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Heimatverbundenheit

Wanderjahre – aber mit Rückkehr zu den Wurzeln

Was bewegt jemanden dazu, von zuhause wegzuziehen? Im ersten Buch Mose wirft Gott Abram in dessen 75. Lebensjahr aus dem Haus seines Vaters. Viel wissen wir nicht über Abrams vorheriges Leben. Normalerweise bedeutet das im Rahmen einer Erzählung, dass es wenig zu erzählen gibt, bevor die Handlung beginnt. Wir kennen die Verwandtschaftsverhältnisse des zukünftigen Patriarchen und wir kennen den Namen seiner Frau Sarai. Mehr aber nicht.

Erst mit der Anweisung Gottes beginnt für den Leser das tatsächliche Leben Abrams. Er hat zu diesem Zeitpunkt schon ein stattliches Alter erreicht, doch er scheint noch nicht erwachsen zu sein. Erst nach 24 Jahren der Wanderschaft und Abenteuer schließt Gott Seinen Bund mit Abram. Und endlich verdient er den Namen Abraham.

Eine interpretative Schablone, die wir über die Geschichte Abrahams legen können, ist das Erwachsenwerden eines jeden Menschen. Während wir als Kinder heranwachsen, passiert in den meisten Fällen nicht viel Berichtenswertes – auch wenn uns viele Erlebnisse der Kindheit prägen. Oft sind wir fremdbestimmt oder behütet von unseren Eltern und unserem weiteren Umfeld. Erste Regungen der Eigenständigkeit ziehen uns in die Welt hinaus. Wir machen Erfahrungen, erleiden Rückschläge, feiern Erfolge. Mit Taten und Reife verdienen wir uns unseren Namen und werden zu einer eigenmächtigen Person. Für Abraham ist dies mit der Schwangerschaft seiner Frau Sarai verbunden, die ebenso einen neuen Namen erhält: Sara.

Für das Glück in die Ferne schweifen

Abraham erreicht dies alles im Zuge einer langen Reise, die ihn weit aus seiner Heimat fortführt. Was können wir daraus ableiten? Dass ein jeder eine solche Reise antreten muss, die ihn weit weg von seinen Wurzeln führt und er womöglich nie wieder zu ihnen zurückkehren kann? Damit sich sein Schicksal erfüllt und er sein wahres Potential entfaltet?

Es gibt sie, die Unangepassten. Sie müssen ausbrechen, denn für ihre Talente und Neigungen ist ihre Heimat nicht das richtige Umfeld. Sie finden dort nicht die passende Ausbildung und nicht die Menschen, mit denen sie gut umgehen können. Sie müssen deswegen einen anderen Ort suchen. Manch Glücklicher findet nach seinen Jahren der Lehre und Wanderschaft einen Platz, an dem er sich niederlassen, eine Familie gründen und sich in sein neues Umfeld einfügen kann.

Andererseits gibt es die geradezu zwanghafte Tendenz, die Heimat für den Beruf verlassen zu müssen und nur noch an Weihnachten und Geburtstagen in die Heimat zurückzukehren. Es gab in vergangenen Zeiten die Wanderjahre, während derer es Gesellen nicht erlaubt war, sich ihrer Heimat zu nähern. Sie sollten sich in der Ferne neues Wissen für ihre Meisterprüfung aneignen. Die Heimkehr gehörte allerdings nach den Wanderjahren zum Prozess und wurde mit einer großen Feier begangen.

Entwurzelung und Einsamkeit durch geforderte Mobilität

Während sich nur noch wenige Handwerker auf Wanderschaft begeben, gehört es heute gerade in akademischen Kreisen zum guten Ton, an verschiedenen Orten und bestenfalls auch im Ausland studiert zu haben. Wer kein Erasmus-Semester absolviert hat, scheint ein Defizit zu haben. Egal, ob das Semester dem Studium oder dem Feiern mit anderen Austauschstudenten gewidmet war. Das zeigt sich nicht nur im Austausch von persönlichen Erfahrungen, sondern auch bei der Bevorzugung von Lebensläufen mit Auslandsstationen in den Unternehmen. Auch wird für die Arbeit hohe Mobilität erwartet. Für eine neue Arbeitsstelle sein etabliertes Umfeld zu verlassen, gilt als selbstverständlicher Schritt.

