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Familienunternehmen im Wandel

Was wir von der Generation Enkelin lernen können – und was nicht

Die Mehrheit deutscher Familienunternehmen tickt auch im Jahr 2023 so: Der Mann sitzt am Ruder. Seine Frau, gerne akademisch gebildet, heiratet ins Unternehmen ein. Lebenslang zieht sie mit dem Gatten an einem Strang. Erst das Geschäft, dann die Liebe. Und immer lächeln, wie im britischen Königshaus. Selbst junge Frauen – und Männer – richten sich in alten Rollenbildern ein. Die eine Gattin stellt ihr Wissen in den Dienst des Unternehmens. Die andere geht weiter ihrem eigenen Beruf nach, steht aber für alle Anlässe höchst repräsentativ zur Verfügung.

Wenige Jahre später wird sie die gemeinsamen Kinder großziehen. Zwei bis drei sollten es schon sein. Arbeitet sie weiter, wechselt sie in Teilzeit, denn als gute Mutter fördert sie den Nachwuchs, kutschiert ihn und pflegt sämtliche sozialen Kontakte der Familie, selbst den zu seinen alten Studienfreunden. Er hätte ja gar keine Zeit dafür.

Das beschriebene Klischee lässt sich mit Zahlen belegen. Die AllBright-Stiftung, eine gemeinnützige schwedisch-deutsche Organisation, die sich für mehr Frauen und Diversität in den Führungspositionen der Wirtschaft einsetzt, fragt regelmäßig Rollenbilder ab. Die Ergebnisse stehen für den großen Selbstbetrug in der deutschen Wirtschaft: 41 Prozent der Väter wollen in Elternzeit gehen, aber nur 17 Prozent tun es.

Der Erfolg stellt sich nicht automatisch ein

80 Prozent der deutschen Bevölkerung erwarten von Vätern, so viel Zeit wie möglich mit dem Nachwuchs zu verbringen, aber während Frauen durchschnittlich 14 Monate Elterngeld beziehen, sind es bei Männern zwei Monate. 84 Prozent der Entscheider sagen, dass die Karrierechancen bei ihnen im Unternehmen für Frauen und Männer gleich sind. Bei den größten Familienunternehmen sind aber lediglich 8,3 Prozent der Vorstandsposten von Frauen besetzt.

Allerdings kommt jetzt, mehr als 70 Jahre nach dem Entstehen der Bundesrepublik, mit dem auch ein Boom bei den Unternehmensgründungen einherging, Leben in das Thema. Und das liegt an der Generation der Enkelinnen. Weil nicht mehr automatisch der männliche Nachfahre das Geschäft übernimmt, greifen die Enkelinnen nach der Macht. Was sind ihre Rezepte? Gibt es Gemeinsamkeiten? Wie erfolgreich sind sie bei der Transformation von Unternehmen? Und wie steht es mit der Mutterschaft? Fünf Beispiele zeigen ganz unterschiedliche Wege. Und klar wird: Der Erfolg stellt sich nicht automatisch ein.

Die Durchsetzungsfreudige: Cathrina Claas-Mühlhäuser

Es ist der dritte große Krieg, der jetzt in der Ukraine herrscht. Aber in Harsewinkel tief in Ostwestfalen fühlen sie sich sicher: Sie werden auch diesen überstehen. Und hinterher wird es besser sein als vorher. Nach dem ersten Krieg erweiterten die Gebrüder Claas 1919 das Firmengelände und machten aus einer Klitsche, die ursprünglich im nahen Clarholz stand, eine Fabrik für Strohbinder. Während des zweiten, als die Produktion auf Rüstungsgüter umgestellt war, entwickelte man hier in aller Stille den ersten fast selbstfahrenden Mähdrescher und brachte ihn Anfang der fünfziger Jahre auf den Markt.

Und jetzt, wo zwei der wichtigsten Getreideländer der Welt in einen Krieg miteinander verwickelt sind, der die globale Ernte bedroht, tüfteln sie in Harsewinkel an der Zeit danach. Dafür ist die Enkelin verantwortlich ist: Cathrina Claas-Mühlhäuser. Es gehe um die Koordination zwischen den Maschinen, sagt sie. „Smart farming“ nennt sich so etwas und ist der Beweis, dass Magd und Knecht und Bäuerin und Bauer endgültig im Digitalzeitalter angekommen sind. Sie brauchen Daten, um ihre Kosten pro Hektar zu optimieren. Claas tüftelt an den nötigen Systemen. Und die 48-jährige Firmenerbin strahlt die Zuversicht aus, dass das Familienunternehmen mit seiner mehr als einhundertjährigen Geschichte auch diese Zeitenwende in den Griff bekommt. Der Krieg behindert sie, aber er wird sie nicht aufhalten.

