Direkt zum Inhalt
Über Eugenik und assistierten Suizid

„Eugeniker treten in der Maske der Menschenfreunde auf“

Pater Brown, Kleriker und gewitzter Hobbydetektiv, besaß weder Macht noch weltlichen Einfluss. Aber er hatte ein hörendes Herz, um Recht und Unrecht klug zu unterscheiden. Die prominenteste literarische Gestalt aus dem Œuvre des britischen Schriftstellers Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) hätte jede Form von Kindstötung, damit natürlich auch Abtreibung, und Euthanasie für ein himmelschreiendes Unrecht gehalten, für, in den Worten des Zweiten Vatikanischen Konzils, „verabscheuenswürdige Verbrechen“.

Pater Brown konnte Mord niemals billigen, so wie Chesterton, der abtrünnige Anglikaner und bekennende Katholik. Hätte der Essayist und Literat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 erlebt, so hätte er die höchstrichterliche Billigung des assistierten Suizids mutmaßlich scharf missbilligt: „Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“

Wer Selbsttötung als „Akt autonomer Selbstbestimmung“ begreift, der opponiert nicht nur gegen das Naturrecht, sondern wendet sich auch gegen die von Art. 1 Grundgesetz garantierte unantastbare Würde des Menschen. Pater Brown hätte schwerlich erklären können, warum diese Würde nicht vom Augenblick der Empfängnis bis ins Pianissimo des höchsten Alters und der Sterbestunde hineinreichen sollte. Düstere Gedanken und Begriffe über den Wert und Unwert des Lebens oder Mutmaßungen über Lebensqualität werden hier sichtbar, wenn der unbedingte Lebensschutz im Strudel der Beliebigkeit Ermessenssache wird.

Ist Lebensschutz rechtsextrem?

Als einzige der gegenwärtig im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien hat die AfD in ihrem Wahlprogramm 2025 energisch und kompromisslos für den unbedingten Lebensschutz geworben. Sie hat sich damit auch von der Beihilfe zum assistierten Suizid abgegrenzt: „Die Sterbehilfe in der Form der ‘Tötung auf Verlangen’ ist in Deutschland aus gutem Grunde verboten. [...] Mit der Sterbehilfe kann der Druck zur Selbsttötung auf schwerkranke Menschen erhöht werden.“

Gegen abgründige Selektionsfantasien positionierte sich eindeutig eine Partei, die nun als Ganze im Ruf der Verfassungsfeindlichkeit steht. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stufte die Partei am 2. Mai 2025 als „gesichert rechtsextremistisch“ ein, obschon es diese Einstufung wenige Tage später wieder aussetzte.

Pater Brown hätte darüber lange nachgedacht. Sein geistiger Schöpfer Chesterton kannte schändliche Pläne zur systematischen Internierung und Sterilisierung von Menschen, die im Namen der Wissenschaft vorgebracht wurden, aus dem England seiner Zeit. Er analysierte und sezierte scharfsinnig und beherzt die Theorien der Eugeniker (in: G. K. Chesterton: „Eugenik und andere Übel“, hrsg. v. Thomas Lemke, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 2014).

Entschlossen gegen Eugenik

Die „Kritik der Eugenik“, schreibt Chesterton, sei zugleich eine „generelle Kritik der modernen Manie für den wissenschaftlichen Staat“ und die „straffe Organisation der Gesellschaft“. Die Eugeniker treten auf in der Maske der Menschenfreunde und preisen die Barmherzigkeit ihrer zutiefst unmoralischen Ideen. Menschen, so sagen sie, seien für ihre Kinder verantwortlich, besonders für die ungeborenen Kinder. Gesunde Leute wünschten sich gesunde Kinder.

Doch jede „Frucht einer ins Auge gefassten Vereinigung“ trage „gewisse unausweichliche Anlagen“ mit sich. So empfehlen manche Eugeniker, ganz gewiss aus als humanistisch apostrophierten Gründen, dass einige Familien kontrolliert werden sollten – insbesondere mit Blick auf ihren unerwünschten Nachwuchs. Die Eugeniker streben eine „Freiheit von Krankheit und Degeneration“ an.

