Raus aus den Alpen?

Der Berg ist gefallen, das Dorf (noch) nicht. Blatten im Kanton Wallis wurde Ende Mai von Felsmassen verschüttet. Dank Frühwarnsystem konnten die Menschen rechtzeitig evakuiert werden.
Kaum war der Staub verzogen, war sie auch schon da: die Debatte. Nicht nur diejenige über einen angeblichen Zusammenhang mit dem Klimawandel. Sondern eine weitere über die Existenzberechtigung eines ganzen Lebensraums.
In urbanen Redaktionsstuben und Kommentarspalten wird nun in einem Tonfall argumentiert, der zwischen gönnerhaftem Unverständnis und zynischer Ferndiagnose pendelt: Warum lebt man überhaupt noch in diesen Tälern? Warum siedelt man sich an einem Ort an, wo Steine vom Himmel fallen können? Warum nicht einfach alle in die Städte ziehen – da ist es sicher, bequem, und der Bus fährt im Zehn-Minuten-Takt? Auch der eine oder andere Experte rät, Umsiedlungen als Option zu prüfen.
Wo soll man noch wohnen?
Was im Einzelfall nötig oder sinnvoll sein mag, ist als generelle Haltung ignorant und gefährlich. Denn der Vorschlag deutet auf einen schleichenden Kulturverlust hin. Die Idee, die Alpen als Wohnraum aufzugeben, wäre gleichbedeutend mit der Aufgabe eines Teils der Schweizer Identität. Unsere Geschichte, unsere Sprache, unsere Landwirtschaft, ja selbst unsere Demokratie sind in den Tälern gewachsen – nicht zwischen Foodtrucks und Elektroscootern am Zürcher Bellevue.
Natürlich ist es legitim, über Risiken zu sprechen. Es ist zynisch, Menschen, die seit Generationen im Einklang mit den Bergen leben, von einer städtischen Perspektive aus belehren zu wollen. Wer sagt, man solle die Alpen entvölkern, weil dort Naturgefahren lauern, müsste konsequenterweise auch Küstenregionen räumen wegen steigender Meeresspiegel, Städte in Erdbebenzonen umsiedeln und Flusslandschaften wegen Hochwasser meiden. Kurz und gut: Man müsste am besten gleich das Wohnen abschaffen.
Zwei verschiedene Welten
Was im Fall von Blatten sichtbar wird, ist ein tiefer Graben zwischen Stadt und Land, zwischen Erlebniswelt und Lebenswelt. Für viele Städter sind die Alpen ein Wochenendparadies, ein Instagram-Hintergrund mit Hüttenromantik, Thermojacke und hoffentlich einer guten WLAN-Verbindung.
Dass dort echte Menschen mit echter Geschichte, mit Kühen, Kindern und Kirchen leben – das stört in dieser romantisierten Sicht eher. Oder schlimmer noch: Es provoziert. Weil es ein anderes Modell des Lebens zeigt. Eines, das nicht rund um die Uhr auf Verfügbarkeit, Effizienz und Komfort getrimmt ist.
› Abonnieren Sie den Corrigenda-Newsletter und erhalten Sie einmal wöchentlich die relevantesten Recherchen und Meinungsbeiträge
Das althergebrachte Siedeln in den Bergen ist keine Laune oder rückständige Sturheit. Es ist ein Ausdruck von Anpassung, von Resilienz, von Heimat. Wer Blatten verlacht, verlacht auch das Prinzip der Dezentralität, das der Schweiz Stabilität und Vielfalt gegeben hat. Wer die Alpen als Wohnort aufgibt, gibt ein Stück Föderalismus auf – und ein Stück Seele.
Natürlich muss Sicherheit gewährleistet sein. Natürlich müssen Menschen über Risiken informiert sein. Aber genau das passiert ja längst. Die Schweiz hat ein ausgeklügeltes System der Gefahrenzonenplanung, der Frühwarnung, des Katastrophenschutzes.
Es ist tragisch, wenn trotzdem Unglücke passieren – aber es ist kein Grund, ein ganzes Lebensmodell zu delegitimieren.
Nur überleben statt leben?
