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Politologe Richard Traunmüller im Interview

Sollte ich als konservativer Student meine Meinung sagen, Herr Professor?

Der Politologe Richard Traunmüller sitzt in einem unscheinbaren Büro am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim. Doch seine Forschung ist brisant und brandaktuell. Der gebürtige Österreicher ist einer der wenigen Wissenschaftler, die zum Thema Cancel-Culture und Meinungsfreiheit forschen. 2020 hatte er deutschlandweit für Schlagzeilen gesorgt, als er und ein Kollege an der Frankfurter Goethe-Universität rund eintausend Studenten der Sozialwissenschaften befragt und eine überraschend hohe Bereitschaft festgestellt hatten, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Nun arbeitet er an einer deutschlandweiten Untersuchung. Im Gespräch mit Corrigenda verrät er erste Ergebnisse, erklärt, was es mit dem Phänomen der Cancel-Culture auf sich hat und spricht auch über die Relevanz von Religion in modernen Gesellschaften.

Herr Professor Traunmüller, müssen wir einen Disclaimer vor dieses Interview setzen: Der Gesprächspartner sagt nicht das, was er denkt, sondern das, was ihn als Professor an einer deutschen Universität gut ankommen lässt oder ihm zumindest nicht schadet?

Das ist eine richtig gemeine Frage, weil ich natürlich im Prinzip im Auftrag der Wahrheit unterwegs bin und deswegen einen gewissen ethischen Imperativ habe, Ihnen die Wahrheit zu sagen. Gleichwohl werde ich mich trotzdem behutsam äußern, um zu vermeiden, dass mir vielleicht doch aus dem einen oder anderen Gesagten ein Strick gedreht wird.

Besteht das Risiko?

Ich glaube, es besteht, ich halte das für real. Allein, dass ich das jetzt geäußert habe, ist aus meiner Sicht schon beachtenswert. Dass ich Ihnen also nicht sage, ich rede jetzt hier ganz frei Schnauze, ohne mir zu überlegen, was wären mögliche Konsequenzen. Der Fachterminus wäre Selbstzensur: Man spricht nicht genau das aus, was man eigentlich meint.

Wie steht es um die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit an der Uni Mannheim?

Mannheim steht eigentlich gut da.

Das ist aber nicht überall so. Sie hatten 2020 eine Erhebung an der Uni Frankfurt durchgeführt und das Ergebnis ließ aufhorchen: Ein relevant hoher Anteil von Studenten will nicht mit anderen Meinungen konfrontiert werden. Mehr als jeder Dritte war dagegen, kontroverse Redner zu den Themen Gender oder Zuwanderung an der Uni zu dulden. Ebenso ein Drittel war dafür, deren Bücher aus den Bibliotheken zu verbannen, und noch ein größerer Anteil war sogar dagegen, diesen Personen eine Lehrerlaubnis zu erteilen. Kam inzwischen heraus, dass Sie sich geirrt haben, oder ist es wirklich so schlimm?

Nein, das ist so. Wir sind gerade dabei, die Daten zu replizieren. Wir haben damals auch herausgefunden: Ein Drittel der Studenten traut sich nicht zu sagen, was es wirklich denkt. Das ist eine Zahl etwa in der Größenordnung, die wir bei der neuen Studie auch so erhoben haben – und zwar deutschlandweit. Dann haben wir uns angesehen: Was steckt da dahinter? Sind das nicht alles super reflektierte junge Menschen, die freiwillig nicht sagen, was sie denken, um andere nicht zu verletzen? Da haben wir rausgefunden: Nein, so einfach ist es nicht. Das Motiv für die Selbstzensur ist nicht Reflexion, sondern etwas anderes.

Was?

Zum einen mangelndes Zutrauen in den eigenen Standpunkt, das eigene Wissen. Zum anderen, und das ist entscheidend, eine gewisse Furcht vor negativen Konsequenzen oder in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden.

„Die linke Seite ist intoleranter als die konservative“

Unter den sich als links bezeichnenden Studenten war die Toleranz für andere Meinungen geringer als bei Konservativen. Linke im akademischen Milieu bezeichnen sich gerne als tolerant, sind sie in Wahrheit die Intoleranten?

