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Kolumne „Der Philosoph“

Das Eigene, das Fremde und das Christentum

Es hat mich nach Transsilvanien verschlagen, oder Erdély, wie die Ungarn sagen. In beiden Wörtern steckt jedenfalls der Wald (Latein: silva, Ungarisch: erdő). An den heutigen Staatsgrenzen gemessen, bin ich im rumänischen Siebenbürgen, auch wenn es hier in der Gegend rund um Sepsiszentgyörgy (Deutsch: Sankt Georgen, Rumänisch: Sfântu Gheorghe) verhältnismäßig wenige Rumänen gibt. Es fühlt sich so an, als sei man in Ungarn.

Im nahe gelegenen Badekurort Tusvány findet jährlich eine ungarische Sommerakademie statt, auf der Viktor Orbán immer eine große Rede hält, bei der er nicht das tagespolitische Klein-Klein behandelt, sondern den großen, olympischen Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Ungarns unternimmt. Das „Tusványos“ ist ein großes Festival mit vielfältigem Programm. Tagsüber dominieren Panel-Diskussionen zu allen möglichen gesellschaftlichen und politischen Themen, abends erweisen sich die Popkonzerte als Publikumsmagnete.

Wachsen an der Konfrontation mit dem Fremden

Die hier lebenden Ungarn sind Teil eines Staates, der sie als Fremdkörper empfindet. Man wünscht sich mehr Autonomie. Dass die Rumänen die Veranstaltung, die indirekt auch das große, „historische Ungarn“ vor den massiven Gebietsabtretungen durch den Vertrag von Trianon (1920) zelebriert, kritisch beäugen, liegt auf der Hand. Am Rande gibt es am Tag von Orbáns Rede dann auch tatsächlich Protest. Eine Handvoll rumänischer Nationalisten schwenkt ihre Landesflagge. Kein Wunder, dass die Heimatverbundenheit und der Patriotismus der Erdély-Ungarn so groß ist: Das Bewusstsein für den Wert des Eigenen wächst in der ständigen Konfrontation mit dem Fremden.

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Nach dem Festival fahre ich nach Sibiu, auf Deutsch Hermannstadt. 2007 war Hermannstadt Europäische Kulturhauptstadt; die Fördermittel wurden offenbar sinnvoll und nachhaltig investiert. Die mittelalterliche Innenstadt zeigt sich in einer Pracht wie europaweit nur wenige historische Städte dieser Größe.

Zumindest historisch betrachtet, ist Hermannstadt eine Vielvölkerstadt. Ursprünglich ist sie eine Gründung der Siebenbürger Sachsen aus dem 12. Jahrhundert. Heute jedoch sind rund 90 Prozent der über einhunderttausend Einwohner ethnische Rumänen. Rund zweieinhalbtausend Ungarn leben noch hier und nur noch etwas über zweitausend Siebenbürger Sachsen. Dennoch sind sowohl das deutsche als auch das ungarische Erbe noch präsent, und so haben auch die Angehörigen dieser Volksgruppen zumindest Inseln des Eigenen inmitten des Fremden.

Ein übergreifendes Band trotz kultureller Differenzen

Mädchen im siebenbürgischen Hermannstadt: Man ist in Europa

Trotz aller kulturellen Unterschiede und Konfrontationen gibt es eine Art übergreifendes Band. Wer in diesem Landstrich unterwegs ist, wird – im Gegensatz zu so mancher westeuropäischer Metropole – nie einen anderen Eindruck bekommen als den, mitten in Europa zu sein. Während meiner Fahrt mit der rumänischen Bahn, die wie üblicherweise auch die deutsche Verspätung hat, denke ich darüber nach, was hierbei eigentlich das verbindende Element ist. Bei den ethnischen und sprachlichen Unterschieden der Deutschen, Ungarn und Rumänen kommen schließlich weder Sprache noch Abstammung in Frage. Was also eint dieses Gebiet bei allen Differenzen und Fremdheitserfahrungen, ohne dass die Binnendifferenzen und Eigenheiten verschwimmen oder gar aufgelöst werden?

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Die Antwort drängt sich mir auf, als ich an Orbáns Abschlussrede denke. Der im Westen zu Unrecht als stumpfer Populist verschriene Staatsmann kam am Ende seiner Ausführungen auf die Religion zu sprechen. Drei Stufen des Christentums habe das ungarische Volk bisher durchlaufen: Am Anfang habe das fromme, von Glauben erfüllte Christentum gestanden, von dem eine einzigartige kulturschaffende Kraft ausgegangen sei.

Diese Kraft habe sich in einer gemeinsamen Werteordnung, in einer verbindenden Matrix von Gut und Böse, von Schuld und Erlösung sowie einer übergreifenden Symbolsprache verwirklicht. Kurz: Auf die erste Stufe des Christenglaubens folgte die zweite des Kulturchristentums.

Ohne Erneuerung des Glaubens wird es nicht gehen

Ich denke, diese Diagnose trifft nicht nur auf Ungarn, sondern auf den ganzen Kontinent zu. Europa entstand aus einem gläubigen Christentum, das Einheit, Sinn und Ordnung stiftete, jedoch ohne die bereits existierenden kulturellen und ethnischen Eigenheiten einzuebnen. Auf die ersten beiden Stufen sei – in der Form eines Abstiegs – eine dritte gefolgt: Heute lebten wir auf der Nullstufe, quasi dem Ground Zero des Christentums.

In Tracht gekleidete Kinder posieren im Dorfmuseum Hermannstadt vor christlicher Volkskunst: Vielfalt in Einheit

Auch das ist zutreffend: Unser eigenes Erbe wird uns zunehmend fremd, ja es befremdet, empört uns. Und schließlich: Mit dem Rückgang des Glaubens drohe der Lebensborn des Kulturchristentums zu versiegen.

Es ist schwer, dieser Analyse nicht zuzustimmen. Wer Augen hat, die sehen, der wird zugeben müssen, dass wir heute in einem Europa leben, dessen kulturelle Grundfesten in Auflösung begriffen sind.

So fahre ich aus Transsilvanien mit der erneuerten und vertieften Überzeugung wieder nach Hause, dass ein Erhalt der gemeinsamen europäischen Kultur, die sich im Laufe der Jahrhunderte in so wundervoller Vielstimmigkeit und Unterschiedlichkeit ausgeprägt hat, kaum möglich sein wird ohne eine Erneuerung jenes Glaubens, der diese Vielfalt in Einheit erschaffen hat.

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