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Werner Bergengruen wiederentdeckt

Ein Leben zwischen Riga und Rom

Eine leise Sensibilität kennzeichnet die Sprachmelodie, die Dicht- und Erzählkunst des baltendeutschen Schriftstellers Werner Bergengruen, der 1892 in Riga geboren wurde und 1964 in Baden-Baden verstarb. Seine Werke wurden in der Nachkriegszeit vielfach gelesen und erlebten Millionenauflagen, heute sind die elf Romane, fast 500 Gedichte und über 200 Erzählungen nahezu vergessen. 1936, inmitten von Hitlers Reich, dessen Atheismus ihn zuinnerst befremdete und dessen seelenlose Gewaltherrschaft er verachtete, konvertierte Bergengruen, als Protestant aufgewachsen, gemeinsam mit seiner halbjüdischen Frau Charlotte, die der Familie Mendelssohn entstammte, zur katholischen Kirche. Im Glauben fand er eine geistige und geistliche Heimat in einer Zeit der Finsternis.

Die baltische Heimat hatte er als kleiner Junge noch unter Zar Alexander III., der eine deutschfeindliche Politik des Panslawismus betrieb, mit seiner Familie verlassen. In Lübeck besuchte Bergengruen das Katharineum, machte 1911 Abitur, studierte auch, in Marburg, Berlin und München, blieb aber ohne akademischen Abschluss. Institutionelle Lehranstalten blieben ihm fremd. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er als freier Journalist, reiste durch Deutschland, machte in Litauen, Tilsit, an der Memel und in Danzig Station.

Die Nationalsozialisten beobachtete er mit Argwohn und Sorge. Er ließ sich nicht von ihnen zu einem Arrangement verführen und blieb von Beginn an auf Distanz. Bergengruen galt als politisch höchst unzuverlässig. Das zeigte sein 1935 veröffentlichter, erfolgreicher Roman „Der Großtyrann und das Gericht“, eine Parabel über das Leben in der Diktatur. Bis dahin hatten ihn die NS-Behörden weitgehend übersehen. Bergengruen wurde 1937 nun von der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen: „Weder er noch seine Kinder sind Mitglieder ohne Parteigliederung. Der deutsche Gruß ‘Heil Hitler’ wird weder von ihm noch von seiner Familie angewendet. Eine Parteizeitung bezieht er offenbar nicht.“ (zitiert nach: Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich, Frankfurt am Main, 2007, S. 44)

Er sei ungeeignet, „durch schriftstellerische Veröffentlichungen am Aufbau der deutschen Kultur“ mitzuarbeiten, ein rückblickend ehrenwertes Verdikt. Zudem war der Schriftsteller – für den NS-Staat und seine Funktionäre skandalös genug – konfessionell gebunden, also ein gläubiger Christ, dessen wahres Vaterland nicht von dieser Welt war.

Flugblätter der Weißen Rose abgeschrieben und verteilt

Fortan zog sich Bergengruen in die innere Emigration zurück und stellte 1940 das Publizieren ein, lebte und schrieb im Verborgenen, zunächst in München. Nur ganz gelegentlich verbreitete er einmal etwas anonym, während das Regime sich nicht nur an Geist und Kunst versündigte, sondern auch den Zweiten Weltkrieg entfesselte und erbarmungslos Juden verfolgte und ermordete. Bergengruen stand über seinen Nachbarn Carl Muth (Hochland, 1941 verboten) auch in Kontakt mit den Geschwistern Scholl. Eckhard Lange führt dazu in einem Beitrag für die Werner-Bergengruen-Gesellschaft aus: „In München befreundet er sich mit Carl Muth, einer Gestalt des katholischen Widerstands, trifft in dessen Haus Hans Scholl und steckt nächtens mit der eigenen Maschine abgetippte Flugblätter der Geschwister Scholl in Briefkästen.“

Inge Scholl hat kurz nach dem Krieg berichtet, dass Bergengruen im Juli 1942 gemeinsam mit seiner Frau Flugblätter der Weißen Rose „abgeschrieben, die Abschriften anonym an Bekannte adressiert und möglichst unauffällig in Münchner Briefkästen geworfen“ habe (zitiert nach: Barbara Beuys, Sophie Scholl, München 2010, S. 360). Er selbst hielt nach dem Krieg in Aufzeichnungen die Erinnerung „an Nachtstunden fest, „in denen meine Frau und ich politische Flugblätter oder Berichte oder Predigten des Grafen Galen mit der Maschine abschrieben“.

