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Kolumne „Rome reloaded“

Vom römischen Circus zur Sozial- und Unterhaltungsmaschinerie

„Die Masse hat seit langem ihre Sorgen abgeworfen. Das Volk, das einst die Militärkommandos, Konsuln, Legionen und alles andere verlieh, mischt sich nun nicht mehr ein und sehnt sich mit all seinem Herzen nur nach zwei Dingen: Brot und Spielen.“ (Iuv. Sat. 10,77–81)

Wenige Formulierungen sind wohl bekannter als das von dem römischen Dichter und Satiriker Juvenal geprägte panem et circenses? „Brot und Spiele“ sind zu einem festen Synonym für die subtileren Herrschaftsmechanismen des Römischen Reiches geworden.

Dabei sind die Zeiten lange vorbei, in denen wir auf diese Formulierung bloß wie auf eine allgemeine Warnung verweisen konnten. Denn die politische und gesellschaftliche Funktion von Unterhaltung und Versorgung ist gerade heute mehr denn je zum vorrangigen Mittel der politischen Kontrolle geworden.

Zu einem System, das auf der gezielten Sedierung politischer Teilhabe durch materielle Grundabsicherung und massenwirksame Spektakel beruht. Doch was bedeuten diese Analogien konkret für ein Europa des virtuellen wie sportlichen Dauerrausches und der ausgeklügelten Sozialstaatlichkeit?

Der Circus Maximus der Antike: Unterhaltung als Herrschaftsinstrument

Werfen wir einen Blick zurück in die Vergangenheit. Gladiatorenkämpfe, Wagenrennen, Tierhetzen und Theateraufführungen waren in der antiken Welt schon immer populär gewesen und oftmals aus einem religiösen Kontext heraus entstanden. Dies zeigt etwa die Verbindung zwischen Gladiatorenkämpfen und etruskischen Bestattungsriten oder die Genese des Theaters aus dem Dionysos-Kult.

Im 1. Jh. v. Chr. aber war die Zeit lange vorbei, in der man jene Spiele als ernste Form der Götterverehrung oder zumindest nur als harmlose Zerstreuung betrachten konnte: Sie hatten allesamt eine eminent politische Funktion übernommen. Nicht nur, wie das Theater, durch Politisierung des Stoffes, sondern zunächst durch systematische Verquickung mit der Selbstdarstellung der Politiker und schließlich durch die offensichtliche Sedierung der Bevölkerung durch billiges oder sogar gratis angebotenes Daueramüsement.

Wer das Volk unterhalten konnte, gewann zunächst sein Wohlwollen. Später schließlich verhinderte die schier endlose Ausdehnung der Spiele dann jegliche Form politischen Mündigwerdens. Politiker wie Caesar, Pompeius und Crassus ließen auf eigene Kosten spektakuläre Spiele veranstalten.

Ganze Tierparks wurden aus Afrika importiert, um in Rom publikumswirksam geschlachtet zu werden, während Hunderte Gladiatoren in choreografierten Schlachten starben und die bedeutendsten Schauspieler aus der ganzen Welt zusammengerufen wurden, um in Rom die großen Klassiker des Theaters aufzuführen. Der Circus Maximus, das Pompeius- und das Marcellustheater und schließlich das Kolosseum wurden Orte der ultimativen Machtdemonstration und Volksbindung.

Gratis-Getreide machte das Volk träge und leerte die Staatskasse

Zugleich wurde das römische Volk durch die sogenannten Frumentationen, die staatlich subventionierten Getreideverteilungen, ruhiggestellt. Was zunächst als Versuch begonnen hatte, die Versorgung der ärmsten Bevölkerungsschichten in Zeiten der Inflation und unsicherer Getreideimporte durch staatliche Beihilfen zu sichern, wurde allmählich zum probaten Mittel des Stimmenkaufs.