Das ist eine wichtige Frage. Wir haben Kritik für die Art und Weise bekommen, wie wir Toleranz abgefragt haben. Doch: Ich muss erst mal etwas ablehnen, um tolerant sein zu können. Wenn Sie etwas gut finden oder Ihnen etwas egal ist, dann sind Sie nicht tolerant, sondern entweder dafür oder indifferent. Toleranz heißt: Ich lehne etwas ab, bin aber dennoch bereit, der Person, die diese Einstellung hat, Rechte zuzusprechen. Was bei dieser Betrachtung ganz wichtig ist und was viele der Kritiker vermutlich bis heute nicht verstanden haben: Es ging uns explizit darum, Dinge zu finden, die linke Studenten herausfordern. Wir haben ihnen Statements vorgelegt, die sie ablehnen müssen, um dann zu fragen, wie weit ihre Toleranz geht. Also dass Menschen, die so denken, sprechen dürfen, dass sie unterrichten dürfen, dass ihre Bücher in der Bibliothek zu finden sind.

Gleichgültigkeit ist nicht Toleranz, das leuchtet ein.

Gleichgültigkeit ist nicht Toleranz, und wenn Sie etwas gut finden, dann ist es auch nicht Toleranz. Das ist ganz wichtig! Die Kritik war, wir hätten nur abgefragt, was konservativen Studenten ohnehin gefällt. Das ist richtig. Dem kann man aber entgegnen, dass es bislang offenbar noch niemanden aufgefallen ist, dass die Toleranzforschung genau das bislang unter umgekehrten Vorzeichen gemacht hat, indem sie Standpunkte zur Auswahl in der Umfrage stellt, die Konservative stärker triggern, und dann finden die natürlich heraus: Die Konservativen sind intoleranter. Das war bislang Stand der Forschung. Das ist er jetzt nicht mehr.

Aus meiner Sicht ist momentan klar, dass je nachdem, worum es geht, beide Lager ihre Intoleranzen haben. Das heißt, idealerweise hat man jetzt ein Messinstrument, das dieses Ungleichgewicht aufhebt. Dann lässt sich herauszufinden, wer denn jetzt toleranter oder intoleranter ist. Wir haben nun Ergebnisse aus Umfragen, in denen gefragt wird, ob es legitim ist, andere zu zensieren, ob es legitim ist, andere niederzuschreien, Leute daran zu hindern, an Veranstaltungen teilzunehmen usw. Und bei diesen Fragen ist es in Deutschland die linke Seite, die dort intoleranter auftritt als die konservative.

Das heißt, die Forschung dazu war bislang verzerrt, weil immer nur geschaut wurde, wie intolerant die Konservativen sind?

Die Wissenschaft lebt von Streit und Auseinandersetzung. Das heißt, das ist eine Kontroverse. Bislang stehen nur zwei Möglichkeiten im Raum: Entweder die Konservativen sind wirklich intoleranter oder beide sind gleich intolerant. Die dritte Option, dass vielleicht Linke intoleranter sein könnten, das wird noch gar nicht diskutiert. Durch meine Forschung kann ich aber zeigen: Diese dritte Möglichkeit sollte unbedingt in Betracht gezogen werden.

Der geläufigste Begriff, diese Mechanismen zu beschreiben, ist der der Cancel-Culture. Gibt es das überhaupt, oder ist das eine Erfindung der Konservativen?

Dieser Begriff ist ein popkultureller oder medial geprägter, vielleicht auch ein politischer Kampfbegriff. Das Phänomen, das dahintersteckt, lässt sich allerdings auch mit anderen Kategorien begreifen und erforschen. Und da würde ich sagen, dass es natürlich empirische Hinweise gibt, dass wir Phänomene haben, die man als Cancel-Culture bezeichnen kann. Und man muss auch ganz klar sagen: Die Leute, die das in Abrede stellen, die müssen sich irgendwann mal entscheiden, was sie eigentlich wollen. Entweder sie betreiben Cancel-Culture, indem sie gewisse Standpunkte als moralisch verwerflich bezeichnen und auch befürworten, dass gewisse Dinge nicht geäußert werden, oder sie vertreten den Standpunkt, dass es das Phänomen überhaupt nicht gibt.

Die drei Dimensionen der Cancel-Culture

Sie haben drei Dimensionen der Cancel-Culture ausgemacht. Erstens: eine starke Ungleichheitssensibilität und Intoleranz; zweitens: das Deplatforming , also Ausschließen bestimmter Personen, drittens, den wichtigsten Aspekt: die Selbstzensur. Sind das nicht allzu menschliche Muster, die jeder von uns hat? Sprich: Gab es das nicht schon immer?

