Tischkulturrevolution

Früher galt es als Zeichen dafür, das Kleinkindalter verlassen zu haben, wenn man mit Messer und Gabel zu essen in der Lage war. Zu Hause oder im Kindergarten bestand die Mühe der Eltern und Erzieher darin, die Kleinen zu überzeugen, dass es ein Fortschritt ist, das Esswerkzeug in der Hand zu halten und sich damit als erzogen und als vom Tier unterschieden zu fühlen.
Heute wissen wir es besser: Kinder dürfen nicht nur nicht zum Essen überredet werden. Sie dürfen auch nicht zwangsweise bewegt werden, beim Essen Messer und Gabel zu benutzen. Um Traumatisierungen in der Kindergartenzeit zu vermeiden, verzichtet das Erziehungspersonal heute auf das Probierenmüssen von Lebensmitteln.
Der Probierlöffel ist abgeschafft, der einem Kind den zunächst von ihm abgelehnten Rosenkohl offerierte, um es dann im Falle einer gehorsamen Geschmacksprobe mit Nachtisch zu belohnen oder – im Falle der weiteren Ablehnung – durch die Streichung desselben zu bestrafen. Kein Druck! Auch nicht in der Frage der Benutzung von Besteck.
Wenn Svenja mit den Händen essen will, dann isst sie eben ihr Müsli mit den Fingern. Alles andere widerspräche der Partizipation und der Wahrung der UN-Kinderrechte. Die Fachkraft hat das „Nein“ des Kindes zu akzeptieren und die Weisung „Mit Essen spielt man nicht“ ad acta zu legen. Im Gegenteil: Mit Essen spielen ist enorm wichtig, heißt es auf den Fortbildungen der Erzieherinnen in den Kindergärten – sorry: „Tageseinrichtungen für Kinder“ –, die meine Pfarrei unterhält.
Einst eine schmucke Haupteinkaufsstraße, heute eine gesichtslose Gasse
„Erst etwas mit den Fingern erkunden, bevor man es in den Mund nimmt!“ Messer und Gabeln sind dabei im Grunde hinderlich. Und also werden Erkan, Kimberley und Charlotte nicht länger vom Erziehungspersonal daran gehindert, mit den Fingern die Salatblättchen zu ergreifen oder sich die Frikadellen, die ohnehin vom ausgewählten Cateringservice der KiTa nicht wirklich warmgehalten werden können, „zu Fuß“ in den Mund zu stopfen.
Gut so, denn die neuen Formate der ehemaligen Verwahranstalten haben schließlich auf das Leben vorzubereiten, und zwar so, wie es die UN-Kinderrechte genehmigen, damit die Kinder später als erwachsene Esser gesellschaftlich anschlussfähig sind.
In diesem Zusammenhang der Beschäftigung mit Tischmanieren und dem, was von ihnen übriggeblieben ist, stach mir kürzlich etwas in die Augen, das ich hier berichten möchte. Wahrgenommen im heiligen Köln und zwar in der dortigen Hohe Straße, der ehemaligen schmucken Haupteinkaufsstraße. Nach dem Flächenbombardement im Zweiten Weltkrieg und dem Wiederaufbau ist sie heute eine gesichtslose Gasse, in der sich Drogeriemärkte, Fitness-Studios, Schuhgeschäfte, Boutiquen, Dönerbuden und ähnliche Fresslokale aneinanderreihen.
Die Mischung der Passanten ist mehrheitlich entsprechend gesichtslos gestylt und schiebt sich durch die Fußgängerzone, shoppend und mampfend in Sneakern, pyjamaartigen Pluderhosen und T-Shirts – bei der Damenwelt gerne bauchnabelfrei. Eine Melange aus ultra-, Pardon: „mega“-schlanken Mädels und bärtigen beleibten Mitzwanzigern, baseballbemützt und – gerade in dieser zum unbarmherzigen Comingout nackter Haut neigenden Jahreszeit – öffentlich präsentierten Tattoos, von denen viele aussehen, als gingen sie auf das Konto des eigenen kleinkindlichen Nachwuchses und seines jüngsten Filzstifteinsatzes.
Wie ein Archäopteryx in der Vogelvoliere
Im Ensemble der immer gleichen Geschäftsketten, die einen nie sicher sein lassen, ob man nun wirklich in Köln oder nicht doch in Koblenz oder Castrop-Rauxel ist, hatte sich in der Hohe Straße lange ein Relikt aus vergangenen Zeiten erhalten: das „Haus für Tischkultur“, Hausnummer 89-91. Dort wurde einem inmitten des Stromes formlos lebender Alltagsmenschen vieles angeboten, was man für einen stilvoll und schön gedeckten Tisch braucht. „Silber Becker“, wie der Laden in seinen Anfangsjahren hieß, handelte über 130 Jahre in Köln mit „Tischkultur“.