Nach der Ausbildung zur Industriekauffrau, ihrem BWL-Studium in St. Gallen und einigen Jahren beim Schweizer Hochtechnologiekonzern ABB entschied sie sich für das eigene Unternehmen. Die Familie betreibt noch einen Bauernhof in England. Matsch, Gummistiefel, Maschinenöl und Ernterhythmen – all das kennt diese Enkelin. Claas-Mühlhäuser kann aber mehr. Ihre engen Mitarbeiter wissen das. Seitdem sie dem Aufsichtsrat vorsitzt, seit einem guten Dutzend Jahren also, hat es drei Sprecher der Konzernleitung gegeben und mit Vorstandschef Thomas Böck nun zum ersten Mal einen CEO. „Als Hauptgesellschafterin dieses Unternehmens lege ich natürlich Wert darauf, auf Entscheidungen Einfluss zu nehmen“, lautet ein Satz von Claas-Mühlhäuser, den man sich im Vorstandsgremium gemerkt hat. Und ein anderer: „Dass die Gesellschafterfamilien, denen die Firma gehört, das letzte Wort haben, das halte ich für ganz normal.“

Die Leichtfüßige: Verena Bahlsen

Vorschau Verena Bahlsen in einer Aufnahme von 2019 in ihrem damaligen Restaurant HERMANN’S in Berlin-Mitte
„Kekserbin“ Verena Bahlsen: Panikattacke im Weizenfeld

Für ihre 30 Jahre hat Verena Bahlsen die Rollen schon oft gewechselt: Die Kekserbin war eines von vier Geschwistern und hatte als diejenige, die ihre Ausbildung einst abbrach, an sich die schlechtesten Karten, an die unternehmerische Spitze der Dynastie zu gelangen. Sie ist das, was man vermögend nennt, seit sie mit 20 ein Viertel der Unternehmensanteile überschrieben bekam, und sie ist wohl das, was man ein Lieblingskind nennt: Vater Werner Michael Bahlsen jedenfalls hatte offensichtlich einen Narren an ihr gefressen, jedenfalls sorgte er dafür, dass seine Tochter doch operative Verantwortung in einem vierköpfigen Managementteam übernahm.

Und das, obwohl sie sich zuvor einen Auftritt erlaubt hatte, der Nicht-Familienmitglieder den Kragen und die Karriere gekostet hätte. Als Replik auf kapitalismuskritische Worte von SPD-Sponti Kevin Kühnert hatte Bahlsen gestanden: „Ich bin Kapitalist. Ich will Geld verdienen und mir Segeljachten kaufen von meinen Dividenden und sowas.“ Auf Hinweise von Kritikern, dass das Bahlsen-Unternehmen einen erheblichen Teil seines Vermögens im Krieg mit Hilfe von Zwangsarbeitern erwirtschaftet hatte, entgegnete die Firmenerbin: „Das war vor meiner Zeit, und wir haben die Zwangsarbeiter genauso bezahlt wie die Deutschen und sie gut behandelt.“ Letzteres stimmte nicht, dafür musste sie sich entschuldigen, was den Vater aber nicht daran hinderte, ihr eine herausragende Stellung im Konzern freizumachen.

Die hat sie nach nur zwei Jahren hingeschmissen. Sie selbst beschreibt den Moment der Erkenntnis so: „Ich stand mitten in einem Weizenfeld und hatte eine Panikattacke.“ Sie habe in vielen Meetings geweint. „Ich war manchmal kalt und hart, wenn ich sanft hätte bleiben sollen“, gestand die Enkelin, um sich mit diesen Worten dann aus der aktiven Rolle im Betrieb zu verabschieden. Ihr folgte inzwischen ein familienfremder Manager, der das Geschäft, das möglicherweise unter der Enkelin mehr als unter der Energiekrise gelitten hatte, wieder richten soll.

