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Leben im Niedergang

Das Abendland geht unter. So what?

Die Frage im Titel ist gar nicht so unverschämt, wie sie auf den ersten Blick aussehen mag. Denn zunächst einmal müssen wir wohl zugeben, dass der überwiegenden Mehrheit der Menschen in Europa der Untergang des Abendlandes herzlich egal ist, ja dieses Abendland für sie ohnehin schon lange untergegangen ist. Die Zahl derer, die bereit wären, für andere Werte als die ihres unmittelbaren Überlebens irgendwelche wirklichen Risiken auf sich zu nehmen, ist ohnehin verschwindend gering. Und es steht nicht zu erwarten, dass sich dies in baldiger Zeit ändern wird.

Francis Fukuyama, obwohl zu Recht viel kritisiert, lag mit seiner Erwartung vom nahen „Ende der Geschichte“ gar nicht so weit neben der Wirklichkeit. Auch wenn „die“ Geschichte natürlich nie ein Ende finden wird, solange es auch nur zwei Menschen mit ein wenig Ehrgeiz auf dieser Erde gibt, und wenn auch die Erwartung einer allgemeinen Menschheitsverbrüderung im Geiste von Liberalismus, Demokratie und Globalismus von einer bedauernswerten Naivität zeugt, stimmt es doch, dass die meisten Europäer geistig wie seelisch aus der Geschichte ausgestiegen sind.

Sowohl aus der ihren, da es ihnen scheinbar zu große Anstrengungen aufbürdet, die Last der abendländischen Zivilisation solidarisch weiterzutragen und den hohen Anforderungen unserer Vergangenheit gerecht zu werden, als auch aus dem „Großen Spiel“ der Weltgeschichte selbst, ist es doch viel einfacher, dieses Spiel als unmoralisch zu verdammen, als die Würfel da aufzunehmen, wo sie gerade gefallen sind.

Das Abendland stirbt, weil es jedem egal geworden ist

Somit wird aber auch zunehmend verständlich, dass der von Oswald Spengler beschworene, tatsächlich aber bereits seit dem Fin de Siècle erwartete und von hunderten europäischen Denkern und Künstlern mit ziemlicher Genauigkeit vorweggenommene „Untergang des Abendlandes“ keineswegs einen Wagner’schen Weltenbrand mitsamt einstürzender Walhalla impliziert, sondern vielmehr den Entropie-Tod des Abendlands aufgrund des allgemeinen Desinteresses.

Das Abendland stirbt nicht, weil es von außen oder innen bedroht ist, sondern weil es jedem letztlich egal geworden ist – bis schließlich auch die letzten Europäer es nicht mehr vermögen, die geistige Kontinuität mit der Vergangenheit aufrechtzuerhalten.

Sein Leben in der christlichen Transzendenz und nicht bloß in Hedonismus und Materialismus zu verankern; seine naturgegebenen Lebensumstände als Aufgabe und nicht bloß als Objekt der Empörung anzunehmen; eine langfristige Partnerschaft zu begründen, die über momentane Triebbefriedigung hinausgeht; sich selbst durch aufopferungsvolle Erziehung von Kindern als Band zwischen Vergangenheit und Zukunft zu sehen, anstatt nur an der sogenannten „Selbstverwirklichung“ zu arbeiten; sich bereitwillig in der Tradition einzuwurzeln, anstatt jeder Heimat abzuschwören; eine Aufgabe um ihrer selbst willen zu machen und nicht nur alles unter dem Blickwinkel kurzfristigen Utilitarismus zu betrachten – all das erfordert eine geistige Anspannung. Eine, die nicht nur durch die allgegenwärtige Spaß-Kultur völlig unverständlich geworden ist, sondern auch durch die immer härtere Cancel-Politik der herrschenden Eliten lächerlich, ja gar politisch verdächtig geworden ist.

Der Entwicklung entgegenstemmen – wozu eigentlich?

