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Zum 100. Geburtstag des Pfarrers Hans Milch

Ein eigenwilliger Nichtangepasster

Es ist ein verstörendes Stück der Band Von Thronstahl. Vor dem Hintergrund eines synthetischen, erregt pulsierenden Technogewitters ertönt eine Männerstimme. Und was für eine Stimme! Mit Urgewalt und schneidender Schärfe ruft sie: 

„Überall, wo eine Menschenseele sich aalt und wohlfühlt im Nebeneinander und Miteinander, umgeben von rechts und von links, eingelullt und eingehüllt in die Masse, da wird in ihr langsam ein Hass wach; ein Hass gegen alles Große, Edle, Erhabene und Schöne – und eine ungeheure Liebe zum Gewöhnlichen, Flachen und Banalen.“

Es folgt eine Art Refrain. Dreimal intoniert die Stimme: „Das Gottmenschentum“. Darauf die Antwort, gebrüllt von einem Sprechchor: „Wider die Masse!“

Die Stimme ist die von Pfarrer Hans Milch. Seines 100. Geburtstags am 17. März 2024 gedenken Katholiken und Nichtkatholiken. 1987 als Opfer eines Mordes aus dem Leben geschieden, trägt er keinerlei Verantwortung für Von Thronstahls Verwertung seiner Predigten. Hätte er selbst die Wahl gehabt, wäre als musikalischer Hintergrund eher der „Karfreitagszauber“ aus Wagners Parsifal oder Bruckners Achte zu hören gewesen. 

Unter diesen Klängen hat er zuweilen die heilige Messe zelebriert – zum Befremden mancher seiner Anhänger. Pfarrer Milch war zwar das, was man irreführend einen „Traditionalisten“ nennt. Aber er war es auf seine ganz eigene Weise. Auch unter Antimodernisten und Konzilsgegnern wollte er sich nicht „im Nebeneinander und Miteinander aalen“. So stellte er sich oft quer, setzte markante Zeichen eigenwilliger Nichtangepasstheit.

Großes Pathos, radikale Positionierung und durchgeistigte Tiefe

Schon die Konversion zum Katholizismus war ein solches. Der Sohn einer protestantischen Wiesbadener Notarsfamilie lernte in amerikanischer Kriegsgefangenschaft 1945/46 einen katholischen Priester kennen. In langen Gesprächen tat sich dem Zwanzigjährigen die katholische Wahrheit auf. In ihrer Unabhängigkeit vom subjektiven Meinen und Fühlen, in ihrer bindenden und bannenden Unbedingtheit erfasste und überwältigte sie ihn. Ebenso begeisterte ihn die Kirche, die Künderin dieser Wahrheit, die vom Tribunal des Geistes aus alles beurteilt, ohne selbst beurteilt zu werden. Milch trat ihr bei, weil die Kirche ihn nicht brauchte, er aber sie.

Sein Weg führte über die Studien an der Frankfurter Jesuitenhochschule St. Georgen zur Priesterweihe 1953 im Limburger Dom und in die priesterliche Tätigkeit. 1962 wurde er Pfarrer in Hattersheim am Main. Er war als Prediger bekannt, der die Glaubenswahrheiten auf sehr eigenständige Weise vortrug. Aufgrund seiner Abneigung gegen Engstirnigkeit und Moralismus eilte ihm eher der Ruf eines aufgeschlossenen als eines strikt konservativen Kirchenmannes voraus. Bis ein Ereignis stattfand, das seine Position neu bestimmte: das Zweite Vatikanische Konzil.

Schon bald gelangte Pfarrer Milch zu einer negativen Beurteilung nicht nur der nachkonziliaren Entwicklung, sondern des Konzils selbst. Von der „Bewegung für Papst und Kirche“, der er seit 1969 angehört hatte, wandte er sich ab und gründete 1972 die Gebets- und Sühnegemeinschaft „Actio spes unica (Aktion einzige Hoffnung), die bis heute sein Erbe weiterträgt. 

Vorschau Pfarrer Hans Milch (r.) mit dem später suspendierten und exkommunizierten Erzbischof Marcel Lefebvre
Pfarrer Hans Milch mit dem später suspendierten und exkommunizierten Erzbischof Marcel Lefebvre (l.), Gründer der Priesterbruderschaft St. Pius X.

Großveranstaltungen in Wiesbaden (1977) und Koblenz (1978) machten ihn einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Seine Kritik an den Zuständen und deren Ursachen verschärfte sich zusehends. Bald prangerte er das „Gebaren“ von Papst und Bischöfen an, sprach von ihnen als von Feinden, die „den offiziellen Innenraum der Kirche besetzt halten“. In dem 1976 suspendierten Erzbischof Marcel Lefebvre hingegen erblickte er das „befreiende Dennoch“, „Kern und Garantie katholischer Kontinuität“, den „Fels in der Brandung“. Fazit: „WIR SIND IHM VERSCHWOREN!“ (Pfarrer Milch liebte die Hervorhebung durch Majuskeln, Sperrdruck und Ausrufezeichen.)