Unter der Regierung von Herbert Henry Asquith, einem ausgewiesenen Liberalen, wurde 1913 der „Mental Deficiency Act“ im britischen Unterhaus parlamentarisch gebilligt, mit überwältigender Mehrheit, bei drei Gegenstimmen. Dieses Gesetz diente eugenischen Absichten, vorgebracht in der Maske der Menschenfreundlichkeit. Der Schriftsteller Chesteron nahm daran Anstoß. Damals wurden sogenannte Geisteskranke unter anderem aus Einrichtungen der Armenfürsorge entfernt und oft in „mental deficiency colonies“ (Kolonien für Geisteskranke) überführt, eine neue Art von Anstalten, die durch das Gesetz errichtet wurden. Bis 1959 wurde so verfahren. Zeitweilig wurden über 60.000 Menschen interniert, vorgeblich zu ihrer eigenen Sicherheit.

Follow the Science?

Chesterton stellte fest, mit diesem Gesetz sei der „eugenische Staat“ errichtet. Die Selektionsprinzipien sahen vor, dass Menschen, die nach Maßgabe der Eugeniker nicht intelligent genug erschienen, nicht heiraten dürften und keine Kinder bekommen sollten. Chesterton schreibt: „Jeder düster dreinblickende Vagabund, jeder wortkarge Arbeiter, jeder verschrobene Provinzler lässt sich damit mühelos in Einrichtungen einweisen, die für gemeingefährliche Irre errichtet wurden.“ Die eugenische „Wissenschaft“ stand damit Pate für das Gesetz.

Follow the Science? Chesterton wandte sich entschieden gegen die vermeintliche Autorität der Wissenschaft. Die Eugeniker wünschen sich auch keine Mehrheitsentscheidungen, die die Wissenschaftshörigkeit korrigieren könnten: „Welche nebulöse, ungreifbare Autorität schwebt ihnen vor? Wer ist der unfassbare Mann, der als fehlendes Subjekt die Verben der Eugeniker regiert? In vielen Fällen können wir meines Erachtens sagen, dass der Eugeniker sich selbst meint.“ Die „eugenische Verachtung der Menschenrechte“ sieht vor, „Schwachsinnige wegzusperren“.

Chesterton aber erinnert daran, dass das familiäre Zusammenleben mit leidenden, oft auch „unleidlichen Kerlen“ niemals zu großem menschlichem Leid geführt habe. Sie seien auch keine besondere „Belastung des häuslichen Glücks“: „Selbst, wenn ich Eugeniker wäre, würde ich meine Zeit daher nicht mit dem Einsperren von Schwachsinnigen vergeuden. Die Leute, die ich einsperren würde, wären die Willensstarken.“ Die „bloße Infantilität“ sei keine Bedrohung, aber der „Terror“ des „anarchischen und unbefriedbaren Temperaments“ sehr wohl: „Ich persönlich würde solche Tyrannen nicht einsperren, weil ich finde, dass ihre emotionale Tyrannei über wenige Familien immer noch besser ist, als wenn eine medizinische Tyrannei den ganzen Staat in ein Irrenhaus verwandelt.“

Man findet immer einen Grund, jemanden wegzusperren

Ebenso lässt sich der Gedanke fortspinnen: Stehen körperlich wie geistig stark beeinträchtigte Demenzkranke nicht einem Wellness-Familienglück im Weg? Sollten Wachkoma-Patienten, sollten Schwerstkranke, die gemeinhin als „austherapiert“ gelten, nicht von ihren Leiden befreit und erlöst werden? Der Medizinhistoriker Gerrit Hohendorf (1963-2021) focht energisch und begründet gegen alle Formen einer Legalisierung der Sterbehilfe.

2011 schrieb er im Deutschen Ärzteblatt: „Wie soll der schwerkranke Mensch sein Leben gegen die Erwartung der Gesellschaft verteidigen, wenn diese ihm das Gefühl vermittelt, dass sein Leben im Zustand des Leidens keinen Wert mehr hat und so indirekt eine vorzeitige Lebensbeendigung erwartet?“ Das Argument einer vermeintlichen Stärkung der freien Willensentscheidung des Individuums lässt Hohendorf nicht gelten. Der Betroffene erhält keinen Beistand, er wird unter Druck gesetzt: „Das vermeintlich starke Argument der Autonomie führt in der Sterbehilfepraxis vielmehr zu einer Entmündigung und Schwächung der Patientenrechte. Am Ende steht die Perversion der idealisierten Freiheit zum Todin eine Unfreiheit zum Leben.“

Selbstbestimmung oder Kapitulation?

Gilbert Keith Chesteron kritisierte scharf die Unterwürfigkeit gegenüber dem, was öffentlich als Weisungen der Wissenschaft verkauft wird. Er verglich diese erwartete Gefolgschaft mit einem Gehorsam gegenüber verordneten Einschränkungen, die Kindermädchen Kleinkindern auferlegten und bezeichnete ein Regiment wissenschaftsgläubiger Autoritäten als Tyrannei.