Das Geschäft wirkte zuletzt wie ein Archäopteryx in der Vogelvoliere. „Falsches Angebot am falschen Ort!“ dachte man sich schon länger. Die Teilnehmer der Sneakerparade brauchen so etwas nicht. Sie brauchen Frittentüten, Eishörnchen und Coffee-to-go-Becher, mit denen sie gehend essen und trinken können, um keine Zeit zu verlieren. Und zu Hause brauchen sie nach dem Abstreifen der Sneaker und beim anschließenden Langlümmeln auf der Sofalandschaft auch keine „Tischkultur“. Denn da reicht der Pizzakarton auf dem Bauch, von dem aus beim Verfolgen von TV-Ergüssen auf dem 86-Zoll-Smartboard die vorgeschnittenen labbrigen Pizzaecken zum Mund jongliert werden.
Entsprechend war eines Tages Schluss mit dem „Haus für Tischkultur“. Im Jahre 2014 machte es dicht, denn niemand braucht mehr Tafelsilber. Brautpaare leben am Tag der Hochzeit schon seit langem vollausgestattet mit IKEA-Wohnprodukten. Und die Besserverdienenden unter ihnen benötigen keinen Hochzeitstisch mit Royal-Copenhagen-Porzellan, Muranogläsern und Laguiole-Messern. Kein Bedarf mehr!
Wobei vor dem merkantilen Problem des hochpreisigen Luxus das über allem schwebende Verschwinden der Tischkultur als solcher steht. Sie ist schlichtweg untergegangen, zusammen mit vielem anderen wie das Schreiben von Postkarten, Telefonieren zu Unterhaltungszwecken, Lodenmänteln, Kirchgang und Frühschoppen, kletterübungsfreien Cafés ohne Hochhocker, Eckkneipen, Familiengrabstätten, filterlose Zigaretten und Geburtstagsschnäpschen.
„Alles hat seine Zeit“
Hier und da erwischt man noch einen Restbestand. Aber „in der Fläche“, wie es so schön heißt, ist alles weg oder anders. Es gibt noch Reservate, aber wenige. Die ZDF-Serie „Bares für Rares“ ist ein solches. Dort bieten Angehörige der Boomergeneration – unbeobachtet von den feindlichen X-Y-Z-Generationsvertretern – Antikhändlern Altertümchen feil, von denen man weiß, dass sie in nicht ferner Zukunft auf dem Sperrmüll landen werden.
Und zwar spätestens dann, wenn diejenigen, die sich noch an das Wählscheibentelefon erinnern können, auf dem Friedhof liegen oder – wahrscheinlicher – ausgestreut sind. Antiquitäten aus der Haushaltsauflösung der Oma sind für die Youngsters mit Affinität zum Tiny-Häuschen nur Belastung und somit obsolet.
Gut, „alles hat seine Zeit“, sagt Renate Becker, die letzte Tischkulturschaffende in der Kölner Hohe Straße, gegenüber dem Kölner Stadtanzeiger. Und eine der letzten langjährigen Kundinnen ergänzt wehmütig, sie und ihr Mann hätten in dem Traditionsgeschäft ihre gesamte Ausstattung gekauft und befürchten nun, der Stadt Köln würde nach der Schließung etwas fehlen.
„Falsch!“, fährt es mir durch den Kopf. Im Gegenteil! Nach Schließung des letzten inhabergeführten Ladens in der ansonsten von den üblichen Ketten besetzten Einkaufsstraße fehlt den Kettenkunden nichts mehr. Sie sind jetzt endlich unter sich. Und so ist jetzt auch im „Haus für Tischkultur“ ein weiterer Imbissladen eingezogen – „Pizza Deluxe“, ein italienischer Takeaway, dessen Teigprodukte man, Gott sei Dank, auch ohne Messer und Gabel und im Gehen vertilgen kann.
Das Wummern der Bässe verjagt jede Schönheit aus Herzen und Köpfen
Die Musik aus den Modeboutiquen –, sorry: „Klamottenläden“, verleiht der Menschenmasse, die die Hohe Straße täglich durchflutet, die passende Geräuschkulisse. Anders als die Bordkapelle auf der Titanic, die den Untergang tapfer als letzten Akt der Hoffnung auf eine andere Welt mit Schönheit begleitete, verjagt das Wummern der Bässe jede Schönheit aus Herzen und Köpfen.
