Direkt zum Inhalt
Ohne Glauben geht es nicht

Kulturchristen können den Westen nicht retten

Gideon Böss plädiert in einem Welt-Artikel mit dem Titel „Wenn das Christentum verschwindet, verschwindet mit ihm auch der Westen“ dafür, das Christentum zumindest kulturell zu erhalten. Sein Argument: Die westlichen Werte seien „weitgehend“ christliche Werte, weshalb ein „Aufstieg des Kulturchristentums“ nötig sei, um diese Werte zu bewahren – und zwar ohne, dass jemand dafür in die Kirche gehen müsse.

Zentral sind die Sätze: 

„Kulturchristentum ist dabei ein säkulares Bekenntnis zum freien Westen. Was es zugleich nicht ist, ist eine Kampfansage an Linke oder Moslems, die Teil des Westens sein wollen. Dieser ist schließlich auch deswegen so erfolgreich, weil sich ihm jeder anschließen kann. Dafür reicht es schon, dem Individuum den Vorzug vor dem Kollektiv zu geben, schon hat man das Ticket in diese Zivilisation gelöst.“

Es lässt sich kaum bestreiten, dass viele unserer heutigen Werte christlich geprägt sind. Unser Rechtssystem steht in der Tradition des kanonischen Rechts, das im Hochmittelalter erstmals systematisch Rechtsgrundsätze wie Vertragsfreiheit, personale Verantwortung und Rechtsgleichheit formulierte. Das Ende der Fehdegesellschaft verdankt sich der Vorstellung individueller Gottesebenbildlichkeit: Nicht die Sippe, sondern die einzelne Person trägt Verantwortung – und besitzt Würde. Wenn wir heute von „Menschenwürde“ sprechen, ganz gleich, wie wir diesen Begriff philosophisch begründen, klingen immer auch christliche Grundlagen mit.

Aber auch so gut wie alle Feiertage und Feste, die in Europa begangen werden, haben einen dezidiert christlichen Ursprung: Kirchweih/Kirmes, Karneval, Pfingsten, Vater-/Herrentag und natürlich Weihnachten und Ostern.

Kultur entsteht aus Kult

Doch die vom Autor vorgeschlagene Lösung ist keine Lösung, sondern ein Ausweichen in eine romantisierte Bürgerlichkeit, der Gott peinlich ist, und die zugleich mit dem Islam nichts zu tun haben will. So aber gewinnt man keine Kulturkämpfe. Die Position des Autors erinnert an einen Aphorismus Kafkas, eine satirische Anekdote, die eine Abhängigkeit von kurzfristiger Befriedigung zeigt und wie diese letztlich die Sache selbst zerstört: 

„Er frisst den Abfall vom eigenen Tisch; dadurch wird er zwar ein Weilchen lang satter als alle, verlernt aber oben vom Tisch zu essen; dadurch hört dann aber auch der Abfall auf.“

Denn Böss umschifft geschickt eine anthropologisch zentrale Tatsache: Kultur entsteht aus Kult. Der Mensch formt sein Verhalten, seine Moral und seine Institutionen letztlich aus dem, was er verehrt. Darum sind Kult und Kultur etymologisch und inhaltlich verwandt.

› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge

Im Mittelalter errichtete man Kathedralen, die ein Königreich wie Frankreich mit bis zu 30 Prozent des Jahreshaushalts finanzierte – Bauwerke, deren Vollendung die Stifter nie erleben würden. Christen zogen in Kreuzzüge, ließen als Missionare ihr Leben, um blutigen Menschenopferritualen in Mittel- und Südamerika das Evangelium entgegenzustellen. Meine Großeltern gingen nicht zur Kirche, weil sie „Kulturchristen“ waren, sondern weil sie tatsächlich glaubten: an die Messe, an die Beichte, an die Autorität des Papstes. Weil im Rheinland die Kultur auf einem real existierenden Christentum ruhte, degenerierte der Karneval nicht, gab es eine halbwegs intakte Moral und soziale Stabilität.

Man kann nicht – wie Richard Dawkins, den Böss auch erwähnt – den Glauben ablehnen, ihn ins Lächerliche ziehen und gleichzeitig hoffen, irgendwie die „christlichen Werte“ retten zu können, damit der Islam nicht noch weiter vormarschiert. Vor allem nicht die Moral und die Nächstenliebe. Die Anziehungskraft der Sinnlichkeit und die Macht des menschlichen Egos sind zu groß, um die Kulturleistung der lebenslangen Ehe und der wechselseitigen Rücksichtnahme ohne metaphysische Begründung dauerhaft aufrechtzuerhalten.

Wir brauchen nicht mehr Kulturchristen, sondern mehr echte Christen

Selbst Max Horkheimer (1895-1973), Neomarxist und Vertreter der Frankfurter Schule, erkannte diesen Zusammenhang: „Alle Versuche, die Moral anstatt durch den Hinblick auf ein Jenseits auf irdische Klugheit zu begründen – selbst Kant hat dieser Neigung nicht immer widerstanden –, beruhen auf harmonistischen Illusionen. Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht letzten Endes auf Theologie zurück.“

Der Islam ist stark, weil wir schwach geworden sind. Wer dem kulturellen Niedergang wirksam entgegentreten will, braucht einen starken, selbstbewussten Gegenentwurf zum „Anything goes“-Libertinismus, säkularen Heilslehren, zum nietzscheanischen Zynismus und zum Islamismus, in denen viele Halt suchen.

Wir brauchen nicht mehr Kulturchristen, sondern mehr echte Christen. Um die Kultur aufzubauen, müssen wir glauben, zur Kirche gehen und aus dem religiösen Kult die Kultur retten, verteidigen und erneuern.

› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?

31
0

3
Kommentare

Kommentare