Jeder populäre Politiker bemühte sich, die Zuteilungen immer billiger und umfangreicher zu gestalten, bis schließlich unter C. Gracchus, Gaius Sempronius Gracchus, die völlige Regelversorgung breiter Volksschichten beschlossen werden sollte, wie bereits Cicero kritisierte, als er schrieb:

„C. Gracchus (123 v. Chr.) wollte ein Gesetz über die Verteilung von Getreide einbringen. Das Volk empfing dies mit großer Freude: Die Nahrung wurde ihm nunmehr ohne jede Arbeit in Hülle und Fülle zur Verfügung gestellt. Die besseren Leute aber verwarfen dieses Gesetz, da es ihnen sowohl den Staatsschatz zu leeren als auch das Volk an Müßiggang zu gewöhnen schien.“ (Cic., Sext. 103)

Unter dem Politiker Publius Clodius Pulcher kam es dann in der Tat zur völligen Kostenlosigkeit der Getreideversorgung, die einen Fünftel des römischen Staatsschatzes verschlang und von ca. 320.000 Menschen beansprucht wurde – der Hälfte der gesamten stadtrömischen Bevölkerung.

Diese Doppelfunktion der Maxime „Brot und Spiele“ – materielle Sicherheit und emotionale Zerstreuung – machte das Volk politisch letztlich entbehrlich. Die Republik, einst getragen von aktiven Bürgern, wurde zur Arena passiver Konsumenten, in der die politischen Debatten schrittweise an Bedeutung verloren. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf das nächste Spektakel, die nächste Ausschüttung. Ein System, das von der stadtrömischen Öffentlichkeit bald schrittweise in der einen oder anderen Weise auf das gesamte Reich ausgedehnt wurde.

Die moderne Arena: Stadion, Bildschirm, Sozialstaat

Muss überhaupt betont werden, dass sich im modernen Westen ein analoges Arrangement etabliert hat? Während die Demokratie formal aufrechterhalten wird, verschiebt sich der Fokus des öffentlichen Interesses zusehends auf Ereignisse der vor allem virtuellen Unterhaltung und natürlich auch der sportlichen Konkurrenz.

Der Fußball – insbesondere die Champions League, die Europameisterschaften und die Weltmeisterschaften – hat sich zu einem paneuropäischen Mythos entwickelt. Millionen verfolgen die Spiele, identifizieren sich mit Teams, leben Emotionen aus, die in der politischen Arena längst keine Rolle mehr spielen.

Junger Mann mit einer VR-Brille auf der Computerspielemesse gamescom: Die Empfindung, Teil einer Masse zu sein, wurde durch die Einsamkeit des Bildschirms oder der VR-Brille verdrängt

Während jene Spiele immerhin noch ein Element des kollektiven Enthusiasmus beinhalten und somit das unberechenbare Risiko in Kauf nehmen, das Volk seine eigene Macht sehen und spüren zu lassen, hat die modernste Form des Zirkus, nämlich das völlige Versinken in der virtuellen Welt verschiedenster Spiele, diese Gefahr bereits geschickt ausgebügelt.

Dies, indem die Empfindung, Teil einer Masse zu sein, durch die Einsamkeit des Bildschirms oder der VR-Brille verdrängt wurde. Wo früher die Masse immer wieder auch ihre Unzufriedenheit zur Schau stellen und die Kaiser zum Umdenken zwingen konnte, herrscht heute vielmehr die Auswertung der Algorithmen und Klickstatistiken.

Unterhaltungskonsument statt Staatsbürger

Hinzu tritt ein ausgebautes System sozialstaatlicher Leistungen: Kindergeld, Bürgergeld, Mietzuschüsse, Transferzahlungen. Eine flächendeckende Versorgungsstruktur hat sich etabliert, die das Existenziell-Wirtschaftliche beruhigt, aber zugleich eine neue Form der Abhängigkeit erzeugt.

Zudem wird sie auf absehbare Zeit auch in den angeblich „freien“ Demokratien des Westens fraglos an eine Art Sozialkreditsystem angebunden. Die Bürger werden zunächst durch die systematische staatliche Förderung des Milliardärssozialismus und dann der Künstlichen Intelligenz weitgehend ihrer Arbeitstätigkeit beraubt. Dadurch werden sie dann zum Konsumenten reduziert und schließlich durch eine Grundsicherung sediert, die an politisches Wohlverhalten geknüpft ist.

