Ich nix verstahn

Das Schweizer Bildungssystem weckt rund um den Globus Interesse. Es ist in seiner Form einzigartig. Entscheidend ist nicht allein die Dualität, also die Wahl zwischen Studium und Berufslehre, sondern die hohe Durchlässigkeit. Denn die besagte Wahl ist nicht zwingend abschließend und führt nicht in eine Einbahnstraße. Egal, was man nach den obligatorischen neun Schuljahren macht, die Richtung kann auch später noch geändert werden. Dafür sorgen Anschluss- und Brückenlösungen wie die Berufsmittelschule und die Fachhochschulen, welche die Universitäten niederschwelliger ergänzen.
Soweit das Loblied – aber es gibt auch Misstöne in diesem. Denn so gut das System auch aufgebaut ist, löst es doch nicht alle Probleme. Um wirklich frei in der Wahl zu sein, müssen Schüler ein Mindestmaß an Anforderungen erfüllen, egal, wohin die Reise geht. Und danach sieht es derzeit nicht aus.
Nicht nur Fremdsprachen …
Soeben ist eine neue schweizweite Studie erschienen, die schwarz auf weiß zeigt, was man schon immer gern gemunkelt hat: Den Jugendlichen geht die eigene Sprache verloren. Dabei dürfte die Fragestellung der Untersuchung keine Schwierigkeit darstellen: Es ging darum, wie viele der Schüler nach abgeschlossener Schulzeit die Bildungsziele in den Sprachen erfüllen. Die Rede ist von „Grundkompetenzen“, nicht von der Stufe eines Genies.
Über das verheerendste Resultat kann man mit etwas Großzügigkeit noch hinwegsehen. Der Fremdsprachenunterricht scheint mehr Zeitvertreib zu sein, als eine eigentliche Mission zu erfüllen. So beherrscht beispielsweise nur knapp die Hälfte der Schüler in der Deutschschweiz nach etlichen Jahren Auseinandersetzung mit Französisch – immerhin eine Landessprache – die Grundkenntnisse dieser Sprache. Aber darüber hat man sich in den verschiedenen Landesteilen der Schweiz schon immer hinweggeholfen, indem man eben auf das „neutrale“ Englisch ausweicht.
… auch die Muttersprache
Sehr viel dramatischer sind die Ergebnisse in der angestammten Sprache. Von 100 Schülern beherrschen 20 nach neun Jahren in der Schule nicht einmal die Grundkompetenz ihrer eigenen Sprache. Es gibt Kantone, in denen sogar fast jeder Dritte davon betroffen ist. Wir sprechen hier von Jugendlichen um die 15 Jahre, die es beim Einstieg in die Berufswelt nicht schaffen, einen fehlerfreien Brief zu schreiben oder einen Text richtig zu interpretieren.
Wird es immer schlimmer? Schwer zu sagen. Vergleichsmöglichkeiten mit den alten Zeiten fehlen, weil die Sprachkompetenz am Ende der Schulzeit zum ersten Mal überhaupt untersucht wurde.
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Aber schon früher gab es im Rahmen einzelner Erhebungen, die weniger weit gingen, Hinweise auf einen schleichenden Verlust der Sprachkompetenz, und wer im direkten Austausch mit Jugendlichen steht, hatte den leisen Verdacht wohl schon länger.
Weit mehr als die Vergangenheit sollte jedoch die Zukunft interessieren: Wie wird das wieder besser? Oder muss die reiche Schweiz einfach damit leben, einen gewichtigen Prozentsatz an Schreib- und Lese-Unfähigen hervorzubringen?
Digitalisierung als Sündenbock
An Reformlust fehlt es den Bildungsverantwortlichen nicht. Aber sie konzentrieren sich auf Nebenschauplätze. Munter werden Stundenpläne an das Schlafverhalten der jungen Generation angepasst oder Lehrmittel überarbeitet, bis selbst im Sportunterricht der Klimawandel thematisiert werden kann. Wie man aber dafür sorgt, dass sich das Fach „Deutsch für Fremdsprachige“ nicht plötzlich auch an die Einheimischen wendet, scheint niemanden zu interessieren.
Führt man Gespräche mit Pädagogen und Bildungsforschern, verweisen diese meist gleich zu Beginn auf den unheilvollen Einfluss der Digitalisierung. Nach dem Motto: Was sollen wir denn tun, wenn Kinder und Jugendliche lieber TikTok-Videos schauen, als Bücher zu lesen und Briefe zu schreiben. Das klingt nach Bankrotterklärung: Getrieben von äußeren Einflüssen, schwenkt das Schulsystem die weiße Fahne und ergibt sich dem übermächtigen Feind.
Aber weder Videoplattformen noch Spielkonsolen erklären, warum man sich heute recht ungehindert durch neun Schuljahre treiben lassen kann, ohne einen Text wie diesen hier lesen und danach einige Verständnisfragen beantworten zu können. Genau so wenig sind sie verantwortlich dafür, dass das Bildungssystem Defizite, die fast in jedem Schulfach sichtbar werden müssen, einfach so hinnimmt.
