Beendet das Schweigen

US-Schauspieler Orlando Bloom war 18 Jahre alt, da erfuhr er, dass der Mann, den er bisher für seinen Vater gehalten hatte, nicht sein tatsächlicher Erzeuger ist. Sänger Eric Clapton schnappte schon im Alter von neun Jahren seltsame Gesprächsfetzen auf und kam so hinter ein sorgsam gehütetes Familiengeheimnis: die Menschen, bei denen er aufwuchs, waren in Wirklichkeit seine Großeltern. Seine richtige Mutter, die bereits als Fünfzehnjährige mit ihm schwanger geworden war, hatte sich als seine große Schwester ausgegeben. Eine schmerzhafte Erkenntnis. Laut eigener Aussage entwickelte er sich zu einem schwierigen Kind, das sich von seiner Familie zurückzog. Die Frage nach seinen Wurzeln verarbeitete er in seinem Lied „My Father’s Eyes“.
Unausgesprochenes gibt es wohl in fast jeder Familie. Themen wie beispielsweise Ehebruch, nichteheliche Schwangerschaft, Abtreibung, Adoption, Kuckuckskinder, Vergewaltigung, psychische Krankheiten, Alkoholismus, Suizid und Kriegstraumata stellen häufig Geheimnisse dar, die zu offenbaren oder über die zu reden alles andere als selbstverständlich ist. Die einen sind eingeweiht, die anderen nicht. Oft aber liegt die Wahrheit, egal, wie sehr sie verheimlicht wird, „irgendwie in der Luft“. Denn ist die Sache endlich ausgesprochen, heißt es oft: „Ich wusste es immer.“
Man sollte nicht unterschätzen, dass Menschen meistens spüren, wenn ein Geheimnis mit im Spiel ist. Wenn also dort geschwiegen wird, wo ausgesprochen werden muss. Gerade Kinder haben gute Antennen dafür, auch wenn Erwachsene davon überzeugt sind, dass sie davon nichts mitbekommen. Doch gerade dadurch, dass dem Kind etwas vorenthalten wird, fühlt es sich ausgegrenzt. Und das wirkt sich nicht unerheblich auf das Eltern-Kind-Verhältnis aus: Es erlebt die Geheimhaltung als emotionale Zurückweisung.
Ein Geheimnis steht immer zwischen den Betroffenen
Auch grundsätzlich gilt: Schweigen kann fatale Folgen haben. Es kann unter anderem Intimität und Vertrauen zerstören. Man darf nie vergessen: Ein Geheimnis steht immer zwischen den Betroffenen. Und das kann deren Verhältnis auf Dauer beschädigen. Der Schaden ist in der Regel größer als die Offenlegung des Geheimnisses selbst, und sei es noch so schmerzhaft. Sicher gibt es auch Situationen im Leben, wo Schweigen der bessere Weg ist. Nicht immer muss alles an- und ausgesprochen werden. Aber wahr ist auch: Zu oft wird da geschwiegen, wo nicht geschwiegen werden darf. Weil dadurch etwa eine Lüge unterstützt wird. Oder weil man Unrecht so weiterlaufen lässt und damit verstärkt.
Dabei geht es nicht nur um persönlich erlittenes Unrecht, sondern auch um globales, politisch verursachtes. Umweltskandale, Korruptionsskandale, Missbrauchsskandale – sie kamen ans Licht, weil Menschen sich entschlossen haben, eben nicht zu schweigen. Kein leichter Schritt. Oft braucht es großen Mut, um an die Öffentlichkeit zu gehen.