Die Jugendliche: Isabel Bonacker

Angesichts einer Frauenquote von 62 Prozent müsse sie sich in ihrem Betrieb eher Sorgen um die Männer machen, sagt Isabel Bonacker, Unternehmerin und Enkelin der Gründergeneration des Hautpflege-Spezialisten Babor aus Aachen. Babor lädt ausdrücklich dazu ein, etwas mehr zu verlangen: „Ask for more“ lautet der Claim. Mehr geben heiße, die Menschen schöner zu machen, ihnen ein anderes Auftreten zu geben und so mehr zu erreichen. „Women Empowerment“ nennt Bonacker das.

Sie sitzt seit 2013 im Verwaltungsrat von Babor. Gemeinsam mit ihrem Cousin Martin Grablowitz steht sie damit in dritter Generation an der Spitze des Familienbetriebs, drei Geschäftsführer leiten das Unternehmen operativ. Ihr Großvater erwarb das Beauty-Startup und holte die Firma nach Aachen. Die Unternehmerfamilie Vossen machte aus der Idee des Wissenschaftlers Michael Babor eine internationale Marke, die mit rund 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Präzisionskosmetik in Aachen herstellt, weltweit vertreibt und in dem Bereich auch forscht.

Bevor die Juristin Bonacker bei Babor aktiv wurde, war ihre Karriere dem Unternehmertum gewidmet: als Director bei Ashoka, einer Organisation für soziales Unternehmertum, und als Engagement-Manager bei McKinsey. Berühmt ist Babor für seine „Ampullen“ – Mini-Fläschchen, die eine Flüssigkeit mit Inhaltsstoffen enthalten, gegen die das Geheimrezept von Coca-Cola vermutlich leicht zu entschlüsseln ist. Aufgetragen auf dem Gesicht erstrahlt die Haut in frischem Glanz. 30 Millionen dieser Ampullen produziert Babor jedes Jahr. „Unser ikonisches Produkt“, nennt es Bonacker.

Was sich geändert habe, seitdem sie Verantwortung für das Unternehmen trägt? „Mit dem Generationswechsel durften Dinge gemacht und gedacht werden, die vorher nicht machbar und denkbar erschienen“, antwortet sie. Sie hat neue Wege eingeschlagen. Nachhaltigkeit und ein Vertrieb, der auf Social Media setzt, sind Stichworte. Sie ist damit rein geschäftlich eine „Verjüngungsexpertin“. Und auch das Wortspiel, dass sie Babor „geliftet“ habe, passt ganz gut. Fragt man sie selbst, sieht die Familienunternehmerin, die drei Kinder hat, ihre Rolle anders: Ihre Aufgabe sei es, das Unternehmen in die nächste – die vierte – Generation zu führen.

Die Rollenvertauscherin: Jenny Gruner

„In der Wohnung ihrer Großeltern gab es viel zu entdecken.“ So beginnt ein Porträt über sie, das die Süddeutsche Zeitung vor einiger Zeit gebracht hat. Gemeint war Jenny Gruner, und der Grund für die ausführliche Beschreibung dessen, was diese Frau prägt und wie sie tickt, ist eine Außergewöhnlichkeit: Jenny Gruner sitzt an leitender Stelle in einem Unternehmen, das eigentlich tief in der Männerwelt verankert ist. Es geht um Schiffe und Handel, um Container und Kaufleute. Jenny Gruner ist fürs digitale Marketing bei der Reederei Hapag Lloyd verantwortlich.

Hapag Lloyd ist jener Laden, der gerade mehr als 18 Milliarden Euro ausgewiesen hat – Gewinn, nicht Umsatz. Die Reederei ist, vom Ergebnis her betrachtet, derzeit das erfolgreichste Unternehmen Deutschlands, und Gruner hat daran ihren Anteil.

Ihr Großvater, der Schiffskapitän aus Rostock, hatte Souvenirs aus all den Ländern gesammelt, die er ansteuerte: Kuba, Brasilien, Venezuela. Was er wann wohin zu bringen hatte, erfuhr er per Telefon, per Telegramm und Brief, oder er holte sich seinen Auftrag persönlich im Büro ab. Gruner, die Enkelin, arbeitet an einem Programm auf der Website von Hapag Lloyd, mit dem sich Kunden in Echtzeit für verschiedene Containertypen ein Angebot einholen können. Sie ist dafür verantwortlich, diesen Prozess den Kunden in 144 Ländern schmackhaft zu machen. Sie bestimmt den Kurs beim Eintritt in ein neues Zeitalter für ein Unternehmen, das sich vor allem mit Tonnage, Kränen und schweren Kisten auskennt, die einmal um die Welt geschippert werden müssen.

