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Kolumne „Mild bis rauchig“

Der Pferdefant

Dass sich Menschen vom Hörensagen ein Bild von der Wirklichkeit machen, ist nicht erst eine Erfindung des Medienzeitalters. Schon immer gab es die Gefahr, dass man sich damit begnügte, etwas für wahr zu halten, dass man nicht selbst gesehen, geprüft oder an der Glaubwürdigkeit der Zeugen festgemacht hatte.

Beispiele gibt es in unseren Tagen genug aus dem Bereich der Medien. Da kommt eine Meldung in die Zeitung oder ins Internet und schon fangen alle an, abzuschreiben, hinzuzudichten, wegzulassen oder zu kommentieren. Und es entsteht ein Bild der Wirklichkeit, das in den meisten Fällen mit der Wirklichkeit selbst nichts zu tun hat.

Niemand fragt erstaunlicherweise nach dem Wahrheitsgehalt der Meldungen oder der Stimmigkeit der Meinungen. Denn es gibt ein ehernes Gesetz und das lautet: „Es hat doch in der Zeitung gestanden!“ oder „Es ist doch im Fernsehen gezeigt worden!“ oder „Man konnte es in den social media lesen.“

Eine Zeit fundamentaler Mündlichkeit

Im Dom zu Brixen, genauer in seinem Kreuzgang, findet man einen kuriosen Hinweis auf die Gefahr einer solchen Einstellung zu dem, was man so vom Hörensagen her für wahr hält. Denn dort gibt es die Darstellung eines Elefanten, die zu einer kuriosen Berühmtheit gelangt ist. Die Ausmalung stammt aus dem 15. Jahrhundert.

In jener Zeit, als die hohen gotischen Gewölbe und kahlen Wände ausgeschmückt wurden, war nur eine schmale Oberschicht des Lesens und Schreibens kundig. Das Volk bewegte sich in engem Lebenskreise, man kannte sein Dorf und das nächste Städtchen mit dem Markt und konnte sich ansonsten von der weiten Welt nur das vorstellen, was der Pfarrer in der Kirche predigte und Reisende an Nachricht mündlich zu berichten wussten.

In unserer von visuellen Reizen maximal überfluteten Gegenwart lässt sich wohl schwer nachempfinden, was es für die Menschen damals bedeutete, wenn ihnen jemand die wenigen verfügbaren Bilder auslegte, ausdeutete – wie etwa die leuchtend farbigen Fresken im Kreuzgang des Doms, die Geschichten aus der Heiligen Schrift oder Szenen aus dem Leben der Heiligen darstellen.

Wie der judäische Priester Eleazar einen syrischen Kriegselefanten niedermacht

Statt mit nach unten gesenktem Kopf wie heute beim Blick auf das Smartphone richtete man das Angesicht nach oben, um sich vom Bilderreichtum in den Gewölben beschenken und belehren zu lassen. Wer da nicht alles vorkommt – der Herr und Heiland Jesus Christus selbstverständlich, seine treue Mutter Maria, Apostel und Heilige, David und Goliath, Altes und Neues Testament, helfende Engel und piesackende Teufel, ein ganzer Kosmos. Das Influencertum unserer Tage ist keineswegs neu, Gestalten und Szenen, mit denen man sich identifizieren konnte („Ich will so werden wie der!“) wurden eben mit dem Medium des 15. Jahrhunderts „promotet“.

Und mittendrin gibt es da dieses merkwürdige Fabeltier zu sehen, gar wunderlich anzusehen. Auf einem Fresko direkt unter dem Schlussstein entdeckt der Betrachter ein schlankes Pferd mit einem zur Trompete gerollten Elefantenrüssel, auf dessen Rücken ein hölzerner Gefechtsturm geschnallt ist, in dem gerüstete Ritter Verteidigung üben. Unter dem Bauch des Fabelwesens sieht man lang hingestreckt einen Verteidiger mit Lanze. Der wird dieses Tier – eine Mischung aus Pferd und Elefant – gleich töten und daraufhin selbst sterben: denn das Untier wird ihn plattmachen, es wird zusammenbrechen und ihn erdrücken.

Dargestellt ist hier eine Szene aus dem Alten Testament, und zwar die mit dem judäischen Priester Eleazar, der in einer Schlacht gegen die Syrer bei Jerusalem einen gewaltigen Kriegselefanten niedermachte und dabei den Tod fand. Aber wieso malte dann Leonhard von Brixen, der begnadete Freskenmaler vom Kreuzgang des Domes, keinen Elefanten? Die Antwort ist denkbar einfach! Der Maler wusste nur dem Hörensagen nach, wie Elefanten aussahen. Und heraus kam ein „Pferdefant“, ein Pferd mit trompetenartigem Rüssel ...

Als dann ein leibhaftiger Elefant auftauchte …

Als dann so ungefähr hundert Jahre später, im Dezember 1551, tatsächlich ein Elefant in eigener Person durch das Eisacktal trabte, den man über den Brenner nach Wien trieb, war das Erstaunen groß ob des wirklichen Aussehens des Tieres. Noch heute erinnert in Brixen das Hotel „Elephant“ an diese Begebenheit, weil dort das Tier auf seiner mühsamen Reise zwei Wochen pausieren durfte.

