffen sich Soziologen gern mit Psychologen, so als Macht-und Kompetenzgerangel. Als Bild der Welt ist die Frage eigentlich kosmischer Natur, es ist die Frage nach einer (geistig) vorgegebenen Ordnung. Diese vorgegebene und nicht selbstgemachte Ordnung empfindet ein chaotischer Mensch vermutlich als sehr bedrohlich. Eine vernünftig organisierte Gesellschaft (also normal meschugge) und die mit den entsprechenden Aufgaben betrauten wenigen (!) Richter, Lehrer, Ärzte, die idealerweise auf einem guten geistigen Fundament stehen (ich weiß, das ist selten, aber es gibt sie wirklich), sollte klug genug sein, zunächst um die eigene Begrenztheit zu wissen und dabei die Chaoten nicht aus dem Blick zu verlieren.

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Andreas Graf
Vor 1 Monat 4 Wochen

"Doch wer legt das eigentlich fest?" In einem kommunistischen System, das sich als Demokratie ausgibt, ist das sehr einfach. Bei der Corona-Impfaktion hat das doch auch bestens funktioniert. Mit einer erfunden Plandemie wurde ein Milliardenvermögen gescheffelt und viele Portemonnaies von Politikern gefüllt. Nebenbei wurden mit der Impfung die Gehirne vernebelt. Der Diagnose-Boom kann weitergehen.