Hauptsache wohlfühlen
Ohne Frage wird auf der Grundlage der jüngsten Studie bald Aktivismus aufkommen. Man kann am Lehrmaterial schrauben, an der Zahl der Lektionen, an der Art der Stoffvermittlung. Was sich damit nicht ändern wird: die neuen pädagogischen Konzepte, die schleichend Einzug gehalten haben.
Die Schule als Wohlfühloase, der Lehrer als „Lernbegleiter“ oder „Coach“, mehr Kumpel als Autoritätsperson, die Angst davor, Leistung zu verlangen und Kritik auszusprechen: Es sind solche weichen Faktoren, die es mehr und mehr verunmöglichen, das Erreichen von Grundkompetenzen einzuverlangen. Wer das schafft: sehr schön. Wer nicht: auch nicht so schlimm.
Wie soll man ein einst einmal definiertes Mindestmaß erreichen, wenn gleichzeitig die Anforderungen laufend sinken? In Klassen, in denen überwiegend fremdsprachige Kinder von Migranten sitzen, kommt selbst der einheimische Schüler mühelos oder sogar mit Auszeichnung durch, der die Groß- und Kleinschreibung ignoriert und Kommata für Luxus hält. Irgendwie kann er sich ja doch halbwegs ausdrücken, das muss reichen.
Das Niveau wird seit Jahren nivelliert, und das Ergebnis wird nun sichtbar. Ohne Frage werden sich Bildungskommissionen, Lehrerverbände und andere Beteiligte nun auf endlosen Konferenzen den Kopf darüber zerbrechen, wie sich die Situation verbessern lässt, und es wird papierstarke Konzepte regnen. Aber die grundsätzlichen Fragen werden sich darin nicht finden. Weil sie Themen tangieren, über die man im Jahr 2025 nicht sprechen soll.
Kommentare
Als pensionierter Primarlehrer möchte ich nachfragen: Warum wird so gut wie nicht erhoben oder veröffentlicht, wie gut die Sprachfähigkeiten der unterrichtenden Lehrpersonen sind? Aus Erfahrung kann ich sagen, dass bei vielen, vor allem jungen Lehrpersonen, die nicht selten auch Migrationshintergrund haben, die Kenntnisse zum Teil erschreckend unzureichend sind.
Es besorgt mich, was ich in dieser Kolumne über die geliebte Schweiz als Nicht-Schweizer lesen muss.
Ist der nördliche Nachbar denn kein abschreckendes Beispiel, liebe Eidgenossen?
@Schweiz-Fan Ist der nördliche Nachbar denn kein abschreckendes Beispiel, liebe Eidgenossen?
Der nördliche Nachbar ist vor allem ein abschreckendes Beispiel dafür, stets das eigene Land schlechtzureden. Von anderen Ländern träumt nur der, der sie als Tourist besucht. Wer dort leben und arbeiten muss, wird schnell feststellen, dass das Gras da auch nicht grüner ist.
Übrigens haben wir es mit einem politisch gefärbten und keineswegs neutralen (was immer das wäre) Blick auf die Schweiz zu tun.
Meiner Meinung nach sind die neuen Lehrmittel hauptverantwortlich. Eine Katastrophe, wenn man mit denen arbeiten muss.
Unsere Boomergeneration hatte noch richtig Schule. Da gab es keine Jokertage, die man zwei Mal pro Jahr einziehen konnte. Im jährlichen Klassenlager wird wohl kaum gelesen, geschrieben und gerechnet. Dann gibt es noch eine Projektwoche. Da werden Spielparqours absolviert oder es werden für einen Schulzirkus Tricks und Turnübungen geprobt. Bei uns gabe es auch keine "Schule im Schnee", d.h. während einer Woche toben sie sich immer am Nachmittag auf den Skipisten herum oder schlitteln. Es gab bei uns auch noch keine "Schule im Wald". Und dann kommt all das noch dazu, was der Autor bemängelt. Es ist etwas hart, was ich jetzt sage: Schule ist heute weitgehend organisierte Volksverblödung.
Ach, Herr Millius, der Dreh auf die Migrantenkinder am Schluss des Textes ist so erwartbar, wie er langweilig und wohlfeil ist. Damit will ich nicht das große Problem der Migration leugnen. Aber schauen Sie mal in ein ländliches Gymnasium mit äußerst geringem Migrantenanteil (ja, die gibt es noch). Da stellt man fest, dass der Medienwandel sehr wohl ein ernstes Problem ist, jüngst massiv verstärkt durch die angebliche 'KI'. Die Kinder lesen nichts mehr (lesen war früher aber auch schon ziemlich langweilig), und warum sollten sie das auch, wenn sie Deutsch- oder Religionslehrer haben, die nicht ein einziges Buch daheim stehen haben (selbst erlebt)? Eltern, die selbst keinen Wissensdurst oder Lernwillen haben?
"Probleme, die niemand 2025 ansprechen darf", aber nicht nur die Medien sind voll davon. Also bitte, Herr Millius, so einen Käse glauben Sie doch selbst nicht.