Direkt zum Inhalt
Kann man heute noch Kinder bekommen?

Mach’s doch einfach!

Neulich mal so. Anabel Schunke, spitzzüngige Publizistin, legt auf X wortreich dar, warum sie keine Kinder bekommen will. Die fehlende Beständigkeit von Beziehungen. Der Wertenihilismus. Die schlechte Vereinbarkeit von Arbeit und Familie. Steuer- und Abgabenlast, hohe Lebenshaltungskosten für die Mittelschicht. Die islamische Invasion. Zuletzt: Die hohen Ansprüche heutiger Frauen. „So und all das sorgt eben in der Summe dafür, dass Frauen wie ich sagen: Nö. Dann nicht.“

Schunke sagt: Die Geburtenrate steht und fällt mit den Frauen. Männer dagegen kriegen von ihr verbal ordentlich was an die Rübe. Dabei waren ihre Kerle nicht die schlechtesten, denn sie schreibt selbst: „Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass quasi jeder meiner Partner dem Thema Kinder immer sehr offen gegenüberstand.“

Nach 5.000 Anschlägen bleibt als Quintessenz übrig: „Hätte ich gewollt, könnte ich längst Kinder haben.“

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. 

Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Leben oder gelebt werden?

Da ist er wieder: der fehlende Wille. Und, schrecklich unmodern, so zu reden: fehlende Opferbereitschaft. Schunkes Wust von Argumenten, warum sie sich nicht fortpflanzen will, sind für sich gesehen schon auch nachvollziehbar. Gerade was die Qualität heutiger Beziehungen anbelangt. Aber bin ich (nur) das Produkt der jeweiligen Zeitumstände und ihnen ausgeliefert? Oder handle ich mit einem vertrauenden Trotzdem? Verharre ich oder wachse ich über mich hinaus?

„All Leben will Widerstand.
All Licht will Trübe.
All Wehen will Stamm und Wand,
dass es sich daran übe.“

dichtete Christian Morgenstern. Hans Scholl schrieb an die Wand seiner Todeszelle das Goethe-Wort: Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten. Und Christoph Probst wurde mitten im Krieg zum dritten Mal Vater.

Wenn ich weiß, dass morgen die Welt untergeht, habe ich zwei Möglichkeiten: Ich kann mich betrinken und gegen Abend mein eigenes Grab ausheben. Oder ich kann einen Baum pflanzen und das Magnificat anstimmen.

Mutter, Vater, zwei Kinder, ein Wohnheim

Schnitt. Eine Erinnerung aus der Studentenzeit. Besuch im belarussischen Minsk. Ende der Neunziger. Eine Familie hat uns abends eingeladen. Ein vielstöckiges Wohnheim am Stadtrand, Bus-Endstation, dahinter schon Wald. Von Neonlicht steril erleuchtete Korridore. Hinter einer Tür ihr Apartment: zwei nebeneinanderliegende, schmale Zimmer. Ein winziger Eingangsbereich. Hier leben Krankenschwester Larissa und ihr Mann Sergej mit ihren zwei kleinen Kindern. Toiletten und Duschen für alle nur über den Flur.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. 

Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Ebenso über den Flur die kahle Gemeinschaftsküche. Hier hat Larissa nach der Arbeit ein Festmahl für uns hingezaubert. Keine Fertiggerichte, die nur in den Ofen geschoben werden. Sie hackt Mohrrüben, bereitet Fleischklopse, Kartoffeln und Kascha, also Buchweizengrütze, selbst zu.

› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge

Die Tafel biegt sich vor Schüsseln mit landestypisch Herzhaftem. Wodka mit Gurken und Speck, später Pralinen. Die Kinder umlagern uns Gäste, bringen ihr Spielzeug aus dem Kinderzimmer ins Zimmer der Eltern, in welchem Larissa und Sergej, vielleicht so an die dreißig, wohnen und schlafen und die Familie gemeinsam isst. Das Mädchen zeigt auf einem Keyboard, wie sie Klavier spielen kann. Hochzeitsfotos gehen rum, wo Larissa und Sergej in der Kirche stehen, Trauzeugen halten Kronen über ihre Häupter. Gänsehaut.

Larissa: aufgeweckt, gesprächig, der Mann ernst, aber nicht unfroh. Wir deutschen Studenten mit Westgeld im Portemonnaie sitzen irgendwie betreten da, weil die Armut nicht zu übersehen ist und wir doch wie Könige bewirtet werden.

Innere Widerstände, stärker als die Mauer

Was würde jetzt Anabel Schunke zu dieser Situation sagen? Kinder gehen, denn in Belarus gibt’s ja keine Islamisierung? – Gegen die inneren Widerstände, die ein Mensch turmhoch aufstapelt und sich daran festkrallt, bestand die Berliner Mauer ja geradezu aus Spinnweben.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel ergänzt und von der Redaktion empfohlen wird. 

Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Sergej und Larissa und Larissa ganz besonders hätten ein gerüttelt Maß an Argumenten gehabt, die samt und sonders gegen Kinder sprechen. Das miese Gehalt. Die katastrophale Wohnsituation. Fehlende Perspektiven. Der endlose Arbeitsweg im rappelvollen Ikarus. Die Mühe mit den Kindern trotz Kita. Die familiäre Hauptlast, die an Larissa hängt. Der Nachwuchs als beruflicher Hemmschuh. Inflation. Lukaschenka-Diktatur. Und so weiter und so fort. Ungünstige Lebensumstände, wie sie damals die meisten belarussischen Familien betrafen.

Junger Mann und junge Frau rauchen vor einer Kneipe in der Minsker Innenstadt: Beginnt da eine Familiengeschichte?

Die geheimnisvolle Substanz

Bauen Sie Ihren Schwierigkeiten keine Altäre, raten weise Menschen. Wo ein Wille ist, ist ein Weg. Nur Mut und Beharrlichkeit! Der Glaube versetzt Berge!

Es gibt eine geheimnisvolle, leicht flüchtige Substanz, die mit keinem Geld der Welt zu kaufen ist, auf die man gut achtgeben muss und die Mauern zerbricht. Sergej und Larissa haben ihre Liebe fruchtbar werden lassen und den Kontras keine Beachtung geschenkt. Während andere ihre Zeit damit ausfüllen, bei X zu erklären, warum etwas nicht geht, sehen Eltern ihre Kinder aufwachsen. Ist auch mit keinem Gold aufzuwiegen. Die Widrigkeiten zu Beginn des Familienabenteuers, wie sie die meisten Paare erfahren, werden vorübergehen. Das Schöne bleibt. Oder, um es mit Puschkin zu sagen: „Alles, alles geht vorbei / Ist’s vergangen, wirst du’s lieben.“

› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?

42
4

5
Kommentare

Kommentare