Der Weg ist der Weg, das Ziel ist das Ziel

Hört mir auf mit diesem „Der Weg ist das Ziel“-Gelaber, denke ich, als Judith und ich Schritt für Schritt und Höhenzentimeter für Höhenzentimeter diesen verfluchten Berg hinaufkraxeln. Ich habe mir längst abgewöhnt, nach oben zu blicken, den endlosen Abhang hinauf, auf dem der schmale Weg hinter der nächsten Kurve verschwindet. Ich versuche auch nicht abzuschätzen, wie weit es noch zum Gipfel ist, und ich blicke auch nicht mit Genugtuung nach unten, um den Stolz auf jeden Meter einzusaugen, den wir schon geschafft haben.
Nein, mein Ding ist es, nur auf meine schwarzen, staubigen, abgenutzten Stiefel zu schauen. Und zu gehen. Schritt für Schritt.
Der Mensch geht in der Aufrechte – ein Wunderwerk
Die Stiefel gibt es schon länger als Judith in meinem Leben. Es ist erst mein zweites Paar Wanderschuhe, aber wenn Beziehungen so haltbar wären wie Wanderschuhe, wäre die Welt vielleicht ein bisschen besser.
Sicher, sie sind irgendwann etwas ausgelatscht, jedoch mit einer fetten Creme und neuen Schnürsenkeln sehen sie wieder aus wie eben kennengelernt, aber machen keinen Ärger. Sie haben einen ehrlichen Geruch, nichts Süßliches, dass einem betörend in die Nase steigt, sondern eher ungelüftet mit Heu.
Da drinnen stecken meine Füße, alles in allem ein Wunderwerk und darin Judith nicht unähnlich. Dank ihrer stehe ich fest in dieser Welt, was physikalisch angesichts von rund einem Meter achtzig Höhe, vielleicht ein bisschen mehr, die auf 43 Zentimeter in der Länge ruhen, und auch noch ganz unten angebracht sind, an sich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Roboter scheitern dutzendweise daran.
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Mir die Zehennägel zu lackieren, verbietet mir das Geschlecht, bei Judith finde ich das aber sehr hübsch. Mir ist aufgefallen, dass manche Frauen einen Ring um den Zeh tragen, und ich denke mir, dass das vielleicht der Erinnerung an einen Kerl dient, den sie nicht mehr oder noch nicht am Finger tragen wollen. Das nächste Mal werde ich so eine Frau darauf ansprechen und mir das erklären lassen.
Plötzlich der Gipfel!
Aus den Stiefeln ragen meine Beine. Sie sind ein bisschen wie die Säulen der Erde – nur mit Haaren dran. Ich habe mir noch nie die Beine rasiert und glaube einfach, dass von dieser naturnahen Variante eine gewisse Erotik ausgeht. Von denjenigen, die dafür nicht empfänglich sind, will ich gar nichts wissen, es bleiben noch genug andere. Judith mag es, glaube ich. Thematisiert haben wir beide das nie. Manches darf man auch beschweigen.
Plötzlich der Gipfel. Für ein paar Viertelstunden verliere ich meine Wanderschuhe mit den Füßen darin und den Beinen daraus aus den Augen, weil die Welt tatsächlich erheblich größer ist und das Ziel den Weg eben doch um Längen in den Schatten stellt. Dann klettern wir wieder hinab, meine Stiefel, Judith und ich. An den rutschigen Stellen reichen wir uns die Hand. Mit den beiden, da bin ich mir sicher, könnte ich endlos gehen.
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