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Kolumne „Ein bisschen besser“

Hunger und Leid

Judith und ich und das Töchterchen sitzen beim Sonntagsfrühstück. Es gibt Rührei, Schokobrötchen und Laugenstange. „Was machen wir heute?“, lautet die Sonntagsfrage. Der Himmel ist blau, die Amseln zwitschern noch. Wir sollten rausgehen, vielleicht Pilze suchen, ein Bier in der Gartenwirtschaft trinken, ich müsste vorher noch die Rechnung für meinen neuen Zahn bezahlen. Zwei Zähne sind ein Gebrauchtwagen in diesen Zeiten. Mit dem einen kannst du zubeißen, mit dem anderen abhauen.

Wir kommen vom Thema ab: Zubeißen und abhauen sind wichtige Fähigkeiten heutzutage, in denen ein unberechenbarer Diktator in Moskau mit seiner Drohnenarmee durch Europa spukt. „Ich würde ein Schrotgewehr nehmen“, erkläre ich Judith beim Morgenkaffee und berichte darüber, dass mein Urgroßvater tatsächlich Weltmeister darin war, Tontauben vom Himmel zu schießen. Eine hohe Trefferwahrscheinlichkeit läge also in der Familie, prahle ich. Unsereins könne zubeißen. Da könne sich der Russe mal ganz warm anziehen.

Hunger ist der Anfang vom Ende jeder Beziehung

Meine Frau hat eine andere Theorie und verweist auf ein Nadelstich-Experiment von Forschern der Ohio State University: Sie gaben 214 Eheleuten Voodoo-Puppen, die ihre jeweiligen Partner symbolisieren sollten – und dazu 51 Nadeln. Drei Wochen lang durften sie Abend für Abend – unbeobachtet vom jeweiligen Partner – die Puppen malträtieren. Je verärgerter sie von ihrem Partner waren, desto öfter sollten sie ihn oder sie durchbohren.

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Der Clou sei gewesen: Je geringer der Blutzuckerspiegel der Probanden, desto mehr Nadeln hätten sie in ihren Puppen-Partner gerammt. „Hunger ist der Anfang vom Ende jeder Beziehung“, sagt Judith und füllt mein Rührei nach. Vielleicht habe der Russe ja einfach Hunger.

Leiden als geistiges Bedürfnis

Ich erzähle von meinen alten Geschichtsprofessor, der uns mit Romanen die Welt erklärte. Einst brachte er Dostojewskis „Tagebuch eines Schriftstellers“ mit und zitierte vom Pult im großen Hörsaal diese Worte des Dichters: „Ich glaube, das wichtigste, das grundlegendste geistige Bedürfnis des russischen Volkes ist das Bedürfnis nach Leiden, immer und unstillbar, überall und in allem.“ Der Russe fühle sich ein bisschen besser, wenn er leide?

Ich blicke ratlos übers dampfende Rührei zu meiner Frau. „Was machen wir denn jetzt?“, kräht das Töchterchen. „Gehen wir raus und genießen den Frieden“, sagt Judith. Und tatsächlich war keine einzige Drohne am blauen Himmel.

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