Ja, das ist ein guter Punkt, weil die daraus folgende Frage lautet: Gab es nicht immer schon eine Cancel-Culture? Und was ist denn jetzt neu? Klar, jeden einzelnen Aspekt für sich gibt es schon länger. Am neuesten ist sicher das Deplatforming, also eine aktivistische Protestform, bei der es nicht nur darum geht, Kritik zu üben, sondern wirklich das Gegenüber zum Schweigen zu bringen. Aber dass diese drei Elemente wie ein Syndrom zusammenwirken, dass es bestimmte Normen gibt, die Intoleranz begründen und die gleichzeitig die Legitimation für gewisse Protestformen sind, die dann Selbstzensur-Verhalten hervorrufen, da bin ich mir nicht sicher, ob es das in der Form immer schon gab.

Umfragen an 50 Universitäten in den USA zeigen: Je linker Studenten sind, desto intoleranter sind sie. Was ist die Erklärung dafür?

Ganz vereinfacht kann man sagen: Es ist eine Reaktion auf eine Bedrohung, auf ein Bedrohungsgefühl. Man sieht eine Gefahr und möchte sie verringern oder bekämpfen.

Also geht es um Gefühle und Emotionen und um keine echten Gefahren?

Wenn etwas bedrohlich erscheint, dann versucht man das abzuwehren. Das ist der zugrundeliegende Impuls. Aber das Spannende ist natürlich: Was ist denn bedrohlich? Und da gibt es eine Verschiebung, auch vorangetrieben durch gewisse akademische Theorien. Aber das Bemerkenswerteste ist: Was im Moment von Teilen dieser Leute als Gefahr wahrgenommen wird oder als Gefahr geframt wird, sind Dinge, die bislang als ungefährlich galten oder klar getrennt waren. Etwa die Unterscheidung von physischer oder psychischer Gefahr. Der Begriff der Gefahr wird auf einmal ausgedehnt, so dass zum Beispiel psychologische Unannehmlichkeiten unter dem Label „Sicherheit“ oder unter der Aussage „Das stellt meine Existenz infrage“ verhandelt werden. Es gibt eine Ausdehnung dessen, was als gefährlich wahrgenommen wird, und daraus lässt sich dann die Intoleranz erklären.

Die dritte Dimension ist der Hang zur Selbstzensur. Was bedeutet das genau?

Ganz wichtig: Selbstzensur ist eine strategische Entscheidung. Das ist etwas, was man bewusst macht, und es bedeutet, dass man die Meinung zurückhält, die man eigentlich zu einem Sachverhalt hat.

Welche Folgen hat das für die Wissenschaft?

Wissenschaft ist die Suche nach Wahrheit, dem Austausch unterschiedlicher Argumente und Vorstellungen. In dem Moment, wo gewisse Argumente und gewisse Vorstellungen nicht geäußert werden, leidet der wissenschaftliche Diskurs. Und das Spannende ist, weil es dann gleich heißt: „Naja, aber muss man jetzt mit Flacherdlern reden, oder mit Holocaustleugnern?“ Doch da gibt es ein Argument von John Stuart Mill, einem Philosophen, der unübertroffen dargelegt hat, wie wichtig Meinungsfreiheit ist. Sein erster Punkt ist: Man braucht den Widerstreit der Ideen, um zur Wahrheit zu kommen. Und sein zweiter Punkt: Auch dumme Ideen bringen uns weiter, und zwar, weil sie unsere Argumentationsfähigkeit trainieren. Das heißt, selbst wenn Sie sich mit saudummen Ideen auseinandersetzen, macht es eigentlich Ihren eigenen Standpunkt stärker.

Ist es nicht auch ein Problem, wenn ein bestimmter Wissensstand nicht mehr repliziert werden darf, weil er politisch unkorrekt ist? In der Biologie oder der Medizin etwa kann es unter Umständen sogar Forschung betreffen, bei der es um Leben oder Tod geht.

Nehmen wir das Beispiel geschlechtsspezifische Medizin. Das sieht jeder sofort ein, dass es etwa bei der Dosierung von Medikamenten Unterschiede hinsichtlich des Geschlechts gibt. Wenn man jetzt aber hergeht und sagt: Oh, das ist aber Biologismus, und Geschlechter-Unterschiede darf es nicht geben, da wird es problematisch.

