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Kolumne „Der Philosoph“

Ich ist ein anderer

Was macht ein Kolumnist, wenn ihm nichts einfällt, worüber er schreiben könnte? In meinem Fall, in dem es ja um Philosophisches gehen soll, liegt die Lösung auf der Hand: Ich mache aus der Not eine Tugend und denke einfach darüber nach, woher eigentlich unsere Gedanken kommen (oder eben auch nicht) und was es überhaupt heißt, einen Gedanken zu haben.

Wenn man den Aussagen mancher Neurowissenschaftler Glauben schenkt, lautet die Antwort auf diese Fragen: „Denken ist Hirnaktivität und Gedanken sind nichts anderes als neuronale Prozesse.“ Derart vollmundige Behauptungen sind aber unhaltbar. Denn sie verwechseln eine materielle Voraussetzung des Denkens mit dem Denken selbst. Sicherlich brauchen wir ein Gehirn, um denken zu können. Daraus aber folgt nicht, dass neuronale Vorgänge mit denkerischen gleichzusetzen sind. Denn Gedanken besitzen bestimmte Eigenschaften, die neuronale Zustände prinzipiell nicht haben.

Erstere handeln von etwas oder beziehen sich auf etwas: Sie haben einen Inhalt. Außerdem stehen sie in logischen Beziehungen zueinander: Sie können konsistent oder widersprüchlich, wahr oder falsch sein und sich zu logischen Schlussfolgerungen verbinden. All das lässt sich von Hirnzuständen nicht sagen. Diese haben keinen Bezug oder Inhalt. Auch stehen sie untereinander nicht in logischen Verhältnissen, sondern höchstens in solchen von Ursache und Wirkung.

Wir herrschen nicht absolut über unsere Gedanken

Darüber hinaus lässt sich nicht einmal behaupten, dass wir mit unserem Gehirn denken, so wie wir etwa mit unseren Augen sehen. Es spricht überhaupt nichts dagegen zu sagen, dass wir unseren Blick wandern lassen, indem wir unsere Augen bewegen. Dagegen ist es nicht zutreffend, ja sogar sinnlos, zu behaupten, dass wir unseren Geist auf etwas richten, indem wir unser Gehirn auf eine bestimmte Weise benutzen. Anders als bei unseren Augen haben wir auf unser Gehirn nämlich keinen instrumentellen Zugriff.

Nun könnte man als Reaktion auf das Scheitern des neuronalen Materialismus, das Denken zu erklären, in ein anderes Extrem verfallen und meinen, dass wir die alleinige Produktions- und Verfügungsgewalt über unsere Gedanken haben. Die Gedanken sind schließlich frei, wie es im Lied heißt – und diese Freiheit scheint die ganz eigene, unveräußerliche Freiheit eines jeden individuellen Denkers zu sein.

Gerade das Phänomen der Einfallslosigkeit beweist allerdings, dass wir nicht die absolute Herrschaft über unsere Gedanken haben. Selbstverständlich kann man bestimmte Dinge tun, um die eigene Kreativität zu fördern, aber letztlich zeigt schon das Wort „Einfall“ selbst, dass eine Idee gewissermaßen von außen kommt, in unseren Geist ein-fällt.

Wir sind verantwortlich, wie wir mit unseren Gedanken umgehen

Der französische Dichter Arthur Rimbaud hat diesem Umstand in der berühmten Wendung „Ich ist ein anderer“ Ausdruck verliehen. Mit Blick auf den künstlerischen Entstehungsprozess heißt es bei ihm weiter: „Ich wohne dem Ausschlüpfen meines Denkens bei: Ich betrachte es, ich lausche ihm: Ich vollführe einen Bogenstrich: die Symphonie erzeugt ihren Aufruhr in den Tiefen oder stürmt mit einem Satz auf die Bühne.“

Was Rimbaud hier beschreibt, trifft aber nicht nur auf die Arbeit des Dichters, sondern auf das Denken im Allgemeinen zu: Wir schöpfen unsere Gedanken nicht gottgleich aus dem Nichts. Vielmehr sind wir eher so etwas wie die Geburtshelfer unseres eigenen Denkens.

Der Hebammendienst, auch der geistige, ist freilich eine verantwortungsvolle Aufgabe – und das sollte man ganz wörtlich verstehen: Wir stehen in der Verantwortung, wie wir mit unseren Einfällen, Geistesblitzen, aber auch mit unserer Einfallslosigkeit umgehen. Allerdings gibt es eben Dinge, die unsere geistige Bühne betreten, ohne dass wir etwas dafür könnten. Versuchen Sie beispielsweise einmal, nicht an einen rosa Elefanten zu denken! Je mehr Sie sich bemühen, dieser Aufforderung nicht Folge zu leisten, umso eher werden Sie einen rosa Elefanten vor Ihrem inneren Auge sehen.

Erst durch Zustimmung machen wir sie uns zu eigen

Dieser psychische Mechanismus greift übrigens insbesondere bei solchen Vorstellungen, die eine heftige innere Abscheu erregen und kann sich sogar zur Krankheit entwickeln. Menschen, die unter Zwangsgedanken leiden, kommen nicht davon los, gerade an solche Dinge zu denken, die sie moralisch anwidern. Die Betroffenen bekommen ihr Leiden erst dann in den Griff, wenn sie verstehen, dass sie eben nicht der Urheber ihrer Gedanken sind.

Genau genommen handelt es sich gar nicht um ihre Gedanken, solange sie sich diese nicht zu eigen gemacht und ihnen auf innerliche oder äußerliche Weise Zustimmung verliehen haben. Daher gibt es auch gar keine Notwendigkeit, sich gegen solche gedanklichen Eindringlinge zu wehren; sie sind schlicht nicht bedeutsam genug.

Was Gedanken zu unseren Gedanken macht, ist also nicht, dass sie in unserem Bewusstsein auftauchen, sondern die Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen: Nehmen wir sie ernst, prüfen wir sie kritisch, behaupten wir sie als wahr oder versuchen wir, sie in die Tat umzusetzen? All das unterliegt unserer Kontrolle und macht daher den eigentlichen Kern unseres Denkens aus.

Aus der Einsicht, dass wir für unsere Einfälle nur sehr bedingt etwas können, lässt sich abschließend auch eine praktische Konsequenz ziehen: Auf gute Einfälle sollten wir uns nichts einbilden und demütig bleiben; bei schlechten Gedanken und Einfallslosigkeit hingegen sollten wir uns in Gelassenheit üben. Erzwingen lassen sich zündende Ideen ohnehin nicht.

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