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Emotionale Gewalt gegen Kinder

Wunden, die en passant entstehen

Ein Mädchen weint. Seine Puppe ist in einer riesigen Pfütze gelandet. „Nicht so schlimm“, sagt die Mutter und lenkt die Tochter schnell ab, indem sie ihr einen Keks zusteckt. Ein gängiger Versuch, um zu trösten.

Was die Mutter dabei ignoriert: Dass es für ihr Kind sehr wohl schlimm ist, wenn die geliebte Puppe dreckig wird. Kinder schauen nun mal aus ihrer und nicht aus Erwachsenenperspektive auf das Leben und haben andere Parameter, nach denen sie Erlebnisse einordnen. Und sie haben jedes Recht dazu, darin wahrgenommen zu werden. Mit jedem Beschwichtigungsversuch, mit jedem „Nicht so schlimm“ übergehen Eltern die tatsächlichen Gefühle ihres Kindes, das sich in der Folge nicht ernst genommen fühlt. Und das tut weh.

Das Beispiel ist ein alltägliches, und bewusst gewählt, um zu zeigen, dass emotionale Gewalt oft en passant geschieht. In vielen Fällen sind sich Eltern also überhaupt nicht bewusst, dass sie ihrem Kind Schmerz zufügen. Sich angesichts dessen zu geißeln und in schlechtes Gewissen zu flüchten, mag eine verständliche Reaktion sein, dennoch sollten Eltern sich zugestehen, dass sie nun mal Menschen sind und sich zwischenmenschliche Blessuren nie völlig vermeiden lassen.

Emotionale Gewalt zu ignorieren, ist keine Option

Trotzdem tut not, ein gesteigertes Bewusstsein für emotionale Gewalt zu entwickeln, gerade weil sie sehr verbreitet ist und zugleich viel subtiler vonstatten geht, daher oft unbemerkt bleibt. Immer noch ist die Gesellschaft viel zu wenig dafür sensibilisiert; im Gegensatz zur wesentlich offenkundigeren physischen Gewalt. Auch sexuelle Gewalt bleibt als Thema im Blick und in der Debatte.

Emotionale Gewalt zu ignorieren, ist keine Option. „Kinder erleben verbale Attacken genauso bedrohlich wie körperliche Gewalt“, verdeutlicht Anke Elisabeth Ballmann in ihrem Buch „Worte wie Pfeile. Über emotionale Gewalt an unseren Kindern und wie wir sie verhindern“ (Kösel-Verlag 2022). Werden Kinder angeschrien, beschämt oder erpresst, sei das als „Angriff“ zu werten. „Sie erleben eine gefährliche und bedrohliche Situation, aus der sie nicht entfliehen können: Das kann traumatisieren.“

Die Erziehungswissenschaftlerin verweist zudem auf Studien von Martin Teicher von der Harvard Medical School, wonach der Hippocampus bei Heranwachsenden und Erwachsenen, die als Kinder immer wieder Stress durch emotionale Gewalt ausgesetzt waren, kleiner ist im Vergleich zu den Menschen, die keine Gewalterfahrungen gemacht haben. „Die Ursache für den zu kleinen Hippocampus liegt vermutlich in der hormonellen Stressverarbeitung, die vor allem bei Kindern unter fünf Jahren störungsanfällig ist.“

Die Bandbreite der Gewalt ist groß, von Verspotten bis getarnte Manipulation

Nun ist nicht angebracht, darüber zu spekulieren, ob diese oder jene Gewalt schädlicher ist. Fest steht: Gegen Kinder ausgeübte Gewalt hat schlimme und weitreichende Folgen für deren Persönlichkeitsentwicklung; nicht selten leiden sie noch als Erwachsene darunter. So kann sich bei emotionaler Gewalt unter anderem das Gefühl manifestieren, nicht gut genug zu sein. Man zweifelt an sich selbst und an anderen und kann sich nur schwer auf Beziehungen einlassen. Denn: Bei emotionaler Gewalt findet das missbräuchliche Verhalten auf der zwischenmenschlichen Gefühlsebene statt.