1979 erfolgte die Suspendierung durch den Limburger Oberhirten Wilhelm Kempf. Pfarrer Milch begab sich ins „heilige Abseits“. Wenige hundert Meter entfernt von seiner früheren Pfarrkirche St. Martin erbaute er die St.-Athanasius-Kapelle, finanziert aus Spendengeldern. Dort habe ich ihn im Februar 1984 zum ersten Mal erlebt. Mit ausladenden Gesten zelebrierte er die heiligen Geheimnisse. Die dreißigminütige Predigt hielt er von einer kleinen Kanzel aus. 

Großes, doch unsentimentales Pathos, radikale Positionierung und durchgeistigte Tiefe fanden darin zusammen – eine Verbindung, die ihre Wirkung auf begeisterungsfähige, abenteuerliche Herzen nicht verfehlte.

Seine Ausdrücke blieben im Gedächtnis hängen

Neben seiner machtvollen und nuancenreichen Stimme trug seine eigenwillige Sprache zur Ausstrahlung Pfarrer Milchs bei. Viele seiner Ausdrücke und Formulierungen blieben im Gedächtnis haften: das „Gottmenschentum“ (im Anschluss an den von ihm hochverehrten russischen Philosophen Wladimir Solowjow); die Rede vom „Opfermysterium“, das, „dem flachen Alltag entrückt“, zu feiern sei im „schoßhaften Dunkel des Heiligtums“.

Er sprach von der Beschwörung von „Schicksal, Schickung und Geschick“, von „heiligem Eros“ und „unendlichem Erbarmen“; von der Betonung des „Je-Einzelnen“, ja der „Thronerhebung des Einzelnen“ (im Gegenzug zum vorherrschenden „Kollektivismus“); auch das oft erwähnte „Du-zu-Du“ und zuweilen der Appell an „Dein Deinstes“ blieb hängen.

Die Sprache des Johannesevangeliums scheint sich bei Pfarrer Milch mit dem Tonfall von Nietzsches Zarathustra und der Dichtung Stefan Georges verbunden zu haben, angereichert mit Elementen aus Rudolf Steiners Anthroposophie und der Mysterienterminologie Odo Casels sowie mit manchen Wortgebilden im Stil Martin Heideggers.

Seine Polemik gegen den Papst ging ins Maßlose

Prophetische Künder sind für gewöhnlich keine fein abwägenden Theologen. Dementsprechend neigte Pfarrer Milch zur Einseitig- und Eigenwilligkeit. Zumindest in der öffentlichen Rede fielen seine Urteile apodiktisch und unausgeglichen aus. So prangerte er nicht nur eine falsche Vergemeinschaftlichung an, sondern leugnete grundsätzlich den gemeinschaftlichen Charakter der Kirche. 

Vor der „Konzilskirche“ sah er ein „großes Minuszeichen“, weshalb alles „angeblich Positive“ die Lage nur noch schlimmer mache. Seine Polemik namentlich gegen Papst Johannes Paul II. und den damaligen Glaubenspräfekten Joseph Ratzinger ging ins Maßlose. Auch mit der Priesterbruderschaft St. Pius X. kam es durch die „Lenkung und Leitung“ eines geheimen „Einweihungskreises“, zu dem ohne Wissen ihrer Oberen auch Seminaristen gehörten, kurz vor Pfarrer Milchs fürchterlichem Tod fast zum Zerwürfnis.

Dieser Tod gemahnt nochmals an die Herzensweite des Priesters. Zeitlebens war er den Armen und Ausgestoßenen besonders zugetan. Oft bewegte er sich unter Obdachlosen, unter verkrachten und zweifelhaften Existenzen. Dadurch kam auch die Bekanntschaft mit seinem Mörder, dem geisteskranken Luigi Zito, zustande.

Eine Erinnerung an das „heilige Abseits“

Der Pfarrer hatte ihn in seiner Wohnung empfangen, ihm ein Bad eingelassen, für ihn gekocht. Am darauffolgenden Tag wurde die Leiche gefunden, mit einem Holzpfahl durchbohrt und durch zahlreiche Messerstiche schrecklich zugerichtet. Der Mörder hat sich wenig später im Gefängnis erhängt. 

Auf Pfarrer Milchs Grabstein aber ist zu lesen: „Ephesus“. Es ist dies eine Erinnerung an das „heilige Abseits“, in dem sein Namenspatron, der Apostel Johannes, mit Maria lebte, fernab von der Menschenmasse, den Blick gerichtet auf das Gottmenschentum.

 

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Kommentare

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Kommentar
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Andreas Graf
Vor 1 Monat 1 Woche

Wer Jesus Christus die Treue halten möchte, der gerät leicht ins "heilige Abseits". In der Konzilskirche ist das der neue Normalzustand, in der die Traditionalisten wie die Pest gemieden werden. Welche Worte hätte Pfarrer Milch wohl dem Bergoglio mit seiner Pachamama entgegen geschleudert? Was hätte Pfarrer Milch wohl zum neuen satanischen Fastentuch und Kunstprojekt im Wiener Stephansdom gesagt? Gut, dass er das nicht mehr erleben musste. Die Zustände haben sich seit seiner Zeit dramatisch verschlechtert.

