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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Rotierende Europäer

Wir schreiben die 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Vietnamkrieg tobte, die Studenten randalierten, und wenn sie dazwischen noch Zeit fanden, feierten sie die sexuelle Befreiung. Die Flowerpower-Bewegung entstand, die Mondrakete landete, Che Guevara wurde erschossen. Es war ein bewegtes Jahrzehnt.

In diese Zeit hat der Schweizer Autor Alain Claude Sulzer seinen jüngsten Roman verlegt. Die Geschichte führt durch die Stadt Bochum in den 1960- und 70er-Jahren. Das Buch ist noch in der Entstehung, sorgt aber bereits für Gesprächsstoff. „Genienovelle“ lautet der Arbeitstitel.

Abschließend beurteilen kann man das Werk also noch nicht. In dieser frühen Phase musste das allerdings der „Fachausschuss Literatur“ der beiden Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft tun. Sulzer bewarb sich um einen Förderungsbeitrag. Ein durchaus übliches Vorgehen. Vom Verkauf von Büchern kann man in der Schweiz ja kaum leben.

Geld wird es allerdings keines geben. Denn der Autor hätte dafür gewaltig über seinen eigenen Schatten springen müssen. Das Expertengremium forderte von ihm, den Einsatz eines bestimmten Worts im Manuskript zu begründen. Alain Claude Sulzer weigerte sich. Vielleicht wäre er im Rennen um einen finanziellen Beitrag geblieben, wenn er ein umfangreiches begleitendes Papier eingereicht hätte. Oder einfach auf das bewusste Wort verzichtet. Das wollte er beides nicht tun. Gottlob.

Politisch korrekt, historisch falsch

Das strittige Wort lautet „Zigeuner“. Es ist ein Unwort. Er hätte „Sinti und Roma“ verwenden müssen. Auf diese Bezeichnung hat man sich in den 80er-Jahren geeinigt, wenn es um Fahrende in Mitteleuropa geht. Oder, um noch eine Spur braver zu sein: „Rotationseuropäer“. Was klingt wie eine satirische Überzeichnung, ist in der Tat seit einigen Jahren die politisch korrekte Bezeichnung für diese Minderheit. Es ist übrigens nicht anzunehmen, dass sich die Betreffenden selbst so nennen.

Aber Sulzer hatte beim Schreiben ein Problem. In der Zeit, in der sein Roman spielt, wusste kein Mensch, was „Sinti und Roma“ sein sollen, geschweige denn „Rotationseuropäer“. Würden seine Figuren solche Begriffe verwenden, könnten die Sprachhüter des 21. Jahrhunderts zwar aufatmen, aber der Autor hätte sein Werk verfälscht. Es wäre aus heutiger Sicht sprachlich korrekt und gleichzeitig historisch falsch.

Das hätte auch dem besagten Fachausschuss auffallen können oder gar müssen. Dort sitzen eine Schriftstellerin, ein Verleger, zwei Behördenvertreter und ein Germanistiklehrer. Diese Truppe hat einen Förderbeitrag zwar keineswegs ausgeschlossen. Sie hat aber verlangt, Sulzer solle bitte erklären, warum er „Zigeuner“ schreibt.

Es ist ein bisschen, als müsste ein Autor begründen, warum in seinem Roman über das Mittelalter eine Hexenverbrennung vorkommt. Das ist schließlich ein barbarischer Akt. Muss das denn sein? Wäre es nicht viel schöner, wenn die der Hexerei verdächtigte Frau zur Königin gemacht wird?

Alles andere als ein Provokateur

Ja, das wäre es. Nur leider nicht sehr realistisch. Verfolgt man den Fall in Ruhe und ohne vorauseilende Empörung, fühlt man sich an Kafka erinnert. Vor den Augen der Öffentlichkeit wird offensichtlicher Irrsinn praktiziert, aber kaum jemand legt sich ins Zeug für das Opfer der Affäre. Denn tut man das, gerät man in den Verdacht, sich für das Wort „Zigeuner“ ins Zeug zu legen.

Auf der Webseite von Alain Claude Sulzer prangt neben seinem Porträtbild und über seinem Namen eine blaugelbe Flagge. Man kann also verlässlich annehmen, dass der Schriftsteller in den aktuellen Zeitfragen durchaus in der Spur fährt. Er unterstützt die Ukraine, was man derzeit tun sollte, wenn man nicht unter die Räder kommen will. Der Kampf der Sprachhüter gilt also nicht einem Berufsprovokateur, einem Rechten oder einem Wutbürger.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass Sulzer in seinem neuen Buch einen verbalen Feldzug gegen Fahrende führt. Er lässt seine Protagonisten einfach so sprechen, wie man damals gesprochen hat. Täte er das nicht, müsste man ihm mangelhafte Recherche vorwerfen.

Es ist ein Beispiel von vielen für den Verlust der Vernunft. Es geht nicht mehr um Kontext. Es geht um das Auslöschen der Erinnerung. Auf politisch korrekt getrimmt werden soll nicht nur die Gegenwart. Die Vergangenheit muss nachziehen.

Das Selbstverständliche begründen

Zu Ende gedacht ist das nicht. Wäre der „Fachausschuss Literatur“ zweier kleiner Schweizer Kantone der Maßstab für die deutschsprachige Bücherlandschaft, könnte kein einziger historischer Roman mehr erscheinen. Denn darin geschieht Ungeheuerliches: Frauen werden unterdrückt und Mohrenköpfe verdrückt, es tummeln sich Indianer, und es werden Sklaven gehalten, die damals von ihren Besitzern vermutlich in den seltensten Fällen mit „People of color“ angesprochen wurden. Es wimmelt also nur so von Unwörtern.

Alain Claude Sulzer hat das Angebot, sich zu erklären, dankend abgelehnt. Verständlich, aber schade. Zu schön ist die Vorstellung, wie ein Autor einem Expertengremium erklärt, warum das Wort „Zigeuner“ in einem Buch, das 60 Jahre vor unserer Zeit spielt, vorkommt. Sulzer hätte mit den Fachleuten sprechen müssen wie mit einem Kind. Ihm das Selbstverständliche mitteilen, langsam, geduldig, in einfachen Worten.

Und am Schluss hätte man ihm wohl mitgeteilt, dass das alles rein technisch zwar nachvollziehbar sei, es aber doch schöner wäre, wenn seine Figur auf das Wort verzichten würde. Einfach aus Prinzip.

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