Dass es so schwer zu greifen ist, liegt in der Natur der Sache und auch, dass man deshalb versucht ist, es zu bagatellisieren oder daran vorbeizusehen. Dabei ist die Bandbreite groß. Dass es Kinder verletzt, wenn sie entwertet, ignoriert, verängstigt, beschämt oder verspottet werden, ist viel offensichtlicher als andere Formen der emotionalen Gewalt wie etwa die von Helikopter-Eltern ausgeübte permanente Kontrolle oder das Verhalten von sogenannten Rasenmäher-Eltern, die ihrem Kind nicht zutrauen, selbst mit Beschwernissen umgehen zu können, sondern alles, was ihm schaden könnte, aus dem Weg räumen. Dort wie da wird dem Kind genommen, Eigenverantwortung, Selbstbewusstsein und innere Stärke zu entwickeln.

Auch anderswo lauern gut getarnte Tücken. Kindern einen Freiraum zugestehen, wer kann dagegen schon etwas sagen? Slavoj Žižek kann. Der slowenische Philosoph misstraut der liberalen Demokratie, da sie seiner Ansicht nach nur simuliert werde und findet dafür auch Beispiele in der Eltern-Kind-Beziehung. Ordneten früher autoritäre Eltern dem Kind beispielsweise an: „Wir fahren zur Oma, keine Diskussion“, werde heutzutage emotional unter Druck gesetzt: „Du musst nicht zur Oma mitfahren, wenn du nicht willst, aber dann wären wir alle sehr, sehr traurig.“

Hinter der vermeintlichen Freiheit stecke laut Žižek also eine erzwungene Wahl; hinter der Maske der freigiebigen Eltern eine hochmanipulative Fratze. Ohnehin ist Manipulation die wohl effektivste Strategie, um einen anderen dazu zu bringen, das zu tun, was man will. Dass es nach außen hin gewaltfrei wirkt, macht es nur noch perfider.

Eltern sensibilisieren für die vielfältigen Mechanismen der Gewalt

Emotional besonders belastend ist es für ein Kind, wenn es zu einer Rollenumkehr kommt, fachlich Parentifizierung genannt. Eltern umsorgen dann nicht das Kind, sondern wollen umgekehrt vom Kind umsorgt werden. Diese Gefahr besteht besonders, wenn es zwischen Eltern partnerschaftliche Probleme gibt. Für die Mutter kann der Sohn zum Partnerersatz werden, für den Vater die Tochter zu seiner Vertrauten.

Kommt es zur Trennung oder Scheidung, wird das Kind in emotionale Konflikte zwischen den Eltern hineingezogen und soll unter anderem Streit schlichten oder eindeutig Stellung beziehen. Doch eben das ist nicht seine Aufgabe. Es muss sich nicht mit Problemen von Erwachsenen beschäftigen, schon gar nicht muss es die Gefühlswelt der eigenen Eltern moderieren und managen. Die ihm dadurch zugemuteten Grenzüberschreitungen schlagen tiefe Wunden.

Da jedes Kind unterschiedlich ist und auch dessen familiäres Beziehungsgeflecht, kann natürlich nicht eindeutig vorhergesagt werden, welche Folgen bei welcher Form von emotionaler Gewalt drohen. Entscheidend ist, dass man sich als Eltern dazu befähigt, für die entsprechenden Mechanismen sensibler zu werden – und so emotionaler Gewalt vorzubeugen oder sie mindestens zu minimieren.

Aufrichtige Entschuldigungen können wie Balsam für die Seele sein

Nochmal: Niemand erwartet von Eltern, dass sie perfekt sind. Aber es wäre fahrlässig, im Umgang mit Kindern einfach auf Autopilot zu schalten. Kinder brauchen bewusste Erwachsene, die bereit sind, sich selbst zu reflektieren und festgefahrene Verhaltensmuster zu erkennen, die mitunter bereits in der eigenen Kindheit gelegt wurden. Auch akute Überforderung oder Belastungssituationen können ein Klima begünstigen, das emotionale Gewalt befördert.

Eine Verletzung ist nicht mehr rückgängig zu machen. Aber es hilft, wenn Erwachsene dem Kind vermitteln, dass sie wissen, einen Fehler begangen zu haben. Mit ihrer Bewusstheit drücken sie dem Kind gegenüber ihren Respekt aus. Auch Entschuldigungen können wie Balsam sein, sofern sie von Herzen kommen.

„Gelegentliche Ausraster lassen sich ganz sicher wiedergutmachen, indem man sich beim Kind entschuldigt“, erklärt Anke Elisabeth Ballmann. „Ganz egal, wie alt das Kind ist; wenn es spürt, dass durch das harsche Verhalten des Erwachsenen die Beziehung gerade abgebrochen wurde, spürt es auch, dass sie durch eine liebevolle und ernstgemeinte Entschuldigung wieder verbunden wird.“

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