Wer sich der Vormundschaft der Wissenschaft ergibt, damit auch den in der Maske des Menschenfreundes auftretenden Eugenikern, ergibt sich den „handfesten Interessen“ dieser Gruppe, die rhetorisch versiert seien, aber genau wüssten, was sie täten: „Ihre Verfechter sind, was die Theorie anbelangt, hochgradig vage, aber sie werden, was die Praxis anbelangt, peinigend präzise sein.“

› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge

Kehren wir zurück in die Gegenwart, denn die öffentliche Debatte über den „assistierten Suizid“ und gesetzliche Regelungen dazu begleitet uns weiterhin. Soeben hat die französische Nationalversammlung für einen Gesetzentwurf gestimmt, der die aktive Sterbehilfe für „unheilbar“ Kranke ermöglicht, zunächst freilich unter strengen Auflagen. Welche christlichen Positionen werden zu der Thematik in der deutschen Politik vertreten? Die AfD-Abgeordnete Beatrix von Storch äußerte sich im Bundestag am 21. April 2021 ganz im Sinne von Art. 1 Grundgesetz:

„Sich das Leben zu nehmen, ist nach meiner persönlichen, ganz festen Überzeugung kein Ausdruck autonomer Selbstbestimmung – es ist allermeistens ein Akt der vollständigen Verzweiflung. Suizidwillige brauchen daher keine staatlichen Angebote zum Sterben, sondern Menschen, die ihnen helfen. Mit der Förderung der Suizidbeihilfe öffnen wir die Büchse der Pandora. […] Der assistierte Suizid begründet eine Kultur des Todes. Diese widerspricht nicht nur universellen ethischen Grundsätzen, sondern auch den Werten unserer christlich-abendländischen Kultur; davon bin ich zutiefst überzeugt.“

Auch die „Christdemokraten für das Leben“ in der Union hatten sich bereits 2011 entschieden gegen den assistierten Suizid positioniert:

„Die meisten Menschen werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ‘autonom’ sterben, wie es vermeintliche Idealvorstellungen aus Rechtspolitik und Ethik gegenwärtig einfordern. Es ist daher geboten und sinnvoll, sich selbst und anderen Menschen diese Illusion eines vermeintlich ‘selbstbestimmten’ Sterbens nicht aufzubauen oder zu verstärken. Im Gegenteil: Menschen sind gerade am Lebensende, bei schwerer Erkrankung oder Depressionen auf die besondere Solidarität, Unterstützung und medizinische Betreuung angewiesen. Sie mit dem Suizidwunsch nicht alleinzulassen oder gar bei seiner Umsetzung mitzuwirken, ist deshalb das ethische und rechtliche Gebot und die Verwirklichung tatsächlicher Humanität. Das Angebot der Beihilfe zur Selbsttötung kann sonst schnell als Ermunterung zu ihr interpretiert und umgesetzt werden. Es öffnet ein neues Tor zur generellen gesellschaftlichen Akzeptanz und Billigung für den Suizid.“

Eine parteiübergreifende Allianz für das Leben hätte eine Mehrheit

Vor zwei Jahren schickte sich der Bundestag an, die Beihilfe zum Suizid neu zu regeln. Der Gruppenantrag der Abgeordneten Lars Castellucci von der SPD und Ansgar Heveling von der CDU sah eine verhältnismäßig restriktive strafrechtliche Regelung vor mit einem Verbot der geschäftsmäßigen Hilfe zur Selbsttötung.

Ein neugefasster Paragraf 217 StGB sollte lauten: „Wer in der Absicht, die Selbsttötung einer anderen Person zu fördern, dieser hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Das Gesetzgebungsvorhaben indessen scheiterte, keiner der beiden parteiübergreifenden Gruppenanträge erhielt eine Mehrheit. Damit bleibt es vorerst dabei, dass der assistierte Suizid auf Grundlage eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts legal ist, aber kein Gesetz verbindliche Regelungen vorschreibt.

Wäre eine parteiübergreifende Allianz für das Leben im Sinne von Art. 1 GG denkbar? Die Mehrheiten dafür im Bundestag gibt es. Ob Gilbert Keith Chesterton und mit ihm Pater Brown die Abgeordneten ermuntert hätten, die Mehrheiten auch zu nutzen, muss eine offene Frage bleiben.

› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?

49
4

5
Kommentare

Kommentare