Sie beschäftigt sich viel mit ihrer Rolle. „Es gibt noch immer dieses klassische Rollendenken, dass Mädchen nicht gut in Mathe sind und so weiter“, sagt sie. Das liege auch daran, dass die Rollenbilder fehlten. Sie selbst bezeichnet sich als „Digitalholic“, als „Brückenbauerin“ in eine neue digitale und diverse Welt. Es gehe darum, die Menschen zu verändern, „die Organisationen, die Kultur und das Mindset und darauf Einfluss zu nehmen“.

Das Vorbild: Verena Pausder

Sie ist eine Enkelin, sie ist Urenkelin, sie ist Tochter und Mutter und vor allem jemand, der sich engagiert: Gründerin, Autorin, Aufsichtsrätin. Verena Pausder stammt aus der Dynastie des Textilunternehmens Delius aus Bielefeld. Ihr Onkel ist Johannes Rau, SPD-Ministerpräsident und omnipotenter „Landesvater“ in Nordrhein-Westfalen und später Bundespräsident. Die inzwischen weitverzweigte Delius-Gruppe feierte im vergangenen Jahr ihr 300jähriges Bestehen, und es gibt eines dieser typischen Familienbilder mit Verena Pausder, auf dem alle in die Kamera lachen.

„Ich bin optimistisch und ein positiver Mensch“, sagt sie über sich selbst. Das bewahrt aber nicht vor Selbstzweifeln. Einige Hunderttausend Euro hatte Pausder einst von Investoren eingeworben, den eigenen Bausparvertrag obendrauf getan und ihren Job beim Rückversicherer MunichRe gekündigt. Nun will sie eine Salatbarkette aufbauen, sucht dafür Immobilien in Innenstadtlage. Doch die Konkurrenz um die Flächen ist wegen Kamps, Nordsee & Co. groß. Das neue Unternehmen hat es schwer. Irgendwann geht das Geld aus, eine Filiale gibt es nie. „Da hatte ich das Gefühl: Alle machen Karriere, und ich setze eine Salatbar in den Sand“, sagt sie heute.

Sie hat diese Erfahrung in einem Buch verarbeitet, das ein Bestseller wurde. „Das neue Land“ heißt es, und darin steht: „Unternehmen sind harte Arbeit. Unternehmen sind zu allen Zeiten vor allem gegründet worden, um Familien zu ernähren. Um Wohlstand zu erwirtschaften. Unternehmertum ist die beste Möglichkeit, etwas in die Hand zu nehmen, etwas auszuhalten, gerade auch Rückschläge, die Regeln neu zu definieren und zu erleben, wie stolz es einen macht, ein Unternehmen aufzubauen und Arbeitsplätze zu schaffen. Leider lassen sich immer noch zu wenige davon anstecken. Wir mögen den Besitzstand mehr als das Risiko. Wir mögen das sichere Einkommen und den sicheren Arbeitsplatz.“ Viele seien „im besten Salatbar-Alter – und wollen Sicherheit“.

Verena Pausder hat sich darauf verlegt, ihre Erfahrungen als Unternehmerin und Enkelin weiterzugeben in Büchern, mit einer Lern-App für Kinder, mit einer Plattform für digitale Bildung, mit ihrem Verein „Digitale Bildung für alle“.

Gibt es Gemeinsamkeiten?

Claas, Bahlsen, Bonacker, Gruner, Pausder: Fünf Enkelinnen, fünf Wege, etwas zu unternehmen. Voranzukommen, zu scheitern und daraus Schlüsse zu ziehen. Gibt es Gemeinsamkeiten? Auf jeden Fall die: Keine dieser Enkelinnen macht es sich leicht. Das gemachte Nest wollen sie alle verändern. Sie sind die Generation Enkelin – mal mehr, mal weniger Vorbild, aber auf jeden Fall angetreten, traditionelle Rollenbilder aufzubrechen.

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