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Kolumne „Der Schweizer Blick“

Der Felssturz und das Framing

Das Schweizer Dorf Blatten im Kanton Wallis wurde Ende Mai von einem Naturereignis heimgesucht, wie es dramatischer kaum sein könnte. Eine Felsmasse von gewaltigem Ausmaß löste sich, begrub Häuser unter sich, zerstörte das gesamte Dorf – und das Leben der Menschen dort. Von einem Tag auf den anderen alles Hab und Gut und das Zuhause verlieren: Es ist eine Tragödie, die man sich gar nicht vorstellen mag.

Hinter der Katastrophe stehen ein komplexes geologisches Phänomen und die Tatsache, dass die Natur in Bewegung ist. Derzeit hört man aber vor allem eines: Klimawandel.

Kaum waren die ersten Bilder durch die Medien gegeistert, setzte das Framing ein. Der Blick titelte: „Der Berg fällt – der Klimawandel bleibt“, und erklärte, der Felssturz zeige, „wie rasant sich die Gletscher zurückziehen und welche katastrophalen Folgen das hat“. In der NZZ am Sonntag wurde Blatten in einem Kommentar gar zum „Vorgeschmack auf eine Schweiz im Ausnahmezustand“. Und das Schweizer Radio und Fernsehen berichtete prominent über die steigenden Temperaturen im Wallis als zentrales Beispiel des Klimawandels. Die Botschaft: Blatten sei ein weiteres Glied in der Kette der Klimakatastrophen.

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Vereinfachte Formel

Wichtig für diese Darstellung war auch, die Naturkatastrophe als noch nie dagewesen darzustellen. Dass in der Vergangenheit ähnliche Ereignisse dokumentiert wurden, die nicht dem CO₂-Ausstoß angelastet werden konnten, wird dabei ignoriert. Geschichte ist eben nur dann interessant, wenn sie nützlich ist.

Das Problem liegt nicht darin, dass der Klimawandel als möglicher Faktor thematisiert wird – das wäre wissenschaftlich legitim. Dass die Erderwärmung gewisse Prozesse beschleunigen oder beeinflussen kann, ist unbestritten – abseits der Frage, wie sie wirklich zustande kommt.

Das Problem liegt in der Eindeutigkeit, mit der der Klimawandel zur entscheidenden Ursache erklärt wird, lange bevor Geologen, Hydrologen und Risikoforscher ihre Berichte abgeschlossen haben. Die Formel lautet oft: Naturkatastrophe = Klimawandel = Politikversagen = mehr Klimapolitik. Und plötzlich ist ein Felssturz in einem Bergdorf der nächste Beleg für das Narrativ, dass wir mehr Regulierung, mehr Investitionen und mehr Tempo beim Umbau der Gesellschaft brauchen. Der Meinung darf man sein. Aber es wäre wohltuend, wenn die Analyse der Ursachen nicht von der politischen Agenda diktiert würde.

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Immer weniger Todesopfer

Dabei wäre es dringend nötig, die geologischen und tektonischen Ursachen ernsthaft zu prüfen – ebenso wie Fragen zur regionalen Bauplanung, zu Warnsystemen oder zur langfristigen Raumplanung in Risikozonen. Wer sich aber vorschnell auf den Klimawandel als Erklärung stürzt, verhindert genau diese vertiefte Auseinandersetzung. Prävention wird durch politisches Moralisieren ersetzt.

Die Zahl der Todesopfer durch Naturkatastrophen sinkt seit Jahren markant. Nimmt man die letzten drei Jahrzehnte als Maßstab, starben jährlich rund 52.000 Menschen durch solche Ereignisse. Für 2024 geht man von rund 10.000 Opfern aus, obschon die Weltbevölkerung rasant wächst und immer dichter zusammenrückt. Nicht, weil die Zahl der Vorkommnisse zurückgegangen ist, sondern weil die Gesellschaft besser darauf vorbereitet ist. Auch in Blatten gelang die frühzeitige Evakuierung dank moderner Technologie der Überwachungssysteme. Das ist ein Fortschritt, den man angesichts der aktuellen Berichterstattung aber kaum wahrnimmt.

Hinzu kommt: Die einseitige Klimafokussierung birgt die Gefahr, dass andere – ebenso reale – Ursachen in den Hintergrund treten. Dabei ist die Schweiz ein Land, in dem Hangrutsche, Bergstürze und Lawinen seit Jahrhunderten Realität sind. Wer sich die Mühe macht, alte Chroniken oder neuere Studien zu durchforsten, stößt auf unzählige Beispiele für vergleichbare Ereignisse – lange vor dem Begriff „Klimakrise“. Natürlich ändern sich die Bedingungen, natürlich können steigende Temperaturen Prozesse beschleunigen. Aber wer Kausalität mit Korrelation verwechselt, betreibt keinen Erkenntnisgewinn, sondern Erzählpolitik.

Hilfe statt Debatten

Besonders problematisch wird es, wenn Politik und Aktivismus solche Ereignisse nicht nur erklären, sondern nutzen wollen. Wenn ein Ereignis wie in Blatten reflexartig als Beweis für das eigene Weltbild interpretiert wird, verlieren wir die Bereitschaft zur offenen Analyse. Dann wird aus einer Naturkatastrophe ein PR-Instrument – auf dem Rücken der Betroffenen. Die Evakuierten in Blatten brauchen keine Debatten über CO₂-Ziele, sondern konkrete Hilfe, verlässliche Risikoanalysen und langfristige Sicherungskonzepte für ihre Region. Und die Schweiz insgesamt braucht nüchterne Wissenschaft – keine Dramaturgie im Namen der guten Sache.

Naturkatastrophen lassen sich nicht verhindern. Aber der Umgang damit entscheidet, ob wir daraus lernen – oder ob wir sie politisch verwerten. Im Moment sieht es leider eher nach Letzterem aus.

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