Und so steht daher das Menetekel des allmählichen Versinkens in ein posthistorisches Fellachentum mit großen Lettern an die Wand geschrieben – und es wäre nicht das erste Mal in der Weltgeschichte. Denn wenn die vergleichende Geschichtsbetrachtung uns eines lehrt, so ist es, dass bislang noch alle großen Zivilisationen untergegangen sind, und zwar eben nicht in einem großen Krach – der kommt meist, wenn es ohnehin schon zu spät ist –, sondern vielmehr aufgrund der Abdankung der Menschen vor der kollektiven Verantwortung.

Schwinden des Glaubens an die Transzendenz, demographischer Niedergang, zerfallende Familienstrukturen, Globalismus, extreme soziale Polarisierung, Raubbau an der Umwelt, Massenmigration, Populismus – all das ist keinesfalls neu, sondern gehört zum Standardrepertoire einer jeden Spätzeit.

Doch so richtig es ist, wenn einzelne Europäer diese Entwicklung beklagen und sich ihr entgegenzustemmen suchen, so unsicher fällt die Antwort auf die Frage aus: wozu eigentlich? Die unmittelbare Antwort der meisten wird sein, die oben geschilderte Niedergangserwartung als zu defätistisch wegzudeuten und bestenfalls als Ereignis zu betrachten, das nur dann eintreten wird, wenn sich ihm nicht genug beherzte Abendländer entgegenstellen – der „Untergang“ als Warnung, nicht als Fatalität.

Es gibt gute Gründe, weiterhin seine Aufgaben zu erfüllen

Dies mag rhetorisch in der Tat die geschickteste Antwort sein, aber es macht sie darum nicht wahrer, so dass das Risiko besteht, dass jene, die sich dem Niedergang nur deshalb entgegenstemmen, weil sie an eine echte Alternative glauben, ins Nichts der Hoffnungslosigkeit fallen, wenn sie endlich einsehen, für eine Illusion gekämpft zu haben. Was nottut – zumindest für jene, die den Dingen auf den Grund gehen wollen –, ist gewissermaßen eine Philosophie, die Niedergang und beherzte Pflichterfüllung nicht als Gegensatz, sondern als Korrelat betrachtet.

Und in der Tat bestehen gute Gründe, den „Untergang des Abendlandes“ zwar in seiner vollen Tragik zu fassen und entsprechend zu betrauern, trotzdem aber weiterhin seine Aufgaben zu erfüllen – vielleicht sogar mit größerem Idealismus als unter glücklicheren Umständen. Denn sich der Pflege des eigenen Kulturguts zu verschreiben, wenn es ohnehin um einen herum sprießt und blüht, ist eine ungleich dankbarere und einfachere Aufgabe, als sich mutig einem undankbaren, ja gar gegnerischen Zeitgeist entgegenzustellen und als einziger eine absterbende Zivilisation unbeirrt weiter zu ehren und zu schützen, die von den Mitbürgern auch noch verteufelt wird. In dieser Hinsicht lassen sich folgende drei Aspekte in Betracht ziehen:

Zum ersten die Verankerung des Einzelnen in der Geschichtlichkeit. „Treulos ist, wer Lebewohl sagt, wenn die Straße dunkel wird“, heißt ein Sprichwort, und selten traf es auf einen Moment der abendländischen Geschichte so zu wie auf unsere eigene Lebenszeit. Die Geschichte ist insoweit eine Fatalität, als wir uns ihr zwar entziehen können, aber nur um den Preis, sie nicht mehr aktiv mitzugestalten. Wer sich wirklich als Abendländer fühlt, kann schon per definitionem nicht anders, als das, was ihm von seinen Vorfahren übergeben worden ist, an die nächste Generation weiterzugeben, um die Kette der Überlieferung und Identität nicht abbrechen zu lassen.