Unbeschwerte Momente wie diese prägen Kindheitserinnerungen. Es lohnt sich, wenn die Eltern in die Heimat ihrer Kinder investieren – auch wenn dies mit Mühen verbunden ist

Das mag dem Einzelnen zu wirtschaftlichem Erfolg verhelfen. Wir leben aber zunehmend in einer Gesellschaft, die vom Individuum erwartet, sich seiner Wurzeln und Bindungen zu entledigen. Die wachsende Einsamkeitsbelastung in Deutschland, auf die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hinweist, rückt die Vorteile der Mobilität ins Zwielicht. Im Einsamkeitsbarometer des Ministeriums für das Jahr 2024 heißt es zwar, dass sich die Einsamkeitsbelastung nach den Corona-Maßnahmen der Jahre 2020 und 2021 wieder in Richtung der Jahre vor den Lockdowns zurückentwickelt. Die Autoren des Berichts heben aber hervor, dass das Fehlen einer stabilen Partnerschaft und das Alleinleben signifikant zu Einsamkeit beitragen.

Außer in der Altersgruppe der über 75-Jährigen nahmen die Anteile jener, die allein und in keiner Partnerschaft lebten, im Erhebungszeitraum seit 1991 zu. Unter den 18- bis 29-Jährigen hatten 1991 rund 59 Prozent keinen Partner, rund 12 Prozent lebten allein. 2021 waren rund 75 Prozent von ihnen partnerlos und rund 21 Prozent alleinlebend. In der Altersgruppe 31 bis 50 Jahre erhöhten sich die Anteile von rund 19 Prozent der Partnerlosen auf etwa 32 Prozent und von rund 11 Prozent der Alleinlebenden auf rund 18 Prozent.

Zunehmende Bindungslosigkeit

Die Autoren des Berichts können sich darüber freuen, dass die Einsamkeit bei älteren Personen in den 2010er-Jahren signifikant zurückgegangen ist. Was passiert aber, wenn es die jüngeren Altersgruppen zunehmend weniger schaffen, sich in Paarbeziehungen oder Gemeinschaften einzubinden? Auf lange Sicht droht hier ein Problem, das mit starken psychischen Belastungen verbunden ist.

Wirtschaftliche Anreize, mobil zu bleiben und sich nicht zu binden, leisten hierzu einen Beitrag. Dabei wird ein Menschenbild offenbar, das kaum hinterfragt wird: Alle Lebensbereiche haben sich dem wirtschaftlichen Erfolg unterzuordnen. Dieser dient wiederum nicht dazu, für sich und sein Umfeld zu sorgen, sondern einen möglichst hohen Lebensstandard zu ermöglichen. Gerne auf Kredit finanziert – was abermals wirtschaftlichen Erfolg nötig macht. Wer Mobilität und damit berufliche Möglichkeiten, Prestige oder ein höheres Gehalt ausschlägt, erscheint in den Augen Vieler als sonderbar.

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Können wir sagen, dass ein solcher Lebensweg und diese gesellschaftlichen Zustände den Auszug Abrahams aus seiner Heimat widerspiegeln? Wohl eher nicht. Abrahams Erfolg bestand nicht nur darin, dass er grundsätzlich große Taten vollbrachte. Er schuf für seine Nachkommen überhaupt erst die Konditionen, damit aus ihnen ganze Völker hervorgehen konnten. Er leistete Pionierarbeit.

Seinen Nachkommen gab Gott ein Land zum Leben und zum Pflegen. Und daraus folgt ein Auftrag sowohl für diejenigen, die wegziehen müssen, als auch für die, die das Erbe ihrer Heimat annehmen. Letztere lernen in ihrer Heimat, gründen dort ihre Familie, sind dort Teil einer festen Gemeinschaft. Trotzdem führt auch ihr Weg von den Eltern weg und zwingt sie, eigene Entscheidungen zu treffen. Die Reise findet allerdings nicht zwingend räumlich, sondern zeitlich und innerlich statt. Denn kein Mensch kann in der gleichen Welt aufwachsen, in der seine Eltern schon gelebt haben.

