Ganz nebenbei: Abtreibungen sind für Frauen bald gratis

Wäre es nicht dokumentier- und belegbar, würde diese Geschichte kaum jemand glauben: zu weit hergeholt, zu schwer vorstellbar und einem Land, das so stolz ist auf seine ausgeklügelte Demokratie. Aber es sind Tatsachen.
Bisher sieht es in der Schweiz so aus: Wer vor der dreizehnten Woche der Schwangerschaft abtreiben will, muss im Rahmen der sogenannten „Fristenlösung“ in einem schriftlichen Gesuch eine körperliche oder seelische Notlage geltend machen und sich von einem Arzt beraten lassen. Gibt es grünes Licht, werden die Kosten zwar hauptsächlich von der Kasse übernommen, aber nicht vollständig. Selbst berappen muss die Frau den in der Versicherung vertraglich vereinbarten fixen Betrag, die sogenannte Franchise, sowie den Selbstbehalt, also den Anteil an den Kosten, der nach verbrauchter Franchise fällig wird. Kurz gesagt: Abtreiben kostet die betroffenen Frauen Geld.
Das wird sich – voraussichtlich ab 2027 – ändern. Dann übernehmen die Krankenkassen in der Schweiz die vollen Kosten. Eine Schwangerschaft im Rahmen der sogenannten Fristenlösung innerhalb von zwölf Wochen zu beenden, wird kostenlos.
Diese Änderung wurde bereits im März vom Schweizer Parlament diskussionslos durchgewunken. Nicht, weil sie nicht umstritten wäre. Sondern weil gar niemand bemerkte, was hier passierte. Und es vergingen Monate, bis sich das änderte.
Abtreibungen bald kostenlos, um Gesundheitskosten zu senken?
Die Neuregelung bei Abtreibungen war nämlich nur ein Detail im Rahmen eines umfangreichen Kostendämpfungspakets im Gesundheitswesen, das im Parlament debattiert wurde. Es ging darum, die stetig und schnell wachsenden Gesundheitskosten zu stabilisieren oder gar zu reduzieren, sprich: Geld zu sparen. Tiefere Medikamentenpreise sind beispielsweise eine der vorgesehenen Maßnahmen.
Doch es stellt sich die Frage: Wie hilft die Übernahme der gesamten Abtreibungskosten durch die Krankenkasse dem Staat, die Gesundheitskosten zu senken?
Gar nicht, so die logische Antwort. Aber das Thema „Schwangerschaft“ war gewissermaßen in das Maßnahmenpaket mit hineingerutscht. Die Schöpfer der Änderungen wollten ursprünglich eine Ungerechtigkeit tilgen. Bisher musste eine Frau im Falle einer Fehlgeburt vor der dreizehnten Schwangerschaftswoche die Kosten selbst tragen. Das wollte man aus der Welt schaffen – und schüttete das Kind mit dem Bad aus. Um sich gar nicht erst in Details zu verlieren, wurde die vollständige Kostenübernahme beschlossen. Für alles rund um eine Schwangerschaft in den ersten zwölf Wochen – oder eben auch eine Abtreibung in dieser Zeit.
Nicht einmal Abtreibungsgegner meldeten sich zu Wort
Es ist keine unzulässige Verkürzung des Geschehens, wenn man es so zusammenfasst: Ab 2027 kostet es eine Frau nichts mehr, eine Abtreibung vorzunehmen. Es wird ihr also erleichtert. Für Abtreibungsbefürworter mag das ein positiver Quantensprung sein. Für die anderen ist es ein Horrorszenario. Man sollte daher meinen, der Entscheidung wäre ein harter Schlagabtausch vorausgegangen.
Das war nicht der Fall. Mehr noch: Es war gar kein Thema. Erst als das Kostendämpfungspaket für das Gesundheitswesen schon in trockenen Tüchern war, fiel Journalisten beim Zürcher Tages-Anzeiger auf, was da im Zusammenhang mit den Sparbemühungen wie nebenbei beschlossen worden war.
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Ein Podcast zeigt die Vorgeschichte und dabei eröffnen sich wahre Abgründe. Als Erklärung für das Schweigen zum Thema wird uns diese Begründung serviert: Das gesamte Maßnahmenpaket war so umfangreich, dass die Abtreibungsfrage nur am Rande erwähnt wurde. Weder in den vorberatenden Kommissionen noch später im Parlament schien es irgendjemandem aufzufallen, was da im Gesetzestext schlummerte. Fairerweise muss erwähnt werden, dass von der christlichen Partei EDU niemand in den Kommissionen saß.
Keine Stimme erhob sich, niemand stellte einen Antrag. Nicht einmal entschlossene Abtreibungsgegner, die es im Parlament durchaus gibt, meldeten sich zu Wort – weil sich offenbar keiner die Mühe gemacht hatte, das Dossier ernsthaft zu überprüfen. Diverse Politiker gaben im Nachgang zu ihrem Ja zum Paket offen zu, gar nicht gewusst zu haben, zu was sie soeben ganz nebenbei ihre Zustimmung gegeben hatten.
Ein wegweisender Beschluss?
Die Zeitung Blick bezeichnet den Vorgang später als „wegweisenden Beschluss“, der „im Gegensatz zum weltweiten Trend, Abtreibungen stärker einzuschränken“, stehe. In dieser Wortwahl steckt viel unfreiwillige Ironie: Wie kann etwas wegweisend sein, wenn es nicht mal bewusst, sondern in reiner Unkenntnis beschlossen wurde?
„Die Schweiz setzt mit der Kostenübernahme ein liberales Signal“, schrieb die Zeitung weiter. Pardon, aber das einzige Zeichen, das hier gesetzt wurde, lautet: „Unsere Parlamentarier wissen nicht, was in den Vorlagen steht, die sie verabschieden.“ Das ist weder liberal noch illiberal, sondern eine Bankrotterklärung für die Demokratie.
Als dann mit Monaten Verspätung doch noch kritische Fragen kamen, befand der Bundesrat, der „Zugang zu einem sicheren und legalen Abbruch“ sei ein Teil einer „modernen Gesundheitsversorgung und Voraussetzung für die Selbstbestimmung von Frauen“.
Doch wenn jemand so überzeugt ist von seinem Kurs, warum versteckt er dann das Anliegen in einem Wust völlig anderer Themen, um eine Debatte zu verhindern? Und atmet dann erleichtert auf, wenn er merkt, dass ein unwissendes Parlament soeben das trojanische Pferd über die Stadtmauer gezogen hat?
Vor allem aber: Wie oft ist das schon bei anderen Fragen geschehen – und wird wohl wieder passieren?
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