Ob diese Überlieferung noch lebenskräftig oder erloschen ist, spielt dabei keine Rolle, schließlich würde auch niemand auf den Gedanken kommen, auf die Bewunderung und Konservierung gotischer Architektur oder barocker Musik zu verzichten, nur weil die jeweiligen Kunststile bis auf anekdotische Ausnahmen nicht mehr lebendig sind.

Im Niedergang zwar, aber der finale Ausklang steht noch aus

Außerdem gilt zu beachten, dass das Abendland zwar im Niedergang ist, der finale Ausklang aber noch aussteht, wie wir ihn noch bei jeder anderen Zivilisation gefunden haben: jene nostalgisch-retrospektive Phase des Zivilisationsimperiums, das gleichsam wie eine Synthese der früheren Epochen den Schlusspunkt setzt und erst damit allem Vorangegangenen seinen definitiven Sinn verleiht. Dafür zu kämpfen, dass es weder links-grüner Wokeismus ist noch kleingeistiger Nationalismus, die im wahrsten Sinne das letzte Wort behalten, sondern ein echter christlich-abendländischer Patriotismus, ist sicherlich eine Aufgabe, die gegenüber allen früheren nicht zurücksteht.

Vorschau Aachener Königsthron, Karlsthron, Aachener Dom, im Auftrag Kaiser Karls des Großen errichteter Thron
Der Königsthron im Dom zu Aachen: Das Abendland stützte sich auf das Erbe der griechisch-römischen Antike ebenso wie auf das des jüdisch-christlichen Monotheismus

Ferner gilt es zu bedenken, dass unsere Verantwortung nicht nur unseren Kindern oder Vorfahren gilt, sondern der gesamten Geschichte: Nicht nur die unmittelbare Entwicklung des Abendlands, sondern auch sein Nachleben in späteren Jahrhunderten, ja Jahrtausenden will bedacht sein. Viele Zivilisationen hinterließen ihre großartigen Schöpfungen nicht nur den nächsten Generationen, sondern wollten damit, so gut wie möglich, ein Zeichen für die Ewigkeit setzen.

Und wenn uns angesichts der vielen untergegangenen und zertrümmerten Kulturen der Vorzeit auch nur allzu bewusst ist, wie naiv diese Vorstellung unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ist, entbindet uns dies doch nicht von der Verantwortung gegenüber der Zukunft.

Die Bedeutung der Transzendenz

Das von den Karolingern und Ottonen begründete Abendland stützte sich auf das Erbe der griechisch-römischen Antike ebenso wie auf das des jüdisch-christlichen Monotheismus, und ähnlich wäre es dem buddhistischen China oder der assyrisch-babylonischen Zivilisation ohne den Kulturschatz des antiken China beziehungsweise der sumerisch-akkadischen Gesellschaft nicht möglich gewesen, sich zu ihrer beträchtlichen Höhe aufzuschwingen.

Auch wir Abendländer sollten daran denken, späteren Zeiten und Zivilisationen unsere Erfahrungen und Errungenschaften im Guten wie im Bösen möglichst unbeschadet als Zeugnis zu hinterlassen und ihnen somit ein gewisses Weiterleben zu sichern.

Doch am wichtigsten scheint mir die Tatsache, dass gerade der dramatische Niedergang des abendländischen Christentums allen, die Augen haben zu sehen, erneut die Bedeutung der Transzendenz vor Augen führt. Je mehr das echte Christentum diffamiert, bekämpft und verfolgt wird, je größer die Tendenz wird, durch Anpassung an den Mainstream zumindest die materiellen Vorteile der bisherigen „Staatskirchen“ weiter aufrechtzuerhalten, desto klarer tritt die reine Lehre wieder hervor, und desto mehr wird die Aufmerksamkeit der „letzten“ Europäer vom bloßen politischen oder sozialen Kampf auf das zurückgelenkt, was wirklich gelten sollte und den eigentlichen Reichtum der abendländischen Geschichte ausmacht.