Obdach in dieser Zeit schenkt Werner Bergengruen vor allem der katholische Glaube, die spirituelle Nähe zu den Heiligen und die Sakramente der Kirche, die ihn von innen her stärken. Davon zeugt seine Lyrik (Meines Vaters Haus. Gesammelte Gedichte, Zürich 2004), besonders sein etwa 1942 verfasstes Gedicht „Die himmlische Rechenkunst“, dessen erste Strophe lautet:

„Was dem Herzen sich verwehrte,
lass es schwinden unbewegt.
Allenthalben das Entbehrte
wird dir mystisch zugelegt.“

Das lyrische Ich, in dem der Dichter selbst sichtbar wird, weiß sich gestärkt vom Gebet, auch von der Anbetung, die die Not der Zeit annimmt und erträgt, als Passionserfahrung begreift, die erlebt und erlitten wird, mit einem ungewissen irdischen Ausgang – bei einem Luftangriff auf München wurde das Wohnhaus der Familie 1942 zerstört –, aber getragen von der Hoffnung auf Vollendung im ewigen Leben. Gestärkt weiß er sich durch das Brot des Lebens, das Sakrament der Eucharistie. Er dichtet:

„Jeder Schmerz entlässt dich reicher.
Preise die geweihte Not.
Und aus nie geleertem Speicher
nährt dich das geheime Brot.“

Warum katholisch? „Aus Liebe zu den Sakramenten, aus Liebe zur großen Form“

Die Bergengruens ziehen nach Tirol. Wochen vor Kriegsende, am 19. März 1945, will die Polizei Charlotte Bergengruen verhaften, aber der schneidige Ton des sonst so leisen Dichters bewirkt offenbar, dass die Schergen des Regimes auf die Mitnahme verzichten. Nach dem Krieg übersiedelt die Familie in die Schweiz, eine Zusammenarbeit mit dem Arche-Verlag bahnt sich an. Der Dichter darf nicht mehr nur im Verborgenen schreiben, wie in den letzten Jahren der NS-Zeit, sondern auch wieder publizieren.

1934 hatte der Schriftsteller in seiner „Deutschen Reise“ bereits Altötting, das „Herz Bayerns“, liebevoll beschrieben, 1949 erscheint das „Römische Erinnerungsbuch“. In der Ewigen Stadt blüht Bergengruen auf. Er liebt die leuchtende Pracht und glanzvolle Schönheit Roms. Über seine Konversion hatte er einst gesagt: „Fragt man mich, warum ich katholisch geworden bin, so antworte ich zunächst: weil ich von Natur ein katholischer Mensch bin. Verlangt man aber speziellere Auskünfte, so will ich sagen, aus Liebe zur Kirche, aus Liebe zu den Sakramenten, aus Liebe zu den Heiligen, aus Liebe zur großen Form, aus Liebe zur Logik, aus Liebe zur Analogia entis.“

Werner Bergengruen im Alter

Auch mit der mittelalterlichen Philosophie war er vertraut, in der das Ganze des Seins analog zueinander ist, also in einem Verhältnis steht, in einer Beziehung – und so auch zu Gott, dem Schöpfer der Welt. In Rom, an den Apostelgräbern, in der Stadt von Pius XII., fühlt er sich ganz wie zu Hause, angekommen am Ort der Sehnsüchte.

Im Eichmann-Prozess ein Gedicht Bergengruens

In der jungen Bundesrepublik indes mehren sich Stimmen von kämpferischen Linksintellektuellen, die diejenigen Schriftsteller verbal wüst attackieren, die während der NS-Zeit nicht ins Exil gegangen waren. Bergengruen sieht sich etwa dem Vorwurf der „Heile-Welt-Lyrik“ ausgesetzt, den Theodor W. Adorno 1950 aufbringt in boshafter Anspielung auf den Titel von Bergengruens Gedichtband Die heile Welt aus dem gleichen Jahr. Solche Angriffe schmerzten ihn. Die Passionserfahrungen und Anfeindungen verändern sich zwar, bleiben aber auch in den 1950er und 1960er Jahren präsent. Gleichwohl wurden die Werke Werner Bergengruens in dieser Zeit vielfach gelesen, besonders auch von Studenten. Er gehörte mit Hermann Hesse zu den beliebtesten Autoren in Westdeutschland.