Eine ständige Neuausrichtung

Ganz unabhängig von einer sich verändernden Umwelt und den neuen Technologien altern und sterben Menschen. Eine Gemeinschaft an einem Ort ist dazu gezwungen, sich mit jeder Generation neu auszurichten und die Bedingungen für das Zusammenleben und ihren Fortbestand zu arrangieren. Die vererbten Strukturen, Bräuche und Verbindungen sind dafür hilfreich. Doch ohne sie zu pflegen und zu erneuern, werden Bekanntschaften, Vertrauensverhältnisse und Geschäftsbeziehungen innerhalb weniger Jahre nach dem Abtreten einer Generation vergehen. Auch das Hinterfragen und Vergewissern, warum wir diesem Erbe nachspüren und es erhalten wollen, ist wichtig. Tun wir dies nicht, verkommen Traditionen zu leeren Nachstellungen.

Manch einer möchte sich ein ganzes Leben lang nicht aus dem Heimatort wegbewegen. Dennoch reist er immer weiter durch die Zeit und ist zu einer inneren Reise gezwungen. Während dieser muss er sich als Persönlichkeit entwickeln und seinen Weg in der sich ständig verändernden Welt finden. Denn der Schutz der Elterngeneration verschwindet irgendwann. Also muss er sich seinen eigenen Namen verdienen, seine eigenen Beziehungen aufbauen und der nachfolgenden Generation einen Weg in die Zukunft ermöglichen. Schafft er dies nicht, drohen ihm Einsamkeit, Armut und Ruin. Genauso wie jemandem, der sich keine festen Strukturen an einem neuen Ort formen kann.

Mitunter kann es schwieriger sein, die Heimat mit ihrer Geschichte zu erhalten, als sich als unbeschriebenes Blatt an einem neuen Ort zu versuchen. Das heimatliche Umfeld kann Erwartungen an einen Menschen richten, die seine Eltern erfüllen konnten. Wenn diese Person aber einen anderen Charakter oder andere Talente hat, muss sie auch willens sein, diese Erwartungen zu enttäuschen und sich gegen das Umfeld zu behaupten. Auch können die Möglichkeiten in der Partnersuche oder nach einem geeigneten Beruf begrenzt sein.

Den kommenden Generationen eine Heimat bieten

Daheimgebliebene sowie Rückkehrer haben aber die Chance, ihre Heimat zu erneuern – besonders im ländlichen Raum. Geerbte oder leerstehende Häuser mögen aufwändig zu renovieren sein. Wirtschaftlich brachliegenden Ortschaften wieder Leben einzuhauchen, kostet Zeit und Mühe. Viele Menschen verbinden mit ihrer Heimat und ihrer Kindheit Erinnerungen voller Schönheit und Unbeschwertheit, die auf den ersten Blick nicht erzählenswert sind. Oft konnten diese Erinnerungen nur aus den Bedingungen erwachsen, die die Eltern bereitet haben und die – sehr erzählenswerte – Mühen auf sich genommen haben. Wenn wir es als unsere Aufgabe ansehen, unseren Kindern in unserer Heimat das Gleiche zu ermöglichen und nicht nur für materiellen Reichtum zu sorgen: Wer wäre dann nicht geneigt, seine Zeit und Arbeit in seine womöglich brüchig gewordene Heimat zu investieren?

Die Krux liegt darin, im Angesicht aller Rufe und Verlockungen der ewigen Wanderschaft und Ungebundenheit zu widerstehen. Wir brauchen wieder ein größeres Bewusstsein dafür, dass die Welt nicht mit uns beginnt und mit uns endet – und dass auch die nächste Generation Orte braucht, woher sie kommen kann. Aus einer solchen Einstellung erwächst Verantwortung für das Vorher und Nachher. Auch das Hineinwachsen in diese Verantwortung ist eine Reise, deren Ruf wir folgen können.

Manchmal braucht es eine Zeit der Wanderschaft, um neues Wissen und Erfahrungen zu sammeln. Zehrt eine Gemeinschaft nur von ihrem eigenen Wissen, dann droht sie, zu verkrusten. Für die Erfahrungen müssen wir das Haus unserer Eltern verlassen – äußerlich wie innerlich. Aber nicht umsonst wird die Rückkehr der Wanderer in die Heimat gefeiert und belohnt. Der Rückkehr wohnt ein neuer Anfang inne.

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