Der bekannte Whistleblower Edward Snowden setzte sein bisheriges Leben aufs Spiel, als er im Sommer 2013 die Überwachungs- und Spionageaktivitäten der USA öffentlich machte. Für ihn war Schweigen keine Option. Seinen couragierten Schritt erklärte er so: „Ich glaube an das 1945 in Nürnberg verkündete Prinzip: Der Einzelne hat eine internationale Verantwortung, die höher steht als nationale Gehorsamspflichten. Daher haben Bürger die Pflicht, nationale Gesetze zu brechen, um Verbrechen gegen Frieden und Menschlichkeit zu verhindern.“ Als Mitarbeiter der amerikanischen Geheimdienste CIA, NSA und DIA war er zur Verschwiegenheit verpflichtet; sein moralisch integeres Vorgehen war also, so absurd es auch ist, gesetzeswidrig. Bis heute lebt er im russischen Exil an einem geheimen Ort.
„Ist in Ordnung, lass gut sein“?
Nun dürfte selten der Fall sein, dass wir in eine derart brisante Lage kommen wie Snowden. Im Alltag steht oft nichts weiter auf dem Spiel als die Stimmung, die verhagelt wird, weil wir ansprechen, was andere beschweigen. Es ist unbequem, es ist anstrengend, weil Widerstand und Angriffe nicht selten die Folge sind. Wir müssen damit zurechtkommen, dass der andere sich gekränkt fühlen könnte. Der Gekränkte wiederum ist gut beraten, nicht zu verbergen, wie es ihm geht. Also nicht seinerseits das Schweigen zu wählen. Denn wenn man sich getroffen fühlt und sagt, „ist in Ordnung, lass gut sein“, läuft die Beziehung zwar weiter, doch innerlich trägt man das Gewicht des Konflikts.
Das ist auch gesellschaftlich so. Dass über die eklatanten Verfehlungen während der Covid-19-Pandemie vor allem geschwiegen wird, insbesondere im sogenannten Mainstream, belastet uns alle auf kollektiver Ebene. Es stresst, es kostet Lebensenergie. Aufarbeitung, also offenes Aussprechen, ist also auch vor diesem Hintergrund wichtig.
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Der Mainstream blendet auch bei anderen Themen, etwa bei Migration, Meinungen aus, die ihm nicht genehm sind. Andere Stimmen sollen zum Schweigen gebracht werden. Worte werden als unzumutbar erklärt und Menschen zur „Persona non grata“ abgestempelt und ins Abseits befördert. Redner werden am Sprechen gehindert, Kabarettisten und Sänger an Auftritten. Neben sozialer Ächtung ist auch der Verlust des Arbeitsplatzes eine mögliche Konsequenz. Die Einschüchterung funktioniert. Menschen, die eigentlich gar nicht schweigen wollen, tun es trotzdem.
Sich von der Last der Geheimhaltung befreien
Laut einer Umfrage des Allensbach-Instituts hat jeder zweite Deutsche Angst davor, seine Meinung frei zu äußern. Der verstorbene Papst Franziskus warnte bereits Anfang des Jahres 2022 vor der Cancel-Culture als „eine Form der ideologischen Kolonisierung, die keinen Raum für Meinungsfreiheit lässt“. Das Schweigen wird zu einer Kettenreaktion. Die deutsche Publizistikwissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann prägte dafür bereits Ende der 1960er-Jahre den Begriff „Schweigespirale“. Demnach hängt die Bereitschaft vieler Menschen, sich zu ihrer Meinung öffentlich zu bekennen, von der Einschätzung des aktuellen Meinungsklimas ab.
Letztlich ist die Entscheidung gegen das Schweigen meist der leichtere Weg, auch wenn es erst mal nicht so scheint. Wer sich immer verstecken und verbiegen muss, ist ständig auf der Hut, lebt ständig in Angst. Er versteckt sein wahres Ich, er verrät seine Integrität. Es kann einen regelrecht auffressen, sich verstellen zu müssen, sei es in Debatten, in Beziehungen, in der Familie. Wer offener mit allen Themen umgeht, macht sich hingegen weniger angreifbar, muss nicht befürchten, irgendwann ertappt zu werden. Zudem befreit er sich von der Last der Geheimhaltung und damit auch von dem, was zwischen ihm und den anderen steht. Es entsteht eine Nähe, die das Schweigen verhindert hat.
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