Kein Wunder, dass die aktive Beteiligung am öffentlichen Raum – etwa durch Wahlbeteiligung, Engagement in Parteien und Vereinstätigkeit – seit Jahrzehnten schrittweise sinkt. Nur hier und da, wenn die Stimmung entsprechend aufgepeitscht worden ist und es vermeintlich um „wichtige“ Themen geht, die allesamt nicht Werte oder Projekte, sondern Verteilungskämpfe betreffen, wird noch ein gewisses ziviles Engagement mit Überraschungen erreicht. Man denke hier etwa an die letzten US-Wahlen. Es ist aber anzunehmen, dass sich diese Tendenzen mit der Verstetigung der neuen, postdemokratischen Gesellschaft ebenfalls aufs Nötigste reduzieren werden.

Zugleich steigen Medienkonsum, Unterhaltungssucht und Sportbegeisterung; der „Staatsbürger“ weicht dem „Unterhaltungskonsumenten“. Auch die Rolle des Staates verschiebt sich: Er wird nicht mehr als politisches Projekt wahrgenommen, sondern als Serviceanbieter und verteilungstechnische „Nanny“.

Die kollektive Urteilsfähigkeit geht verloren

Diese Entwicklung hat gravierende Folgen. Wie im späten Rom verliert auch der moderne Bürger die Fähigkeit und sogar das Interesse, das Gemeinwesen als seinen eigenen Handlungsraum zu begreifen. Wo Politik nicht mehr mit Handeln, sondern mit Verteilen gleichgesetzt wird und auch die politische Klasse selbst sich weitgehend als korrupt oder unfähig erwiesen hat, ersetzt der Konsum die politische Teilhabe. Teils aus Verachtung, teils aus Infantilisierung.

Dieser Verlust ist doppelter Natur: Erstens wird die kollektive Urteilsfähigkeit systematisch geschwächt, ja korrumpiert. Statt Argumente abzuwägen, folgen viele der medialen Inszenierung, der sportlichen Symbolik, dem Affekt oder einfach dem Appell des Meistbietenden. Zweitens wird die politische Klasse von der Notwendigkeit befreit, dem Volk zu dienen, da Letzteres doch einfach gekauft werden kann. Es genügt, die Versorgungsleistungen aufrechtzuerhalten oder zu steigern und emotional aufgeladene Großerlebnisse zu schaffen, um sicherzugehen, dass Grundsatzfragen nur sehr begrenzte Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Solange noch die schlimmste Katastrophe in den Nachrichten von den Trivialitäten des Sportberichts gefolgt wird, dürfte der Bürger beruhigt den Eindruck erhalten, alles sei unter Kontrolle. Genauso wie jene römischen Bürger, die sich nach der Eroberung ihrer Stadt durch die Barbaren vor allem darum sorgten, ob die nächsten Circusspiele weiterhin stattfinden würden.

Auch unsere Zukunft?

Was folgt daraus für die Zukunft? Falls wir davon ausgehen, dass die Entwicklung der späten römischen Republik den Weg vorhersagt, den unser spätzivilisatorisches Abendland beschreiten wird, ist es interessant, sich die Entwicklung von panem et circenses in der Zeit des Kaiser Augustus anzuschauen.

Spätestens unter dem ersten Princeps war das System nämlich voll ausgebaut. Wer registriert war, erhielt monatlich Getreide, später auch Olivenöl, Fleisch und gelegentlich sogar Geld. Dabei war dieser Weg nicht von Anfang an vorgezeichnet. Im Gegenteil hatte sich Caesar zunächst bemüht, das Volk zu mehr Verantwortung hinzuführen und ließ die Liste der Getreideempfänger auf die Hälfte zusammenkürzen. Eine Maßnahme, die mit vielen anderen ähnlichen Reformen die sehr negative Stimmung erklärt, die schließlich in der Ermordung des Diktators gipfeln sollte.