Zur Person Richard Traunmüller

Richard Traunmüller wurde 1980 im oberösterreichischen Linz geboren und wuchs unter anderem in Mexiko, Saudi-Arabien, Singapur und Thailand auf. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, welches er 2007 abschloss, wurde er 2011 an der Universität Konstanz im Fach Politikwissenschaft mit einer Arbeit zu Religion und Sozialkapital promoviert. Nach Post-Doc-Stationen in der Schweiz und England wurde er 2014 auf eine Juniorprofessur für Empirische Demokratieforschung an die Goethe-Universität Frankfurt berufen. Seit 2020 ist er als Professor für Politikwissenschaft und empirische Demokratieforschung an der Universität Mannheim tätig. Dort lehrt und forscht er zu den sozio-kulturellen und sozio-psychologischen Grundlagen moderner Demokratien sowie zu Fragen der Meinungsfreiheit und Zensur.

Moderate Konservative zensieren sich am meisten – radikale Linke am wenigsten

Die Daten aus den USA zeigen: Personen mit radikal linken Positionen zensieren sich am wenigsten selbst und moderate Konservative am meisten. Ist das der Grund, warum sich linke Positionen in der veröffentlichten Meinung häufig durchsetzen, weil deren Protagonisten sagen, was sie denken und sich mit ihren Positionen nicht zurückhalten?

Die eigentliche Frage ist: Warum zensiert sich die moderat konservative Seite so sehr? Die Gefahr besteht aus meiner Sicht darin, dass moderate Konservative verkennen, dass man es dem politischen Gegner nie rechtmachen kann. Dahinter steckt ein falsches Denken, dass man glaubt, wenn man sich ein bisschen zurückhält, dass einen dann die Kritik des Gegners nicht trifft, sondern nur diejenigen, die noch weiter rechts stehen. Man sieht ja auch in Deutschland, mit welcher Vehemenz nun selbst CDU- oder CSU-Politiker attackiert werden.

Wenn der politische Gegner einen Rand erfolgreich bekämpft hat, gibt es automatisch einen neuen Rand, den er sich als Ziel aussucht.

Richtig. Und das andere, das vielleicht noch größere Problem ist, dass die konservativen, wirtschaftsliberalen, bürgerlichen Positionen einen strategischen Nachteil haben.

Inwiefern?

Die haben ihren Gramsci nicht so genau gelesen wie die Linken. Stichwort: kulturelle Hegemonie, zivilgesellschaftliche Organisationen et cetera. Wobei das wahrscheinlich auch ein bisschen zu einfach ist, weil ein Großteil der Zivilgesellschaft das traditionelle Vereinswesen oder die Kirchen sind – oder zumindest waren. Wobei man sich bei den Kirchen nicht mehr sicher sein kann, auf welcher Seite sie stehen. Es ist aber so, dass die bürgerliche Zivilgesellschaft gerade den Kontakt in die Kulturinstitutionen, Kunst, Medien oder Universitäten nicht hat. Da hat das bürgerliche Lager definitiv Nachholbedarf.

Während der McCarthy-Ära trauten sich 13 Prozent der US-Amerikaner nicht, ihre Meinung zu sagen. 25 Prozent der Wissenschaftler übten Selbstzensur. Inzwischen nähern wir uns wieder diesen Werten. Müssten in Politik, Medien und akademischem Betrieb nicht längst alle Alarmglocken schrillen?

Ich rate immer dazu, nicht in Alarmismus zu verfallen, aber man sollte schon sehr hellhörig sein und sehr genau hinschauen. Anhand der Allensbach-Zeitreihe zur Meinungsfreiheit kann man feststellen, dass es in den vergangenen 50 Jahren eine Abnahme gab. Und das ist aus meiner Sicht definitiv ein Krisenindikator, der uns nicht egal sein kann.

Zu der Allensbach-Umfrage kommen wir gleich. Wurden Sie schon einmal gecancelt?

Proteste gegen mich gab es bislang nicht. Aber ich habe einmal zusammen mit einem Kollegen einen Artikel bei einer Fachzeitschrift eingereicht und ihn dann aber wieder zurückgezogen, weil der Herausgeberin unsere Ergebnisse aus politischen Gründen nicht gepasst haben und wir den Beitrag hätten umschreiben müssen.

Was ist mit der Arbeit passiert, verschwand die für immer in der Schublade?

Der Artikel erschien ein halbes Jahr später ohne Probleme woanders.