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Veritas
Vor 1 Monat 1 Woche

Verehrter P. Deneke, das ist ein überaus gelungener Beitrag. Man spürt in jeder Zeile, daß da einer schreibt, der sich auskennt. Vielen Dank für diesen den Sonntag versüßenden Artikel.

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Nepomuk
Vor 1 Monat 1 Woche

Das ist ein allerdings sehr aufschlußreicher Kommentar. Danke dafür!

Es heißt aber *auch*: Der fragliche Pfarrer - req. aet. &c. - war im Leben einer, dem man, und zwar nicht aus Unglauben, sondern gerade um des wahren Glaubens willen, nicht aus Antitraditionalität, sondern gerade wenn und weil man selber Tradi ist, mehr nur von der Weite nähert. Dann kann man ihn sicherlich auch faszinierend finden - was man, genaugenommen, ja auch Martin Luther kann. In der Tat, Pfarrer Milch soll einmal über Luther gesagt zu haben "er hatte eine kranke Art, gesund zu sein, und eine gesunde Art, krank zu sein"; und gerade das scheint mir auch eine gute Beschreibung von ihm selbst zu sein.

Wenn er zum Beispiel sagt: "Überall, wo eine Menschenseele sich aalt und wohlfühlt im Nebeneinander und Miteinander, umgeben von rechts und von links, eingelullt und eingehüllt in die Masse, da wird in ihr langsam ein Hass wach; ein Hass gegen alles Große, Edle, Erhabene und Schöne". - "Überall" heißt "immer ohne Ausnahme". Das ist mithin eine ziemlich sicher falsche Aussage (der Trick ist, solche "Überalls" einfach durch "sehr oft" und "besteht die große Gefahr, daß" zu ersetzen, dann ist man auf der sicheren Seite), und kann man denn mit falschen Aussagen der ewigen Wahrheit dienen? Zumal die uns ja befohlen hat, den Nächsten zu lieben, und eben nicht "aber nur dann, wenn er gerade vereinzelt abseits aller anderen steht" dazugesagt; und der zwar nicht garantierte, aber *normale* Zustand von Liebe ist eben schon auch, daß man dabei ein Liebesgefühl hat (oder über kurz oder lang bekommt). Die Gnade ist keine Feindin der Natur, sondern ihre Vervollkommnung.

Und Fehler werden auch dadurch nicht zu Nichtfehlern, daß man mit einer gewissen Plausibilität vermuten könnte, Thomas von Kempen hätte den gleichen Fehler gemacht.

Prophetisches Künden ist ja schön und gut, und ich will sogar zugestehen, daß so jemand dann auch und vielleicht eher Fehler macht (ohne daß er dazu dann berechtigt wäre). Aber tatsächlich Positives als "angeblich positiv" für "noch schlimmer" erklären (ich nehme an: weil es den gewaltsamen oder geistlich-gewaltsamen Umsturz hinauszögert), das ist dann schon ein Problem von noch grundsätzlicherer Art.

(Und was kann ein katholischer Priester Positives aus Steiners Anthroposophie ziehen? - Aber gut, vielleicht gibt es da ja etwas, und ich kenne mich nur nicht aus.)

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J. E. Mach
Vor 1 Monat 1 Woche

In der heutigen Zeit müssen wir uns immer wieder trotz unserer Schwächen und Sünden bemühen, ganz weit ins heilige Abseits zu geraten. Jesus gibt uns Zeugnis! Er war der Fels in der Wüste! Er widerstand im Fasten den satanischen Verlockungen als Hoher Priester und Mensch. Den Geschundenen müssen wir immer wieder in unsere Arme nehmen. Nur in Ihm und mit Ihm fühlen wir uns glücklich.

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Veritas
Vor 1 Monat 1 Woche

Verehrter P. Deneke, das ist ein überaus gelungener Beitrag. Man spürt in jeder Zeile, daß da einer schreibt, der sich auskennt. Vielen Dank für diesen den Sonntag versüßenden Artikel.

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Andreas Graf
Vor 1 Monat 1 Woche

Wer Jesus Christus die Treue halten möchte, der gerät leicht ins "heilige Abseits". In der Konzilskirche ist das der neue Normalzustand, in der die Traditionalisten wie die Pest gemieden werden. Welche Worte hätte Pfarrer Milch wohl dem Bergoglio mit seiner Pachamama entgegen geschleudert? Was hätte Pfarrer Milch wohl zum neuen satanischen Fastentuch und Kunstprojekt im Wiener Stephansdom gesagt? Gut, dass er das nicht mehr erleben musste. Die Zustände haben sich seit seiner Zeit dramatisch verschlechtert.