Im Nachgang der 1968er-Studentenbewegung verschwanden Texte von Bergengruen zunehmend aus Schullesebüchern, aufgrund von ideologischen Vorbehalten der marxistisch kolorierten Vordenker und Pädagogen jener Jahre; in der Ostzone war Bergengruen gar nicht erst erhältlich. Die Kulturrevolutionäre dieser Zeit enthielten damit den deutschen Schülern etwa das Gedicht „Die letzte Epiphanie“ (1944) vor, das, über die Herrschaft der Gottlosigkeit in NS-Deutschland, vor Verhandlungsbeginn gegen Adolf Eichmann im Jerusalemer Gerichtssaal vorgetragen wurde. Im lyrischen Ich ergreifen Gottvater oder Christus selbst das Wort:

„Ich hatte dies Land in mein Herz genommen,
ich habe ihm Boten um Boten gesandt.
In vielen Gestalten bin ich gekommen.
Ihr aber habt mich in keiner erkannt.

Ich klopfte bei Nacht, ein bleicher Hebräer,
ein Flüchtling, gejagt, mit zerrissenen Schuh’n.
Ihr riefet dem Schergen, ihr winktet dem Späher
und meintet noch, Gott einen Dienst zu tun.“

Eugen Kogon, ebenfalls Katholik, hat dieses Gedicht dem Schlusskapitel „Das deutsche Volk und die Konzentrationslager“ seines zum Standardwerk gewordenen „Der SS-Staat“ vorangestellt. Bergengruens Gedicht öffnet die im Ganzen tröstliche, endzeitliche Perspektive und endet mit dem Vers:

„Nun komm ich als Richter. Erkennt ihr mich jetzt?“

Ein Unkorrumpierter

Wer Werner Bergengruens Werke heute liest – ob säkular orientiert, suchend, christgläubig oder schlicht literarisch interessiert –, begegnet einem auch politisch ganz wachen Erzähler und Dichter, der gewiss ein Kind einer anderen Zeit war, dessen Gedichte, Novellen und Romane aber nur einem oberflächlichen Blick betulich oder altväterlich erscheinen, tatsächlich aber tief sind und alles andere als harmlos. Eine literarische Entdeckungsreise sind sie wert, vielleicht: gerade heute.

Nach Bergengruen-Kenner Frank-Lothar Kroll galt der Dichter im Jahr 1945 als „einer der wenigen unbescholtenen in Deutschland verbliebenen Autoren, einer, der sich dem Regime niemals auch nur ansatzweise anzupassen versucht hatte, ein Unkorrumpierter, dessen moralische Integrität und Unbestechlichkeit damals auch vielen jungen Nachwuchsautoren Achtung abnötigte“.

Wir danken dem Präsidenten der Werner-Bergengruen-Gesellschaft e.V., Herrn Eckhard Lange (Uelzen), für die freundliche Überlassung der Fotos aus dem Nachlass.

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Dr. Erich Schneider
Vor 6 Monate 3 Wochen

Ein hervorragender Artikel über einen Schriftsteller, dessen Werk für die heutige Zeit nötiger wäre denn je! Es verwundert mich, warum Bergengruen nach dem Krieg dafür heftig kritisiert wurde, dass er nicht ins Exil gegangen ist. In meinen Augen gehört wesentlich mehr Mut dazu, in der absolut feindlich gesinnten Umgebung des NS-Staates zu verbleiben und im Untergrund den Widerstand zu unterstützen. Vielen Dank an den Autor dieses Artikels, uns diesen Schriftsteller wieder in Erinnerung zu rufen, dessen Werk so durchdrungen war von dem, was Bergengruen in eigenen Worten so beschrieb: „weil ich von Natur ein katholischer Mensch bin.“

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Dr. Erich Schneider
Vor 6 Monate 3 Wochen

Ein hervorragender Artikel über einen Schriftsteller, dessen Werk für die heutige Zeit nötiger wäre denn je! Es verwundert mich, warum Bergengruen nach dem Krieg dafür heftig kritisiert wurde, dass er nicht ins Exil gegangen ist. In meinen Augen gehört wesentlich mehr Mut dazu, in der absolut feindlich gesinnten Umgebung des NS-Staates zu verbleiben und im Untergrund den Widerstand zu unterstützen. Vielen Dank an den Autor dieses Artikels, uns diesen Schriftsteller wieder in Erinnerung zu rufen, dessen Werk so durchdrungen war von dem, was Bergengruen in eigenen Worten so beschrieb: „weil ich von Natur ein katholischer Mensch bin.“