Die Menschen damals waren mehr als überrascht, wie ein Elefant nun wirklich aussah, denn sie hatten ja über hundert Jahre geglaubt, es zu wissen, weil sie das Bild aus dem Kreuzgang kannten. Die Wirklichkeit belehrte sie eines Besseren. Das Bild, das durch das Hörensagen entstanden war, war durch die Wirklichkeit beschämt worden. Bis heute ist der „Pferdefant“ von Brixen ein klassisches Beispiel für die Gefahren, die der Wirklichkeit drohen, wenn man nicht sorgsam mit ihr umgeht.

Diese kleine Episode aus der Geschichte der Stadt kann die Christen unserer Tage – besonders die katholischen – einiges lehren. Denn auch sie sind stets in der Gefahr, sich zu vertrauensvoll und naiv dem zu überlassen, was die Medien als Wahrheit präsentieren. Dies gilt insbesondere für Berichte aus dem Leben der Kirche, für Informationen und ideologische Belehrungen über das, was heute gut und richtig ist, für das Bild, das uns von Amtsträgern der Kirche vermittelt wird, für die Prioritäten des Lebens, die man uns in den Medien aufzählt.

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Die tendenziöse oder einseitige Berichterstattung malt ein Bild des Katholizismus an die Wand, das oft nur in Ansätzen etwas mit dem zu tun hat, was die Kirche wirklich ist. Wer bis jetzt aus der Perspektive eines deutschsprachigen Blickwinkels heraus geglaubt hat, die Kirche sei ein Verein zur Weltverbesserung auf demokratischer Basis, der wird bei genauem Hinsehen, besonders mit Blick auf die südlichen und östlichen Länder, belehrt, dass Katholischsein etwas anderes ist.

Wie die staunenden Bewohner von Brixen, die im 16. Jahrhundert bei ihrer Begegnung mit einem echten Elefanten feststellen mussten, dass ein solcher nicht wie ein Pferd mit Trompetennase aussieht, so sieht man bei einem Besuch von Italien oder Polen, dass außerhalb des deutschen Landes und seines immer mehr zur Nationalkirche werdenden Katholizismus, die Menschen in diesen Ländern die Wirklichkeit des Katholischseins stimmiger vermitteln, als es nördlich der Alpen der Fall ist.

In Deutschland etwas Seltenes, in Polen Alltag: die Beichte

So sieht man außerhalb Deutschlands noch durchaus in den Kirchen besetzte und benutze Beichtstühle, wo bei uns solche nur noch Abstellkammern für Besen und Putzmittel sind. Man sieht junge Priester und Ordensleute in ihrer klerikalen Kleidung und empfindet das als ein erfrischendes Signal für die Zukunft der Kirche – dort, wo man bei uns Priester und Ordensleute entweder gar nicht mehr erlebt oder sie durch ihre Zivilkleidung nicht erkennen kann. Man erlebt junge Katholiken, die in großer Zahl und wie selbstverständlich an heiligen Stätten, aber auch in den vielen anderen Kirchen individuell beten, wohingegen man in der deutschen Kirche so etwas so gut wie nicht mehr erlebt.

Man realisiert eine greifbare Gläubigkeit von Menschen, an denen man spürt, dass sie all das glauben, was die Kirche zu glauben vorlegt und die auch die Verehrung von Reliquien und von Gnadenstätten aus tiefem Herzen praktizieren, wohingegen in Deutschland – in der Regel von Amtsträgern – stets vermittelt wird, dass Glaube in erster Linie in zivilgesellschaftlichem Engagement bestehe.

Nicht dem Bild aufsitzen, das der Zeitgeist von der Kirche zeichnet

Die kleine Episode um den Pseudo-Elefanten von Brixen lehrt dazu zweierlei. Erstens: Es ist wichtig, heute als Christ grundsätzlich skeptisch zu sein gegenüber den Informationen, die die weltlichen Medien über die Kirche auftischen. Und zweitens ist es nötig, sich auch im Bereich der kirchlichen Berichterstattung mit neutralen und umfassenden Informationen zu versorgen, denn dies wird in der Regel von den Kirchenzeitungen nicht geleistet. Damit man nicht dem Bild aufsitzt, das der Zeitgeist von der Kirche zeichnet, sondern der Wirklichkeit ein unverfälschter Weg bereitet wird, denjenigen zu erreichen, der nach ihr fragt.

Gute katholische Portale bieten heute im Internet dazu die Möglichkeit, sich jenseits der gefilterten Kirchensteuerberichterstattung zu informieren. Es wird dies mehr und mehr zur Pflicht für den Christen, der es ernst meint. Corrigenda ist nur ein Beispiel, wie es gehen kann. Denn dort wird versucht, die Wirklichkeit abzubilden und die Menschheit zu verschonen vor den Kopfgeburten derer, die das Hörensagen vermarkten, weil es ihnen reicht zu sagen, was man hören will.

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