Religionen können Zivilisationen überleben

Nämlich die stetige Rückbindung des Einzelnen an das Wahre, Gute und Schöne, an dem er durch seine unsterbliche Seele teilhat, und dessen Pflege seine höchste Pflicht sein sollte, völlig unabhängig vom Niedergang der eigenen Zivilisation. Denn ja, das abendländische Christentum ist für uns Europäer der wichtigste, wahrscheinlich sogar einzige wirkliche Zugang zur Transzendenz, und alles, was an unserer Identität tatsächlich „konserviert“ zu werden verdient, definiert sich durch den Grad seiner wahrhaftigen Anbindung an diese Transzendenz.

Doch wäre es irrig zu glauben, der Untergang des Abendlandes und somit der abendländischen Variante des Christentums bewirke auch ein Ende der Transzendenz an sich: Zum einen haben zahlreiche Religionen den Fall jener Zivilisationen überlebt, in denen sie entstanden sind, zum anderen ist unser Streben nach Gott etwas, das zwar mit viel Anstrengung in der Tat fast völlig unterdrückt werden kann – wir sehen den Erfolg dieser Politik schließlich alltäglich um uns herum –, das dem Einzelnen aber trotzdem angeboren ist, da es von jenseits kommt.

Das Wahre, Schöne und Gute zu verteidigen, und zwar in seiner uns traditionell zugewachsenen Form, ist daher keine „politische“ Entscheidung und nicht einmal eine prinzipielle „Pflicht“ – es ist vielmehr ein Streben, das bereits von jeher in uns verankert ist und als aktives Bedürfnis umso mehr wächst, je mehr wir uns mit ihm auseinandersetzen, und dessen höchstes Ziel nicht im Erfolg des Kampfes im Hier und Jetzt des Abendlands des 21. Jahrhunderts liegt, sondern in seiner Bedeutung für das Heil des Einzelnen – und dieses Heil ist das Einzige, das uns niemand nehmen kann.

 

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Kommentare

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Kommentar
3
Johannes
Vor 10 Monate

Ich glaube nicht an den Untergang, sondern bin überzeugt, daß sich die Germanen wie such alle anderen Urvölker, ihre Welt wieder herstellen, sobald sich eine Gelegenheit bietet, und dafür alles riskieren, Leib und Leben inklusive.

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Johann Parzer
Vor 10 Monate

Aus der Seele gesprochen, Danke!

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Vera
Vor 5 Monate

Fantastisch - ich bin dabei! Jesus ist Sieger :-) <3

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Dr. Klaus Rocholl
Vor 9 Monate 3 Wochen

Lohnt es, sich der Entwicklung entgegenzustemmen?

Ich antworte mit Albert Camus:

„Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

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Hildegard Otto…
Vor 10 Monate

Es hat mich sowohl nachdenklich als auch froh gemacht, einen so fabelhaften und gut verständlich verfassten Text zu lesen.
Jedes angeschnittene Thema ist so dargestellt, daß es mehr als einen abendländischen Leser wach machen, und zur Verantwortung rufen wird.
Vielen Dank!

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Brigitte Schmidt
Vor 10 Monate

Ich glaube intensiv daran,dass sich das Bewusstsein in der Menschheit in absehbarer Zeit ändert…
Diese Hoffnung bleibt…
In meinem engsten Umfeld darf ich das bereits feststellen…🤗

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Ralf Kreuzer
Vor 10 Monate

Dieser Artikel hat mich unheimlich beruehrt, recht herzlichen Dank an den Autor!

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Johann Parzer
Vor 10 Monate

Aus der Seele gesprochen, Danke!

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Johannes
Vor 10 Monate

Ich glaube nicht an den Untergang, sondern bin überzeugt, daß sich die Germanen wie such alle anderen Urvölker, ihre Welt wieder herstellen, sobald sich eine Gelegenheit bietet, und dafür alles riskieren, Leib und Leben inklusive.