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Kolumne „Berliner Luft“

Schrullen machen einsam – je älter wir werden, desto schwerer wird die Nähe

Wir alle kennen es. Nach einiger Zeit der Beziehung stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Heiraten? Zusammenziehen? Wann ist man soweit? Die Antwort ist – nie. Der richtige Moment, um zusammenzuziehen, existiert nicht. Er ist ein Phantom. Wer auf ihn wartet, wartet vergeblich.

Und doch halten wir fest an dieser Illusion. Erst noch die Karriere ordnen, die Promotion abschließen, erst mal für sich leben, sich selbst finden, bevor man sich endgültig bindet. Diese Einstellung hat einen verdammt hohen Preis, den offenbar die Wenigsten sehen. Je älter man wird, desto schwerer wird das gemeinsame Leben. Nicht leichter. Nicht reifer. Sondern regelrecht anstrengend.

„Beziehung ist Arbeit“, sagen meine Eltern. Und sie fügen hinzu: „Darum besser früh binden, sich früh für einen (!) Menschen entscheiden, bevor es zu spät ist.“ Ein altmodischer Rat? Vielleicht. Aber einer, der mehr Weisheit enthält, als man auf den ersten Blick wahrhaben möchte. Denn der Mensch unter 30 ist meist biegsamer, großzügiger, bereit, über kleine Schrullen, diese schrägen, befremdlichen Eigenschaften, die wirklich jeder Mensch hat, hinwegzusehen.

Mit den Jahren härtet der Mensch aus

Denn, und diese Einsicht ist wichtig – wirklich jeder Mensch ist objektiv gesehen „komisch“. Warum? Weil jeder ein Individuum ist. Wer mit 24 die Eigenarten des Partners entdeckt – die schiefe Art, Zahnpasta aus der Tube zu drücken oder die Manie, immer alle Fenster sperrangelweit zu öffnen –, lächelt und denkt: „Ach, charmant.“ Wer dieselben Macken mit 44 entdeckt, denkt: „Unerträglich.“

Das Problem sind nicht die Macken allein. Es ist die eigene Unnachgiebigkeit. Mit den Jahren härtet der Mensch aus – in Meinungen, Routinen, Abläufen. Wo früher Leichtigkeit war, regiert Gewohnheit. Und Gewohnheiten sind eifersüchtig. Sie dulden keine Konkurrenz.

Berlin als Hauptstadt der Singles

In Berlin lässt sich das besonders gut beobachten. Nirgendwo sonst ist das Solo-Leben so hochgezüchtet wie hier. Laut dem Amt für Statistik Berlin-Brandenburg besteht mehr als die Hälfte aller Haushalte nur aus einer Person – 55,8 Prozent im Jahr 2023. Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sind es sogar 62,8 Prozent. Die Hauptstadt lebt allein, jeder in seinem Biotop, mit Espressomaschine, Yogamatte und Netflix Unlimited. Das Alleinsein ist hier keine Schande, sondern fast schon ein Lifestyle.

Alleinstehende Berlinerin (Symbolfoto) liegt auf der Couch und schaut Videostreams

Berlin, aber auch jede andere Großstadt, fördert das Aufschieben. Es lockt mit Freiheit, Unverbindlichkeit, Möglichkeiten. Man kann alles tun, ohne jemals jemandem Rechenschaft zu schulden.

Dieser Lebensstil hat seinen Preis. Er verfestigt Eigenheiten und kultiviert sie noch dazu. Irgendwann sind diese Schrullen nicht mehr lustig, sondern sie ersetzen einen möglichen Partner an der Seite.

Ein deutschlandweites Problem

Kurzer Ausflug nach Franken, ins idyllische Kleinsendelbach bei Erlangen. Seit 2021 habe ich dort privat zu tun – genug Zeit, um zu beobachten, dass das Single-Dasein nicht nur ein Berliner Phänomen ist. Auch auf dem Land, zwischen Fachwerk und Kirchturm, leben erstaunlich viele junge Menschen allein. Männer wie Frauen. Und das wundert mich bis heute.

Der Unterschied zu Berlin scheint zunächst offensichtlich. In Franken gibt es noch Rituale, die Gemeinschaft stiften sollen. Kerwa-Feste heißen sie, Kirchweihtraditionen mit Bierbänken, Blasmusik und einem gehörigen Schuss Lokalkolorit.

Auf dem Volksfest in Franken: Mittendrin Kolumnistin Jana Hermann

Einmal im Jahr lockt die Bergkirchweih im nahegelegenen Erlangen Zehntausende Besucher an – so etwas wie der kleine Bruder des Oktoberfestes. Man könnte meinen, hier ist der perfekte Ort, um sich kennenzulernen, zu tanzen, sich zu verlieben. Mit den schönen Folgen einer Familiengründung.

Das ländliche Fest, die urbane Feier, das große Spektakel. All das bringt die Menschen zusammen. Nur dauerhaft zusammenbleiben – das tun sie auch unter Markus Söder und seiner Werbung für bayrisches Lebensgefühl und Tradition immer seltener.