Man sollte sich fragen, warum Stimmen aus den fernen Städten so schnell dabei sind, anderen ihre Lebensweise abzusprechen. Es ist wohl auch ein Ausdruck von Entwurzelung. Wer selbst in einer Mietwohnung im siebten Stock lebt, mit Blick auf die Glasfassade gegenüber, mit anonymen Nachbarn und flüchtigen Bekanntschaften, kann schwer nachvollziehen, was es bedeutet, Teil eines Dorfes zu sein, eines Ortes mit Geschichten, Gesichtern, Gerüchen.
Vielleicht liegt darin der wahre Grund für den Unmut: die Erinnerung daran, dass es ein Leben jenseits der Stadt geben kann – eines mit Tiefe, mit Erde unter den Füssen und Bergen über dem Kopf.
Blatten ist nicht das Problem. Blatten ist ein Symbol. Für die Widerstandskraft, für die Verbundenheit mit dem Land, für die Eigenständigkeit. Wer jetzt fordert, man solle die Alpen aufgeben, sagt letztlich: Gebt die Schweiz auf. Denn die Schweiz ohne Bergtäler, ohne Höfe auf 1.400 Metern, ohne Dörfer mit nur einer Postbuslinie am Tag – das ist keine Schweiz mehr. Das ist ein Investorenparadies mit Alpenblick.
Blatten wird bleiben. Vielleicht anders, vielleicht vorsichtiger, vielleicht mit neuen Schutzmaßnahmen. Aber es wird bleiben. Weil dort Menschen wohnen, die nicht ausrechnen, ob es sich lohnt. Sondern die wissen, dass man Heimat nicht in Quadratmetern oder Risikoindikatoren messen kann. Sondern im Klang der Kuhglocken, im Rauschen des Bergbachs, im Knarren der alten Dielenböden.
Wer das nicht versteht, hat vielleicht ein sicheres Leben. Aber kein volles.
› Kennen Sie schon unseren Corrigenda-Telegram- und WhatsApp-Kanal?
Kommentare
Wer selbst in einer Mietwohnung im siebten Stock lebt, mit Blick auf die Glasfassade gegenüber, mit anonymen Nachbarn und flüchtigen Bekanntschaften, kann schwer nachvollziehen, was es bedeutet, Teil eines Dorfes zu sein, eines Ortes mit Geschichten, Gesichtern, Gerüchen.
Ich kenne beide Welten sehr gut; ich bin als Bauernsbub in rauer Mittelgebirgslandschaft aufgewachsen und nach Stationen u.a. in einer Stadt, deren Größe man sich in D oder der CH im Grunde gar nicht vorstellen kann, wieder in die Heimat zurückgekehrt. Was Sie in dem Zitat schreiben, Herr Millius, ist zu beidem ein ziemlich hohles Klischee; außerdem sollte man nicht den Fehler begehen, irgendwelche medialen Debatten pauschal den "Städtern" zuzuschreiben. Was Borniertheit anbelangt, da nehmen sich Stadt und Land so gar nichts.
Wenn man kein volles Leben ohne knarrenden Dielenboden haben kann, dann erklären Sie mir mal, warum sich auf dem Land die Neubaugebiete in die Landschaft fressen, Dörfer und kleinstädtische Zentren veröden, und warum nicht wenige über den Erhalt ihrer Häuser mit den knarrenden Dielenböden finanziell verzweifeln? Über den Ertrag in ihrer seit Jahrhunderten in ihrer Familie bestehenden Landwirtschaft verzweifeln, obwohl sie riesige subventionierte Ställe oder Biogasanlagen bauen?
Ehrlich gesagt, kommen Sie mir auch nur wie ein 'Städter' vor, der halt über das 'Land' schreibt, nur halt in diesem Fall mit umgekehrtem Vorzeichen.
Was mich die persönliche Erfahrung mit den Linken immer wieder gelehrt hat: Der Linke neigt dazu anzunehmen, dass alle anderen im Grunde genommen genauso denken und genauso leben wollen, wie er selbst. Das geht bis zu dem Punkt, indem eigene Charaktereigenschaften in den politischen Gegner hineinprojeziert werden. "Wenn Linke über ihre Gegner sprechen, so sprechen sie letztlich immer über sich selbst", so hat es einmal ein Bekannter ausgedrückt. Dieser Narzissmus in der Psychologie der Linken ist es, der eine Diskussion mit ihnen so schwer macht, auch wenn man argumentativ die besseren Karten hat.