Linke Studenten protestieren gegen eine Kundgebung der „Patriot Prayer“ an der University of Washington

Was würden Sie beispielsweise einem klassisch-liberalen oder konservativen Studenten raten: Sollte er seine Meinung sagen, oder sollte er sich, um nicht aufzufallen und Nachteile in Kauf zu nehmen, mit seiner Meinung lieber zurückhalten?

Unbedingt die Meinung sagen! Und zwar aus verschiedenen Gründen. Erstens: Schon aus psychischen Gründen. Seine Meinung ständig in sich hineinzufressen und sich ständig zu verbiegen, ist ein ganz schlechter seelischer Zustand. Zweitens: Man muss davon ausgehen, nicht allein zu sein. Zwar wird man es sich mit manchen verscherzen. Was viele aber nicht auf dem Schirm haben, ist, dass man sehr schnell auch neue Freunde gewinnen kann, gerade weil man sich positioniert. Das ist auch eine Erfahrung, die ich selbst gemacht habe. Sie haben ja die Kritik an meiner Studie thematisiert. Es gab auf Twitter ziemlich viel Turbulenzen. Was aber keiner gesehen hat, sind die vielen E-Mails, die ich bekommen habe von wirklich namhaften Wissenschaftlern, die mir dazu gratuliert haben. Deswegen rate ich auch allen Studenten klassisch-liberal, konservativ, was auch immer: Machen Sie den Mund auf!

„Meinungsäußerungsfreiheit ist gleichbedeutend mit Demokratie“

Sie sind Demokratieforscher, und wir haben schon über die jährlich veröffentlichte Allensbach-Umfrage gesprochen. Laut der aktuellen Erhebung glaubt weniger als die Hälfte (48 Prozent), dass man sich in diesem Land frei äußern kann. Wie wichtig ist Meinungsäußerungsfreiheit für eine Demokratie?

Sie ist fundamental, sie ist gleichbedeutend mit Demokratie. Sie können keine Demokratie haben ohne freie Meinungsäußerung. Punkt.

Es gibt einen messbaren Rückgang der gefühlten Meinungsäußerungsfreiheit. Gleichzeitig erleben wir in sozialen Netzwerken teils brutale, beleidigende Kommentare, die oft auch unter Klarnamen verfasst werden. Ist das nicht ein Widerspruch?

Das ist ein wichtiger Punkt mit dem Gefühl. Zunächst einmal: Was sind das für Meinungen, über die wir uns unterhalten? Das bewegt sich in der Regel innerhalb des Gesetzes. Bis Sie einmal was äußern, was justiziabel ist, können Sie wirklich jede Menge raushauen. Die Grenzen der Meinungsfreiheit sind nicht aus gesetzlichen, sondern aus kulturellen Gründen enger gezogen worden.

Was ist mit dem zweiten Punkt, mit den sozialen Medien?

Man kann das Argument noch ein bisschen zuspitzen: Da beklagt sich jemand darüber, dass er keine Meinungsfreiheit hat, und tut das aber öffentlich, vielleicht auf Twitter oder sogar in einer Talkshow. Genau das halte ich allerdings für ein Strohmann-Argument.

Warum?

Weil es von einem enggeführten Verständnis von Meinungsfreiheit ausgeht. Das hat nämlich im Hinterkopf das klassische legalistische, juristische, staatstheoretische Verständnis: Meinungsfreiheit ist ein Abwehrrecht gegenüber dem Staat, und das existiert in Deutschland. Doch diese Leute verkennen, dass man Meinungsfreiheit eben auch sozialwissenschaftlich erfassen kann und es Aspekte gibt, die Kosten erzeugen für die freie Meinungsäußerung. Mein Vorschlag ist, Meinungsfreiheit analytischer aufzufassen, und dann darauf zu schauen: Was kostet es, sich frei zu äußern? Dann kann man sich nämlich durchaus auch in Talkshows setzen und sagen: Das ist mir zu teuer. Ich habe keine Lust, dass mir mein Verlag kündigt, ich habe keine Lust, dass ich dann komische Zuschriften erhalte, dass ich ausgeladen werde. Das sind Kosten, die ich habe, weil ich sage, was ich denke. Das ist also nicht widersprüchlich, sondern eine total vernünftige Rechnung. Wer behauptet, jemand sei frei in seiner Meinung, wenn er sich danach Gedanken machen muss, ob er seinen Beruf verliert, also Entschuldigung. Das ist genauso, als wenn ich jetzt mit einer Pistole mit Ihnen zum Bankautomaten gehe. Dann haben Sie ja immer noch die freie Entscheidung zu sagen, ich heb jetzt doch kein Geld ab.