Augustus, wiewohl in den meisten anderen Bereichen der Politik überaus konservativ gesonnen, lernte aus diesem Scheitern und soll in einer seiner eigenen Schriften Folgendes bekannt haben:

„Ich habe einen Anlauf dazu genommen, die öffentlichen Getreidespenden für immer abzuschaffen, weil die sichere Hoffnung auf diese der Landwirtschaft eine Menge Kräfte entzieht; aber ich habe die Maßnahme nicht zur Durchführung gebracht, weil ich überzeugt bin, dass nach meinem Tod das Buhlen um die Gunst der Menge über kurz oder lang die Veranlassung zur Wiedereinführung dieses Missbrauchs sein würde.“ (Suet., Aug. 42,4)

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Dementsprechend restituierte Augustus die Namen der von Caesar ausgeschlossenen Getreideempfänger und brachte die Zahl wieder auf die alte Höhe, um weiterhin die Gunst der Bürger zu genießen. Auch darüber hinaus verstand er es meisterhaft, die symbolischen Ressourcen des römischen Staates zu kontrollieren und das Volk unter einer wahren Flut von Spielen zu begraben, die in einem Rechenschaftsbericht säuberlich aufgelistet sind. Auch hier lernte er aus dem Scheitern seines Adoptivvaters, indem er höchstpersönlich bei den wichtigsten Spielen Präsenz zeigte, um seine Volkstümlichkeit zu demonstrieren:

„Er selbst pflegte die Circusspiele von einer der Logen seiner Freunde oder Freigelassenen zu betrachten, manchmal von einer Liege aus, zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern. […] Und während er die Spiele verfolgte, machte er nichts anderes gleichzeitig, sei es, um jedem Murren vorzubeugen, weil er sich erinnerte, dass man es Caesar, seinem Vater, vorgeworfen hatte, dass er Briefe las und sie sogar während der Spiele beantwortete, sei es, weil jene Vergnügen ihn tatsächlich in ihren Bann zogen.“ (Suet. Aug. 45,1–3)

Untergang durch zivilisatorische Erschöpfung

Ähnliches sollte wohl auch für die Zukunft des Westens zu erwarten sein. Selbst eine „augusteische“ Reform dürfte kaum eine Mündigwerdung erzielen können – oder wollen. Die römische Republik ging nicht nur durch die Caesaren zugrunde, sondern vor allem durch ihre eigene zivilisatorische Erschöpfung.

Die Institutionen wurden formal beibehalten, doch sie waren entleert. Die Bürger, an Versorgung und Unterhaltung gewöhnt, hatten das Gespür für Freiheit, Verantwortung und Pflicht verloren und keine Kraft mehr, aus den eigenen Reihen ein gesundes System zu schaffen und sich zu diesem Zweck notfalls selbst zu opfern.

Gleichzeitig wurde selbst den idealistischsten Politikern klar, dass sie die Massen nicht durch verantwortungsvolle Reformen auf ihre Seite bringen konnten, sondern nur durch permanentes Blenden und Versorgen, sodass es kein Zufall ist, dass sich gerade in der frühen Kaiserzeit die besten und verantwortlichsten Geister angeekelt von der Politik abwandten.

Schläfrige Unmündigkeit

In der westlichen Welt bereitet sich eine ähnliche Erschlaffung vor. Die nationalen Parlamente verlieren schon jetzt an Bedeutung, Entscheidungen werden technokratisch vorbereitet, postdemokratisch durchgesetzt und medial „erklärt“. Der Bürger schaut zu, leidet unter diffusem Unbehagen, bleibt aber bis auf einige Ausnahmen in der Mehrheit weitgehend passiv. Fußball und Onlinespiele sind spannender als jede Parlamentsdebatte und der nächste Feiertag wichtiger als der nächste Wahlgang.

Zwar ist jenes System noch nicht ganz ausgereift und die politische Macht noch zu instabil, sodass wir mit ähnlichen Krisen, Überraschungen und Unruhen wie in der späten Republik rechnen müssen. Die Ereignisse in Frankreich und den Vereinigten Staaten zeigen das bereits deutlich.

Spätestens dann aber, wenn sich nach der Zeit der kommenden „Caesaren“ ein neues, gleichsam imperiales Verwaltungssystem etabliert hat, dürfte auch der Bürger rasch wieder in seine nicht ganz unverschuldete Unmündigkeit verfallen und das „Event“ jedem Ethos vorziehen, bis vielleicht in ein paar Jahrhunderten – oder vielleicht nur Jahrzehnten – die nächste Völkerwanderung ihn aus dem süßen Traum der Sedierung wecken wird …

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