Denn das Bild trügt. Natürlich entstehen Partnerschaften, natürlich gibt es Familien. Aber was dominiert, ist auch hier das Single-Leben. Auch in Bayern sind die Städte Single-Hochburgen.

Ein globales Phänomen

Doch Berlin sowie ganz Deutschland sind kein Sonderfall. Das Phänomen hat längst globale Dimensionen. Weltweit nimmt die Zahl der Einpersonenhaushalte stetig zu. Laut Vereinten Nationen könnte deren Zahl bis 2050 auf 35 Prozent steigen.

Ökonomische Faktoren scheinen den Ausschlag zu geben. Vor allem Frauen, deren Rolle in der Wirtschaft immer stärker wird, entscheiden sich häufiger für ein „selbstbestimmtes“ Leben ohne feste Partnerschaft. Morgan Stanley etwa beschreibt in einer Analyse, wie die wachsende Erwerbsbeteiligung und finanzielle Unabhängigkeit von Frauen die globalen Konsum- und Wohnmuster nachhaltig verändern (Morgan Stanley: Women’s impact on the economy). Wo Selbstbestimmung triumphiert, nimmt Bindung ab.

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Das Resultat ist eine Autonomie, die zur Norm wird. Und was als Autonomie beginnt, endet nicht selten als Isolation. Man wollte frei sein, ungebunden, ungestört. Keine Kompromisse beim Einrichten, kein Streit über Ordnungssysteme, keine Diskussionen über Radiowecker oder Raumtemperatur. Man wollte „sich selbst finden“ – und hat sich dabei manchmal nur gründlicher in sich selbst verkrochen.

Wenn Freiheit zum Käfig wird

Denn diese Freiheit kippt irgendwann in Leere, in Unverträglichkeit, in eine schrullige Eigenwelt, die niemand mehr betreten will. Es ist wie mit einem Garten, der nie für Gäste gedacht war. Anfangs blüht er wild und bunt, später überwuchern Disteln den Eingang.

Und hier liegt die bittere Pointe. Während wir frei sind, kultivieren wir unsere Schrullen, weil sie uns ja so besonders machen. Aber je mehr wir sie pflegen, desto weniger lassen sie sich teilen. Der Partner, der Mitbewohner, der mögliche Gefährte – er wird nicht zum Begleiter, sondern zum Eindringling. Wer jahrelang gewohnt ist, allein zu bestimmen, wie laut die Musik läuft, wie die Dinge in der Wohnung geordnet sind oder welches Olivenöl gekauft wird, empfindet jedes Abweichen als Störung. Der andere wird zur Zumutung, nicht zur Bereicherung.

So verwandelt sich die perfekt eingerichtete Wohnung in eine Festung, die nicht mehr zum Teilen gedacht ist. Das eigene Sofa ist durchgesessen, aber unverhandelbar. Der Kühlschrank ist exakt sortiert – und wehe, jemand stellt die Milch in die falsche Türablage. Oder jemand kauft die falsche Milch. Kuh statt Hafer, Hafer- statt Kuhmilch. Selbst die Gewohnheit, abends auf dem immer gleichen Platz zu sitzen, wirkt wie ein stilles Gesetz. Der beste Freund und Partner: das Smartphone.

Beziehung, Ehe: Sie leben vom Nachgeben, vom Aushandeln, vom Platzmachen für den anderen

Unversehens hockt man irgendwann in den eigenen vier Wänden, stolz auf die mit Bedacht kreierte Mischung aus Espressomaschine, Zimmerpflanzen und Designerstuhl, und merkt: Die größte Schrulle von allen ist das Alleinwohnen selbst. Es beginnt als Wahl – und endet oft als Zwang.

Schrullen kennen keine Kompromisse. Sie sind liebgewordene Rituale, kleine Eigenwelten, die wir mit den Jahren immer sturer verteidigen. Eine Beziehung aber lebt vom Nachgeben, vom Aushandeln, vom Platzmachen für den anderen. Schrullen dagegen sind unnachgiebig. Sie dulden keinen Widerspruch.

Der „richtige“ Moment zum Zusammenziehen ist eine Illusion. Wer ihn verpasst, verpasst vielleicht mehr, als er ahnt. Und so kann man sagen, dass auch die Freiheit eine Schrulle ist, eine Gewohnheit – in Berlin wie in Seoul, in Kreuzberg wie in Kalifornien, in München wie in Kleinsendelbach.

Berlin ist gnädig in seiner Verführung

Am Ende sitzt man da, mit 35, 40, 50 plus, und denkt: Vielleicht hätte ich doch mit 27 mit meiner damaligen, zugegeben etwas komischen und ein bisschen nervigen Freundin zusammenziehen sollen.

Dann klingelt das Handy. Ein Freund sagt: „Komm rüber, wir grillen auf’m Dach.“ Und für einen Abend ist die Einsamkeit vergessen. Berlin ist gnädig in seiner Verführung. Es lässt uns glauben, dass Schrullen ein Ausdruck von Individualität sind. Doch tief im Innern ahnen wir: Sie sind auch ein stiller Schwur auf das Alleinbleiben bis ins hohe Alter.

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