„Da sind unsere migrantischen Mitbürger ein hochwillkommenes Korrektiv“

Sie haben in Ihrer Promotion die Verbindung von Religion und sozialem Kapital untersucht. Braucht es Religion, um den Zusammenhalt einer Gesellschaft sicherzustellen?

In der Sozialwissenschaft gibt es dazu zwei Perspektiven. Die eine sagt: Ja, Religion ist ein Garant für den sozialen Zusammenhalt und letztendlich vielleicht auch für eine funktionstüchtige Demokratie, weil sie gewisse Verhaltensweisen und Moralvorstellungen in die Bürger hineinsozialisiert. Und dann gibt es die andere Perspektive, die sagt: Eigentlich ist traditionelle Religion vielleicht sogar antithetisch zu einer liberalen demokratischen Kultur. Ich habe folgendes in meiner Dissertation argumentiert: Es kommt auf die politischen Bedingungen an. Also, beides ist möglich und es gibt für beides gute Beispiele. Nur zu sagen, Religion sei an allen Übeln schuld, das stimmt überhaupt nicht. Das kann man auch mit Daten belegen. Religiöse Menschen sind stärker engagiert, leisten mehr in der Zivilgesellschaft, spenden mehr, sind also nach diesen Kriterien eigentlich die besseren Bürger. Abgesehen davon, dass man auch in die Geschichte schauen kann, welche Rolle religiöse Akteure bei der Abschaffung der Sklaverei oder beim Fall des Kommunismus gespielt haben. Auf der anderen Seite gibt es aber natürlich die Extreme, die etwa dazu führen, dass man sich in die Luft jagt. Es kommt also auf die Konditionen an. Man kann es so sagen: Je mehr eine Religion mit der Politik verbandelt ist, desto problematischer wird sie. Hingegen zeigt sie ihre guten Effekte, wenn es eine klare Trennung gibt.

Also ein säkularer Staat.

Ja, eine klare Trennung, aber säkular heißt nicht antireligiös. Das ist ganz wichtig. Mit säkular ist nicht laizistisch gemeint oder religionsfeindlich. Sondern säkular heißt eigentlich, dass man auch der Religion ihre Autonomie überlässt, und ich glaube, dass es für eine Religion, für eine organisierte Religion sehr, sehr wichtig ist, dass sie ihre Autonomie behält.

In Deutschland leben mittlerweile Mitglieder verschiedenster Ethnien zusammen. Kann die Religion helfen, diese verschiedenen Traditionen zu verbinden? Oder ist sie eher hinderlich?

Eins ist klar, auch wenn man es nicht gerne hört: Religiöse Vielfalt ist per se immer erst mal eine Herausforderung, da braucht man ja nur in die Welt schauen, um das zu sehen. Aber auch da gilt wieder die Frage: Muss es automatisch in Konflikt ausarten? Das muss es nicht, wenn es klug gemanagt ist. Das bedeutet wahrscheinlich, es muss eine religiöse Gleichbehandlung geben, eine Äquidistanz des Staates. Wobei Mitteleuropa dennoch immer eine von christlicher Kultur geprägte Region bleiben wird. Die Geschichte können Sie nicht verleugnen.

Konservative Christen und konservative Muslime teilen manche Werte, etwa was die Relevanz von Ehe und Familie anbelangt. Spiegelt sich das auch politisch wider und könnte das eines Tages zu Allianzen über die Religionsgrenzen hinweg führen?

Es sollte. Klassischerweise ist es noch so, dass Einwanderer, auch aus Ländern mit muslimischer Mehrheit, die SPD wählen oder auch die Grünen. Aber gerade die Punkte, die Sie genannt haben: Familienwerte, oder was Religion selbst angeht, was Tradition angeht, auch Fragen der Sexualität, damit sind solche Einwanderer eigentlich ideale Koalitionspartner für konservative Positionen.

Bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl Ende Februar wählten Moslems am häufigsten CDU.

Ja, und das sollten sie auch tun. Das kann man auch noch auf ganz andere Entwicklungen, über die wir vorhin gesprochen haben – ich sage mal absichtlich: linksbizarre Auswüchse –, beziehen. Da muss ich sagen: Da sind unsere migrantischen Mitbürger ja ein hochwillkommenes Korrektiv. Da würde ich mir in Zukunft in der Tat mehr Zusammenarbeit wünschen.

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