Und nimmt die Shoppinggemeinde mit in die Welt des Nichts, in der es nicht nur keine Tischkultur, sondern kein Hochzeitsmahl des Ewigen Lebens mehr gibt, dessen profanes Abbild das Tafelsilber und das schöne Porzellan einst waren, die zum Verzehr von geschmacksverstärkerfreien Speisen dienten, die nicht nur zum Sattwerden, sondern auch zum Genuss der Kochkunst inspirierten.
Nicht anders als die Religion sind auch deren säkulare Spurenelemente aus dem Leben der Masse verschwunden. Ich empfehle deswegen zum Zwecke der Trauerarbeit über die versunkene menschheitsgeschichtlich prägende Kulturform des gepflegten Essens und Trinkens bei einem Kölnbesuch eine kurze Stippvisite in der Hohe Straße 89-91 zu machen und sich anzusehen, welche zeitgenössische Form von Fütterung sich im ehemaligen edlen Gelass des Tischmanierenausstatters eingenistet hat.
Und dabei den Blick nach oben zu wenden. Denn dort schimmert noch schwach, aber leserlich an der Stelle der abmontierten Geschäftsinschrift der Text, der dort einst in großen erhabenen weißen Lettern prangte: „J. H. Becker – Haus für Tischkultur seit 1882“. Ein Schatten der Vergangenheit. Wobei, wer weiß, vielleicht gibt es ja auch eine andere Betrachtungsweise. Eine, die aus der Erfahrung lebt, dass das, was verblasst, durchaus noch nicht tot ist. Es überwintert ja möglicherweise nur. Solange bis aus der schwachen Glut eine neue Flamme schlägt.
Es wäre nicht das erste Mal, dass die Menschheit sich darüber belehren lassen muss, dass eine Kulturrevolution Schönheit nur verstecken, aber nicht töten kann.
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Kommentare
Der H.Herr, den ich sehr schätze, wegen seiner Verdienste um die alte Liturgie, erinnerte mich sehr an die Prediger in der Steiermark und Tirol, als die Eisenbahn eingeführt wurde, sie predigten, der Mensch wird das nicht überleben und der Antichrist kämme jetzt.
Genau so eine Gesinnung tritt hier zu Tage, die Welt geht unter Tafelsilber, wird nicht mehr benötigt. Hw. haben Sie Angst dass Sie auch nicht mehr benötigt werden?😉 ich emphele sich um eine Zeitmaschine zu bemühen, und ab ins 19 Jahrhundert
Mir gefällt auch vieles nicht ich sage
gut ich bin zu alt die jungen Leute werden wie jede Generation wissen was sie tut sitze in meiner modernen, nachhaltig gestalteten Wohnung und höre Barrockmusik
Nicht umsonst hat Norbert Elias in seiner Studie über den Prozess der Zivilisation auch an Essen und Trinken, an die Tischsitten angeknüpft. Die von ihm sog. Entzivilisierungsschübe bringt Oswald Spengler, im Untergang des Abendlandes, freilich prägnanter auf den Punkt: Wir erleben einen Prozess der Fellachisierung.
Prädikat: « Ravissant ! » 😉
Der Fisch stinkt ja bekanntlich vom Kopf her. „Die Häresie der Formlosigkeit“ hat wohl doch nicht auf der Straße ihren Ausgang genommen! Eventuell haben die Eltern und Großeltern der Generation, die jetzt dumpf auf der Straße vor sich hin mampft, die konsekrierte (?) Hostie von einem schmerbäuchigen geistlichen Herrn, gewandet in bequemem Pullunder und in Gesundheitslatschen steckend, aus einem irdenen Näpflein erhalten oder, gar genötigt zu moderner Selbstbedienungsmentalität, selbst ins Näpflein hineingegriffen? Wohlan denn, hier wartet doch eine Aufgabe auf die Geistlichkeit, kultivieren Sie das Land erneut wie ehedem die Altvorderen, vulgo Benediktiner und Zisterzienser. Pflegen Sie erneut die (ehrenvolle) Dienstbarkeit. Legen Sie Fischteiche mit Speisefischen an und ein weißes Tafeltuch auf den Tisch, auch wenn Sie jetzt nicht genau wissen, wozu und weshalb, das Tun im Vertrauen ist ein guter Anfang. Ein paar Generationen lang wird der Aufbau aber schon brauchen, so Gott will.